Mundgesundheit im europäischen Vergleich

Die schwierige Suche nach den Klassenbesten

Heftarchiv Zahnmedizin
David Klingenberger
Wo in Europa ist die Mundgesundheit eigentlich am besten? Bei dieser vermeintlich einfachen Frage stoßen Forscherinnen und Forscher an ihre Grenzen: Denn trotz aller Regelungen und Abkommen in der EU gibt es dazu in den Ländern kaum vergleichbare Daten. Warum das so ist und wie man trotzdem eine Antwort findet.

Die Erwartungen der Gesundheitspolitik an datengestützte Forschung sind hoch, und das zunehmend auch auf transnationaler Ebene. Das zeigt nicht zuletzt das aktuelle Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union zum „Europäischen Gesundheitsdatenraum“ (European Health Data Space, EHDS).

Erinnern wir uns: Die EU hatte sich im sogenannten Lissabon-Vertrag („Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“) darauf verständigt, „die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten zu ergänzen, wobei sie auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Krankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der menschlichen Gesundheit auszurichten ist. Sie soll deshalb die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung schwerer Krankheiten […] anregen. […] Die Kommission kann in enger Kooperation mit den Mitgliedstaaten Initiativen ergreifen, die der Koordinierung entsprechender Politiken und Programme der Mitgliedstaaten förderlich sind“ [Tiemann, 2005].

Konkret hat die EU die Kompetenz zur Festlegung von Leitlinien mit einem genauen Zeitplan für die Verwirklichung der kurz-, mittel- und langfristigen Ziele; insbesondere kann sie quantitative und qualitative Indikatoren und Benchmarks definieren, um „bewährte Praktiken“ der einzelnen Mitgliedsstaaten zu identifizieren. Die Orientierung am Klassenbesten („Best Practice-Modell“) soll durch einen transparenten und öffentlichen Vergleich zu einer Konvergenz der Gesundheitspolitiken beitragen.

Das Leitbild der „offenen Methode der Koordinierung“ ist keineswegs neu, sondern war bereits in den 1990er-Jahren von der EU formuliert worden. Allen Beteiligten war seither klar, dass dieses Best-Practice-Modell ohne solide Datengrundlagen nicht realisierbar ist. Lange blieb es jedoch bei Lippenbekenntnissen. Jetzt, drei Jahrzehnte später, soll der Europäische Gesundheitsdatenraum kommen und frühere Versäumnisse vergessen lassen.

Wo kommen die Daten her?

Wie es um die Vergleichbarkeit von Gesundheitsindikatoren der EU-Mitgliedsstaaten aktuell bestellt ist, verdeutlicht eine empirische Studie, die das Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) in Forschungskooperation mit Expertinnen der Technischen Universität Berlin für den Bereich der zahnmedizinischen Versorgung durchgeführt hat. Der detaillierte Ländervergleich wurde kürzlich in dem wissenschaftlichen Journal „Health Policy“ publiziert [Henschke et al., 2023], ausführliche Ergebnisse wurden zudem in deutscher Sprache im Onlinejournal des IDZ veröffentlicht [Klingenberger et al., 2021].

Im Rahmen der Analyse wurde eingangs die Verfügbarkeit von oralepidemiologischen Daten auf europäischer Ebene untersucht. Dazu wurden die verfügbaren nationalen Mundgesundheits-Surveys recherchiert. Der Großteil der oralepidemiologischen Daten, insbesondere solche zur Dentalkaries, sind in der Datenbank der Weltgesundheitsorganisation, „WHO Oral Health – Country/Area Profile Programme" (kurz CAPP), gelistet [https://capp.mau.se/country-areas/]. Auf einem separaten Server an der Universität Niigata in Japan werden zusätzlich Daten zu Erkrankungen des Parodonts gesammelt [https://www5.dent.niigata-u.ac.jp/~prevent/perio/perio.html]. Ziel von CAPP war und ist die Bereitstellung von Informationen aus den WHO-Mitgliedsstaaten zu Erkrankungen des Mundraums sowie zu nationalen Ressourcen bei der Versorgung von solchen Erkrankungen.

Der Großteil der aufgelisteten Surveys folgt den methodischen Empfehlungen der WHO (World Health Organization), womit eine Grundbedingung für die internationale Vergleichbarkeit der Ergebnisse erfüllt wird. Es werden generell aber auch Studien aufgenommen, die methodisch nicht auf WHO-Vorgaben basieren.

Anspruch und Wirklichkeit

Die Sichtung der verfügbaren Daten war ernüchternd, wie aus Abbildung 1 ersichtlich ist. Der beabsichtigte umfangreiche Vergleich aller EU- und EFTA-Staaten (32 Länder) war aufgrund der immensen Datenlücken nicht möglich. Zu diesem Befund kam übrigens zeitgleich auch eine Studie des „European Observatory on Health Systems and Policies“ [Winkelmann et al., 2022].

Letztlich blieben bei der IDZ-Studie lediglich fünf EU-Mitgliedsstaaten übrig, die eine zufriedenstellende halbwegs aktuelle oralepidemiologische Datenbasis vorhalten.

Belgien hat zuletzt zwischen 2012 und 2014 einen landesweiten Survey („Oral Health Data Registration and Evaluation System, OHDRES) durchgeführt. In Dänemark ist die Datenlage für die Kinder und Jugendlichen vorbildlich: Die Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 5 und 17 Jahren wird über ein zentrales Register (Sundhedsstyrelsens Centrale Odontologiske Register, SCOR) erfasst und jährlich aktualisiert. Die Daten von SCOR können für epidemiologische Zwecke verwendet werden, da es sich um ein landesweites Register handelt, das den aktuellen Zahnstatus unabhängig vom Gesundheitszustand verzeichnet.

Die Datenlage bei der Erwachsenen und Senioren ist allerdings nicht sonderlich aktuell, die letzte diesbezügliche Studie der Danish Health Examination Survey (DANHES) wurde 2007/2008 durchgeführt. Der Mundgesundheitszustand der niederländischen Wohnbevölkerung wird in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen untersucht. Dabei wird der Fokus abwechselnd auf die Mundgesundheit einzelner Altersgruppen gelegt. Die letzte Untersuchung zur Mundgesundheit der erwachsenen Bevölkerung stammt aus dem Jahr 2013, die der Kinder- und Jugendlichen aus dem Jahr 2017.

Die gewünschte Regelmäßigkeit bei der Erhebung der Mundgesundheit der Bevölkerung ist lediglich in Deutschland und in Spanien erkennbar. In Deutschland wurden seit 1989 insgesamt sechs bevölkerungsrepräsentative Erhebungen durchgeführt (1989, 1992, 1997, 2005, 2013/2014, 2021/2023), deren jüngste derzeit ausgewertet wird. Der Mundgesundheitszustand der spanischen Wohnbevölkerung wurde erstmals 1993 in einer bevölkerungsrepräsentativen Studie untersucht, seit dem Jahr 2000 werden die Studien in einem Turnus von fünf Jahren wiederholt, letztmals im Jahr 2020.

Die Ergebnisse im Einzelnen:

  • Die Bewertung der Mundgesundheit erfolgte anhand des T-Index, der die unterschiedlichen Gesundheitszustände jedes einzelnen Zahnes mit unterschiedlichen Multiplikatoren bewertet und dann aufaddiert. Die Länder wurden in Form von Balkendiagrammen verglichen und ein Durchschnitt über alle fünf Länder wurde gebildet. Daran kann man Abweichungen nach oben (gut) beziehungsweise nach unten (schlecht) erkennen. Deutschland steht bei den älteren Kindern sehr gut da, auch bei den Senioren sind die Ergebnisse gut (Abbildung 2).

  • Bei der Parodontitis kommt Deutschland hingegen vergleichsweise schlecht weg. Mit einer intensiven „Paro-Kampagne“ versuchen die zahnärztlichen Körperschaften daher seit geraumer Zeit, die Wahrnehmung (Awareness) dieser „stillen Erkrankung“ (silent disease) in der Öffentlichkeit zu erhöhen.

  • Als dritten Outcome wurde die Versorgung mit Zahnersatz betrachtet, konkret die Verteilung zwischen festsitzendem und herausnehmbarem Zahnersatz. Der festsitzende Zahnersatz gilt als der höherwertige, aber eben auch kostenaufwendigere. Hier zeigt sich, dass in Deutschland ebenso wie in Dänemark deutlich häufiger festsitzender Zahnersatz eingegliedert wird als etwa in Spanien.

  • Die Leistungsabdeckung ist in Deutschland im Vergleich am besten, die Zuzahlungen am geringsten. Insofern weist Deutschland auch eine vergleichsweise gute soziale Balance auf mit einem sehr geringen Anteil an ungedecktem Bedarf (unmet need).

Fazit

Das deutsche zahnmedizinische Versorgungssystem kann alles in allem eine vergleichsweise gute Performance vorweisen, noch bestehende Versorgungsprobleme sind bekannt, gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung werden in einem Zielkatalog („Mundgesundheitsziele“) benannt [Ziller et al., 2021] und evaluiert.

In der Mehrzahl der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind hingegen kaum Daten vorhanden oder sie werden nicht öffentlich gemacht. Bei der Suche nach den Klassenbesten tritt also, um im Bild zu bleiben, die Hälfte der Klasse erst gar nicht zum Test an, einige wenige drücken offensichtlich schlecht vorbereitet die Bank.

Die Schaffung eines einheitlichen Europäischen Gesundheitsdatenraums wird unter diesen Voraussetzungen wohl noch lange Zeit benötigen – wenn das Ziel nicht sogar utopisch bleibt. In Deutschland sollen aktuell strengere Rechtsverordnungen, etwa zur Krankheitskostenrechnung und Gesundheitspersonalrechnung, mittelfristig die Datenbasis noch weiter verbessern. Der Vorsprung gegenüber den (untätigen) Nachzüglern in der Klasse könnte auf diese Weise weiter zunehmen. EU-weite Vergleiche bei der Suche nach „bewährten Praktiken“ werden dadurch auch in Zukunft nicht einfacher.

Literaturliste

  • Henschke, Cornelia; Winkelmann, Juliane; Eriksen, Astrid; Orejas Pérez, Eugenia; Klingenberger, David (2023): Oral health status and coverage of oral health care: A five-country comparison. In: Health Policy 137, S. 104913. DOI: 10.1016/j.healthpol.2023.104913.

  • Klingenberger, David; Winkelmann, Juliane; Henschke, Cornelia (2021): Best Oral Health Practice in  Europe? Eine Analyse zur Frage der Vergleichbarkeit der Effizienz  zahnmedizinischer Versorgungssysteme. In: Zahnmedizin, Forschung und Versorgung (Zahnmed Forsch Versorg) 10 (2), S. 1–76. DOI: 10.23786/2021-4-2.

  • Tiemann, B. (2005): Die Gesundheits- und Sozialpolitik der Europäischen Union. Gemeinschaftsrechtliche und europapolitische Perspektiven für das deutsche Gesundheits- und  Sozialwesen. Köln: Deutscher Zahnärzte Verlag DÄV (IDZ-Materialienreihe, Bd. 30).

  • Winkelmann, Juliane; Gómez  Rossi, Jesús; van Ginneken, Ewout (2022): Oral health care in Europe:  Financing, access and provision. In: Health  Systems in Transition 24 (2), S. 1–169. Online verfügbar unter eurohealthobservatory.who.int/publications/i/oral-health-care-in-europe-financing-access-and-provision.

  • Ziller, Sebastian; Jordan, A. Rainer; Oesterreich, Dietmar (2021): Mundgesundheitsziele für Deutschland  2030: Karies und Parodontitis weiter reduzieren sowie Prävention verbessern. In: Bundesgesundheitsbl 64 (7),  S. 821–829. DOI: 10.1007/s00103-021-03359-0.

Dr. David Klingenberger

Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ)
D.Klingenberger@idz.institute

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