Trauma-Reaktivierung auf dem Zahnarztstuhl

Wenn der Patient die Kontrolle verliert

Bernhard Mäulen
,
Alex Wiessner
Massive psychosomatische Reaktionen von Patientinnen und Patienten während einer zahnärztlichen Behandlung sind keine Seltenheit. Entschieden weniger oft kommen intensive Trauma-Reaktivierungen vor, die für die Betroffenen und das Behandlungsteam eine Herausforderung darstellen können. Welche körperlichen und emotional-inneren Reaktionen dabei ablaufen und wie Zahnärztinnen, Zahnärzte und ihre Teams mit betroffenen Patienten umgehen, erfahren Sie hier.

Als Zahnärztin oder Zahnarzt hat man fast täglich Kontakt zu ängstlichen Patienten. Weltweit leiden etwa 15 Prozent der Menschen unter einer ausgeprägten Zahnarztangst, drei Prozent sogar unter einer sehr starken Phobie [Silveira et al., 2021]. Die Ursachen sind vielfältig, wobei vergangene, negative Erfahrungen und Erlebnisse eine erhebliche Rolle spielen. Studien zeigen, dass ein empfundenes Gefühl des Kontrollverlusts ein signifikanter Prädikator für Zahnarztangst ist [Scandurra et al., 2021].

Eine erhöhte Schmerzempfindung beziehungsweise schwierige Schmerzausschaltung tritt häufig bei putriden Entzündungen auf. In entzündlich verändertem Gewebe kommt es zu einer pH-Wert Absenkung, wodurch die Wirkung der Lokalanästhetika nachweislich reduziert wird. Ein entzündungsbedingtes Ödem führt zu verlängerten Diffusionswegen und zu lokaler Hypoxie. Der Sauerstoffunterversorgung bewirkt eine gesteigerte anaerobe Glykolyse und damit die vermehrte Bildung von Laktat. Diese Laktatazidose mit erniedrigtem pH-Wert führt wiederum zu einem erniedrigten Anteil der lipophilen Form des Lokalanästhetikums im Gewebe. So wird die Penetrationsfähigkeit des Lokalanästhetikums in die Nervenzellen und damit auch dessen Wirksamkeit vermindert.

„Ich fühlte Scham wegen des kompletten Kontrollverlusts“

„Nach einigen Tagen und schlaflosen Nächten mit schlimmen Zahnschmerzen ging ich schließlich zum Zahnarzt meines Vertrauens. Im Bereich der Oberkieferschneidezähne musste ein Abszess, der sich immer weiter ausgebreitet hatte, eröffnet werden. Erwartet hatte ich nach der analgesierenden Spritze eine weitgehend schmerzarme Behandlung – doch das Gegenteil war der Fall.

Bereits die Injektion war unerwartet schmerzintensiv, die Schmerzstillung als solche verebbte nach wenigen Minuten. Die Behandlung musste trotzdem bis zur Abszessdrainage fortgesetzt werden. Die Dauer und die Intensität dieses Schmerzerlebnisses überwältigten mich komplett. Mir kamen spontan die Tränen, es folgte ein nicht zu unterdrückendes, tiefes Schluchzen, begleitet von einem heftigen Muskelzittern. Emotional fühlte ich eine Scham wegen des kompletten Kontrollverlusts. Mental war ich verwirrt, unfähig zu begreifen, was sich da – scheinbar autonom gesteuert – in mir ereignet hatte; für eine Viertelstunde fand ich keine Worte, um dem zahnärztlichen Team verständlich zu machen, was mit mir passierte. Spontan tauchte eine Erinnerung an die erste massive Verletzung eines oberen Schneidezahns im sechsten Lebensjahr auf. Damals war ich auf einer Granittreppe gestürzt und der Zahn frakturiert.

Nach und nach ordnete sich mein Denken, ich begriff, dass der starke Schmerz die jahrzehntelang verschüttete Erinnerung getriggert hatte – und der damalige Schock und die damit verbundene kindliche Hilflosigkeit mich jetzt mit überwältigender Wucht trafen. Nach ungefähr einer halben Stunde gelang es mir immerhin (weiter schluchzend), dem zahnärztlichen Team kurz zu erklären, was da in mir ablief und dass es noch eine Weile so weitergehen könne, bis sich mein Inneres beruhigt. Sehr hilfreich war, dass über die ganze Erfahrung von rund 45 Minuten entweder der Zahnarzt selbst oder eine seiner Mitarbeiterinnen bei mir blieben, dass ich ein Glas Wasser bekam und niemand mit Fragen oder gar Anweisungen 'mich zusammenzunehmen' den eigengesetzlich ablaufenden Vorgang unterbrach. Schlussendlich konnte ich, wenn auch in noch immer extrem vulnerabler Verfassung, nach Hause gehen, wo meine Frau mich weiter emotional auffing.“

Der Patient, der hier seine Erfahrung schildert, ist selbst Zahnarzt.

Trauma lässt sich aus dem Griechischen ableiten und bedeutet Wunde. Eine Traumatisierung bezeichnet eine seelische Verletzung oder eine starke psychische Erschütterung. Die Reaktivierung eines Traumas bewirkt ein Wiederaufleben des ursprünglichen traumatischen Ereignisses, ausgelöst durch bestimmte Reize (Schmerzen, Gerüche, sonstige situative Sensationen) – wobei in einer zahnärztlichen Praxis das Schmerzerlebnis meist die entscheidende Rolle spielt.

Traumatische Erlebnisse bedrohen die physische und/oder psychische Integrität des Menschen derart, dass sie in besonderer Weise verdrängt und abgespeichert werden. Dies ermöglicht uns bedrohliche Erlebnisse zu bewältigen, einen inneren Zusammenbruch zu vermeiden und weiter handlungsfähig zu bleiben, zum Beispiel bei einem Autounfall oder einem Überfall. Doch dieses Überlebensmuster hat bei einem Viertel der Betroffenen den Preis dauerhafter innerer Anspannung, wiederkehrender unerwünschter Rückerinnerungen (flashbacks), gesteigerter Ängste und massiver vegetativer Reaktionen, unter anderem mit Schwitzen, Blutdrucksteigerung, Schlafstörung, unwillkürlichem Muskelzittern.

Halten solche Symptome längere Zeit an, kann es zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen. Kernsymptom vieler Betroffener ist eine Dissoziation, bei der Patienten sich wie neben sich stehend erleben, gering oder gar nicht auf Ansprache reagieren, kaum äußere Sinnesreize (Geräusche, Töne, Gerüche) registrieren, in ihrer Motorik verlangsamt oder wie „eingefroren“ wirken.

„Trauma is a fact of life. It does not, however, have to be a life sentence.“

aus: „Waking the Tiger“ von Peter Levine

Wie entsteht die Trauma-­Reaktivierung?

Wie entsteht nun aber die Trauma-Reaktivierung in der zahnärztlichen Praxis? Kurz gesagt: indem ein oder mehrere  Reize bei der zahnärztlichen Behandlung die abgespeicherten Trauma-Erinnerungen anstoßen. In der Folge kommt es zu massiven, nicht unterdrückbaren Körpersignalen und oft zu starken, mitunter überwältigenden Emotionen. Mögliche Auslöser beziehungsweise Trigger in der zahnärztlichen Behandlung sind dabei:

  • das „Eingeklemmt sein“ auf dem Zahnarztstuhl

  • eine Positionierung in Rückenlage mit möglichem Erlebnis des Ausgeliefertseins

  • das Eindringen des Zahnarztes in den unmittelbaren leiblichen Nahraum

  • Berührung, Manipulation, Schmerzauslösung im Gesicht und in der Mundhöhle

  • Wiederholung eines zahnbedingten erheblichen Schmerzreizes


Auslöser können demnach alle Sinneserfahrungen sein, die einer Patientin oder einem Patienten signalisieren, dass eine ähnliche Gefahr „wie damals“ droht. Bei einer Trauma-Reaktivierung reagieren Körper und Seele so, als ob die lang zurückliegende bedrohliche Situation erneut im Hier und Jetzt abläuft. Es kommt zu einer massiven Reaktion im Gehirn, genauer in den Mandelkernen (Amygdala), wo Angst, Bedrohungsgefühle, Kampf versus Fluchtverhaltensweisen und vieles mehr in kürzester Zeit ausgelöst werden und vom Bewusstsein der Großhirnrinde schwer oder gar nicht einzugrenzen sind.

Das Broca-Sprachzentrum wird vermindert durchblutet, so dass Betroffene vorübergehend sprachlos sind und eine sprachliche Verarbeitung nicht zeitnah erfolgen kann [Van der Kolk, 2023]. Das (unwillkürliche) Muskelzittern ist eine Reaktion, die vielen Säugetieren nach einer Gefahrensituation hilft, mit dem Schockerlebnis fertig zu werden und es körperbezogen zu integrieren. Aus dieser Beobachtung heraus hat Dr. Peter Levine eine eigene Traumatherapie entwickelt, in der bewusst herbeigeführtes Muskelzittern heilend eingesetzt wird [Levine, 1997].

Was können Zahnärzte tun?

In aller Regel ahnen weder der Patient noch der Zahnarzt ob, wann und wie stark die Trauma-Reaktivierung ausgelöst wird. Umso wichtiger ist das Wissen, dass sich solche massiven emotional-physiologischen Erfahrungen plötzlich unter der Behandlung mit voller Wucht manifestieren können. Meist gelingt es Patientinnen und Patienten mit genügend Zeit und ruhiger Unterstützung das Erlebnis ablaufen zu lassen. Sie können dann gegebenenfalls verstehen, was passiert und nach und nach zu ihrer erwachsenen Stabilität und Handlungsfähigkeit zurückfinden.

Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten sich bewusst sein, dass traumatische Erfahrungen tiefgreifende Auswirkungen auf das Verhalten und die Emotionen eines Patienten haben können. Es ist wichtig, empathisch zu sein und den Patienten ernst zu nehmen. Eine klare und offene Kommunikation ist entscheidend. Der Zahnarzt sollte den Patienten vor und gegebenenfalls während der Behandlung über alle Schritte informieren und sicherstellen, dass er die Möglichkeit hat Fragen zu stellen. Dies kann helfen Ängste abzubauen und ein Gefühl der Kontrolle zu vermitteln.

Die Zahnarztpraxis sollte eine einladende und beruhigende Umgebung bieten. Dies kann durch eine angenehme Raumgestaltung, freundliches Personal und eine ruhige Atmosphäre erreicht werden. Kleine Details wie das Angebot von Wasser oder Zeitschriften können ebenfalls dazu beitragen, allgemein den Stress der Patientin oder des Patienten zu reduzieren.

Das sind konkrete Tipps für Zahnärztinnen und Zahnärzte, deren Patient plötzlich eine Trauma-Reaktivierung erlebt:

  • Ruhe behalten! Die meisten Patientinnen und Patienten mit Trauma-Reaktivierung durchlaufen einen längeren Prozess, der nicht unterbrochen werden sollte.

  • Zur Unterstützung und als Sicherheits-Anker sollte eine Person des zahnärztlichen Teams dauerhaft bei der Patientin oder dem Patienten bleiben. (Dabei ist auf eine ausreichende Belastungsfähigkeit des Personals zu achten. Die Begleitung des Trauma-lösenden Prozesses ist ein intensives Erleben, oft verbunden mit beachtlichen Gefühlen der Hilflosigkeit.)

  • Der Patientin oder dem Patienten kann kaltes/warmes Wasser angeboten werden, keine koffeinhaltigen Getränke.

  • Die Frage, ob die zahnärztliche Behandlung in der gleichen Sitzung zu Ende gebracht werden kann, muss offen bleiben. Dies ist grundsätzlich möglich, wenn es der klinische Zustand erlaubt, sollte aber nicht versucht werden, wenn das klinische Bild heftig ist und der Patient dissoziiert.

  • Nach der eigentlichen Behandlung kann eine längere Zeit der „Abkühlung“ und Beobachtung erforderlich sein, zum Beispiel im Wartezimmer.

  • Zum besseren Verständnis darüber, was gerade passiert, kann dem Patienten von der Zahnärztin oder dem Zahnarzt der Mechanismus der Trauma-Reaktivierung vermittelt werden, verbunden mit dem Hinweis, dass es sich um „normale“ Reaktionen auf belastende Ereignisse handelt.

  • Nachhall-Effekte und Dissoziationen können noch Stunden nach der Trauma-Reaktivierung anhalten. Die betroffene Person sollte also nicht Auto fahren und den Rest des Tages durch eine vertraute Person begleitet werden.

  • Falls die Trauma-Reaktivierung zu stärkeren psychischen Beschwerden führt, sollte dem Patienten eine Psychotherapie empfohlen werden, trotz der erheblichen Wartezeiten.

  • Bei Patienten mit vorbekanntem Trauma sollte über den Einsatz von Angst-reduzierenden Verfahren (kognitive Verhaltenstherapie, medizinische Hypnose, Akupunktur) nachgedacht und gegebenenfalls auch der Einsatz von Kurznarkotika erwogen werden (siehe S3-Leitlinie „Zahnbehandlungsangst beim Erwachsenen“) [AWMF, 2019].


Wer sich ausführlicher mit der Behandlung von traumatischen Störungen auseinandersetzen will, dem sei die S3-Leitlinie „posttraumatische Belastungsstörung“ der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) empfohlen, die unter Mitwirkung verschiedener zahnärztlicher Fachgesellschaften angenommen wurde [AWMF, 2019].

Fazit

Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten auf eine Trauma-Reaktivierung im Zahnarztstuhl gefasst sein und sich und das Praxisteam darauf vorbereiten. Zu rechnen ist mit massiven emotionalen Äußerungen (Weinen, lautes Schluchzen), ausgeprägten physiologischen Reaktionen (Blutdruck, Puls, Schwitzen, Muskelzittern), gedanklicher Verwirrung, Desorientiertheit und Sprachlosigkeit. In der Regel klingt die heftige Reaktion nach ein bis drei Stunden ab, auch ohne äußere Einwirkung.

Wichtig ist es, betroffene Patienten ruhig zu begleiten und Ihnen dabei zu vermitteln, dass sie nicht allein sind und die Erfahrung in der Sicherheit der Praxis machen können. Da schon die Begleitung von Menschen mit Trauma-Reaktion ein aufwühlendes Erlebnis sein kann, ist es wichtig, als Zahnärztin oder Zahnarzt auf die eigene Psychohygiene und Gesundheit zu achten [Mäulen, 2005 und 2013].

Literaturliste

  • Silveira ER, Cademartori MG, Schuch HS, Armfield JA, Demarco FF. Estimated prevalence of dental fear in adults: A systematic review and meta-analysis. J Dent. 2021 May;108:103632. doi: 10.1016/j.jdent.2021.103632. Epub 2021 Mar 9. PMID: 33711405.

  • Scandurra C, Gasparro R, Dolce P, Bochicchio V, Muzii B, Sammartino G, Marenzi G, Maldonato NM. The role of cognitive and non-cognitive factors in dental anxiety: A mediation model. Eur J Oral Sci. 2021 Aug;129(4):e12793. doi: 10.1111/eos.12793. Epub 2021 May 4. PMID: 33945646; PMCID: PMC8453836.

  • Van der Kolk, Bessel (2023) Das Trauma in Dir. Ulstein Verlag

  • Levine, Peter (1997): Waking the Tiger. North Atlantic Books

  • Leitfaden der Bundeszahnärztekammer: Psychosomatik in der Zahn- Mund- und Kieferheilkunde, BZK

  • S3-Leitlinie Zahnbehandlungsangst beim Erwachsenen, AWMF

  • S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

  • Mäulen, Bernhard (2013): Krankheit bei Ärzten- Bitte bleiben Sie gesund. Zahnärztliche Mitteilungen 103, 28-32

  • Mäulen, B.(2005): Hilfe für kranke Ärzte – Schwerpunkt Trauma. In Hofmann (Hrsg.) Arbeitsmedizin im Gesundheitsdienst. Band 18, Seiten 222-226, edition FFAS, Freiburg

Dr. med. Bernhard Mäulen

Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Institut für Ärztegesundheit
78050 Villingen-Schwenningen

Dr. med. dent. Alex Wiessner

Zahnarzt am Theater
Vöhrenbacher Str. 6/2,
78050 Villingen-Schwenningen

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