Prävalenz sexueller Belästigung in Deutschland

Menschen in Gesundheitsberufen sind besonders gefährdet

Heftarchiv Gesellschaft
mg
Eine repräsentative Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt, dass Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen in Deutschland am stärksten gefährdet sind, sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz zu erleben.

Betroffene von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind laut der Befragung von 1.531 Menschen in 29 Prozent aller Fälle im Gesundheits- und Sozialwesen tätig (29 Prozent), es folgen die Bereiche Handel (12 Prozent), verarbeitendes Gewerbe (11 Prozent) und Erziehung (10 Prozent) [Schröttle, M., Meshkova, K., Lehmann, C., 2019]. Branchenübergreifend haben mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in den vergangenen drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz schon einmal erlebt oder beobachtet. Täter waren sowohl Patienten und Patientinnen (53 Prozent), Kollegen und Kolleginnen (43 Prozent) sowie Vorgesetzte oder betrieblich höhergestellte Personen (19 Prozent).

Betroffen sind und waren davon vor allem Frauen, schreibt die Antidiskriminierungsstelle (ADS). Das mache eine zusätzlich unternommene Auswertung von mehr als 700 gerichtlichen Entscheidungen zu sexuellen Übergriffen im Arbeitskontext deutlich, die für den Zeitraum von 1980 bis 2014 zugänglich waren. Mit Ausnahme von 25 Fällen ging es um die sexuelle Belästigung von Frauen. Die Geschlechterverteilung der aktuellen Beratungsanfragen bei der ADS zeichne ein ähnliches Bild. Zuletzt stellten neun von zehn Anfragen Frauen.

Seit 20 Jahren ist die hohe Prävalenz bekannt

Zur Prävalenz in Deutschland erschien im Jahr 2004 die erste repräsentative Studie [Schröttle/Müller, 2004]. Die bundesweite Befragung von mehr als 10.000 Frauen zeigte damals: Fast 60 Prozent hatten mindestens eine Form von sexueller Belästigung seit dem 16. Lebensjahr erlebt. Fast ein Fünftel (19 Prozent) berichtete von Situationen in den vergangenen zwölf Monaten. Dabei gaben insgesamt 24 Prozent aller befragten Frauen an, sexuelle Belästigungen durch Personen auf der Arbeit, während der Ausbildung oder in der Schule erlebt zu haben. Von diesen waren 46 Prozent von Arbeitskollegen ausgeübt worden, 25 Prozent von Vorgesetzten, 8 Prozent von Lehr- und Ausbildungspersonen und 19 Prozent von Kunden, Klienten oder Patienten.

Zehn Jahre später veröffentlichte die Europäische Grundrechteagentur eine Studie [European Union Agency for Fundamental Rights, 2014], für die insgesamt 42.000 Frauen in 28 europäischen Ländern interviewt wurden. Ergebnis: In Deutschland waren rund 60 Prozent der Frauen von sexueller Belästigung und 20 Prozent von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen. „Insofern kann davon ausgegangen werden“, schlussfolgert die ADS, „dass etwa jede fünfte Frau in Deutschland von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz schon einmal betroffen war und das Ausmaß seit 2004 nicht relevant zurückgegangen ist“.

2015 ergab eine repräsentative Befragung von 1.002 Beschäftigten [ADS, 2015], dass 17 Prozent der befragten Frauen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt haben. „Fragt man konkret nach einzelnen Situationen, sind die Zahlen noch höher“, schreibt die ADS. So gaben etwa 22 Prozent der Frauen an, „unangemessene Fragen mit sexuellem Bezug zu ihrem Privatleben oder Aussehen gestellt bekommen zu haben“. 19 Prozent berichteten, am Arbeitsplatz unerwünschte körperliche Annäherungen erlebt zu haben.

Ein unrühmlicher Spitzenplatz für Deutschland

Weitere Untersuchungen erhärten diese Beobachtungen: So zeigte eine repräsentative Telefonbefragung von 1.531 Personen im Auftrag der ADS, die von Juni 2018 bis Mai 2019 durchgeführt wurde [Schröttle, M., Meshkova, K., Lehmann, C., 2019], dass 13 Prozent der befragten Frauen in den vergangenen drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt hatten. Konkret berichteten

  • 62 Prozent von „unangemessenen sexualisierten Kommentare oder Witzen",

  • 44 Prozent von „unerwünschten belästigenden Blicken, Gesten, Nachpfeifen",

  • 28 Prozent von „unangemessenen intimen oder sexualisierten Fragen“,

  • 26 Prozent von „unerwünschten Berührungen, Bedrängen, körperlicher Annäherung“,

  • 22 Prozent von „unangemessenen Einladungen zu privaten Verabredungen“,

  • 14 Prozent von „unerwünschtem Zeigen oder Aufhängen sexualisierter Bilder, Texte, Filme“,

  • 11 Prozent von „unerwünschten Aufforderungen zu sexuellen Handlungen“,

  • 9 Prozent von „unerwünschten belästigenden Nachrichten mit sexualisiertem Inhalt“ und

  • 5 Prozent von „unerwünschtem Entblößen".

„Es geht um Macht oder Konkurrenz“

Sexuelle Belästigung habe in erster Linie nichts mit Kontaktanbahnung oder Sexualität zu tun, stellt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) klar. Im Arbeitskontext stehe sie vielmehr im Zusammenhang mit Machtausübung und Hierarchien. Vor allem zwei Ursachen beziehungsweise Absichten könnten dabei unterschieden werden: „Einerseits werden hierarchische Arbeitsbeziehungen ausgenutzt, um sexuell zu belästigen und die eigene Macht zu demonstrieren. Bereits bestehende Ungleichheiten werden dadurch gefestigt.“ Andererseits sei sexuelle Belästigung aber oft auch ein Mittel, mit dem „Konkurrenz ausgeschaltet“ oder die Autorität einer Person untergraben werden soll.

Da sich viele Betroffene nicht beschweren – aus Angst, die Situation falsch einzuschätzen oder durch eine Beschwerde Nachteile zu erfahren –, verweist die ADS immer wieder auf die Rechte nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Alle Beschäftigten haben demnach das Recht, im Betrieb bei der zuständigen Stelle Beschwerde einzulegen. Daraus dürften ihnen keine Nachteile entstehen. „Außerdem haben Beschäftigte den Anspruch auf vorbeugende und unterbindende Schutzmaßnahmen durch Arbeitgeber.“ Ergreift dieser keine wirksamen Maßnahmen, könnten Arbeitnehmer die Leistung verweigern und der Arbeit fernbleiben und weiterhin das volle Gehalt verlangen. In jedem Fall sollten Arbeitgeber vor der Leistungsverweigerung schriftlich und unter Angabe der Gründe informiert werden.

Immerhin: Auf politischer Ebene tut sich langsam was. Mit seiner Entschließung „zu sexueller Belästigung in der EU und Bewertung von MeToo“ vom 1. Juni 2023 hat das Europäische Parlament die EU-Kommission beauftragt, ein standardisiertes Aktionsprotokoll zur Unterstützung aller Opfer sexueller Belästigung bereitzustellen. Weiter fordert es die Mitgliedstaaten auf, „für wirksame Meldemechanismen und -verfahren in Fällen von Belästigung in der Arbeitswelt zu sorgen und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Schutz von Beschwerdeführern, Opfern, Zeugen und Hinweisgebern sicherzustellen".

Das will auch das vor Kurzem gegründete Bündnis „Gemeinsam gegen Sexismus“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin erreichen. Dessen erklärtes Ziel ist es, sexuelle Belästigung zu erkennen, hinzusehen und wirksame Gegenmaßnahmen zu verankern. In einer Handreichung (herunterladbar unter https://www.gemeinsam-gegen-sexismus.de/materialien/) beschreibt das Bündnis 30 Maßnahmen gegen Sexismus am Arbeitsplatz. Und auch die ADS hat im Sommer 2023 einen Leitfaden für Arbeitgeber und Beschäftigte erstellt, der unter https://bit.ly/Leitf_Antidiskriminierung heruntergeladen werden kann.


2018 bestätigte eine Untersuchung [dbb, 2018] die Werte für Deutschland: 26 Prozent der Frauen und 6 Prozent der Männer waren betroffen. Im selben Jahr zeigte eine repräsentative Umfrage der Foundation for European Progressive Studies [Clavaud, A., Finchelstein, G., Kraus, F., 2018], dass Deutschland in puncto sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in der Europäischen Union trauriger Spitzenreiter ist. Befragt wurden mehr als 5.000 Frauen in Spanien, Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland. Hierzulande berichteten 68 Prozent der befragten Frauen, im Verlauf ihres Erwerbslebens sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt zu haben – der höchste Wert, vor Spanien (66 Prozent), Großbritannien (57 Prozent), Italien (56 Prozent) und Frankreich (55 Prozent).

Literaturliste

  • Antidiskriminierungsstelle des Bundes / Sozialwissenschaftliches Umfragezentrum GmbH Duisburg (2015): Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – Vorkommen, Wissensstand und Umgangsstrategien. Berlin. bit.ly/zm_ADS_2015

  • Clavaud, A., Finchelstein, G. , Kraus, F (2018): Les femmes face aux violences sexuelles et au harcèlement dans la rue. bit.ly/zm_Clavaud_2018

  • dbb Beamtenbund und Tarifunion (2018): Bürgerbefragung „Öffentlicher Dienst“ Einschätzungen,Erfahrungen und Erwartungen der Bürger. 2018. bit.ly/zm_dbb_2018

  • European Union Agency for Fundamental Rights, „Gewalt gegen Frauen – Eine EU-weite Erhebung – Ergebnisse auf einen Blick“, Publications Office, 2014, data.europa.eu/doi/10.2811/60272

  • Schröttle, M. / Müller, U. (2004): „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. Berlin. bit.ly/zm_ADS_2005

  • Schröttle, M., Meshkova, K., Lehmann, C (2019): Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention. Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin. bit.ly/zm_Schroettle_2019

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