Praxiseinsatz für Menschen ohne Zuhause
Niedrigschwellig, angemessen und in enger Kooperation mit Streetworkern und Obdachlosenhilfen: Beim Dental Street Day in Berlin öffnen Zahnarztpraxen ihre Türen für wohnungslose Menschen. Mischa Ommid Steude, der die Aktion zusammen mit seinem Praxisteam „DIE PRAXIS" vor einem Jahr initiiert hat, und Dr. Steffi Ladewig, die dieses Jahr erstmalig mit ihrer Praxis mitgemacht hat, teilen hier ihre Erfahrungen.
Herr Steude, warum haben Sie den Dental Street Day ins Leben gerufen? Hatten Sie ein Schlüsselerlebnis?
Mischa Ommid Steude: In Berlin begegnet man wohnungslosen Menschen an vielen Orten — das gehört zur Großstadt. Als Zahnärztinnen und Zahnärzte haben wir eine besondere Verantwortung: Wir sind Mediziner, wir müssen empathisch sein und helfen können. Für mich war das der entscheidende Antrieb. Ich kann keine Häuser bauen, aber ich kann Zähne behandeln. Das ist meine Kompetenz — und die wollte ich für die Stadt, die ich liebe, einsetzen.
Zahngesundheit hat großen Einfluss auf das Selbstbewusstsein und die gesellschaftliche Teilhabe. Akute Entzündungen, fehlende Zähne oder Schmerzen verhindern oft eine Rückkehr in ein geregeltes Leben. Mit relativ geringem Einsatz — die Praxis einen Tag schließen, Material- und Organisationskosten — können wir sehr viel bewirken. Für uns ist das kein unzumutbarer Aufwand, aber für die Betroffenen kann es einen echten Unterschied machen. Deshalb haben wir zusammen mit der Stiftung Dojo Cares sowie mit der Unterstützung von Karuna eG und der Berliner Obdachlosenhilfe e.V. diese Aktion gestartet: eine niedrigschwellige, würdige Hilfe, die fachliches Können einbringt und echte Chancen auf Resozialisierung schafft.
Haben Sie im Vorfeld auch darüber nachgedacht, den Dental Street Day an einem öffentlichen Ort zu organisieren? Vielleicht in einem Park mit einer mobilen Behandlungseinheit?
Ja, ursprünglich hatten wir die Idee, mit einer mobilen Einheit in Bahnhöfen oder sogar in der S-Bahn unterwegs zu sein, um Menschen dort zu erreichen, wo sie sind. Allerdings stieß das Vorhaben auf Sicherheits- und Organisationsprobleme, so dass wir uns für die Praxislösung entschieden haben.
Wir wollten auch bewusst einen würdevollen, normalen Rahmen schaffen — keine provisorische Notversorgung in einer Unterkunft, sondern eine Praxisumgebung, in der wir unser komplettes Fachwissen anbieten können, von der Schmerzbehandlung bis zu komplexeren Leistungen. Das schafft Respekt, Normalität und bessere Behandlungsmöglichkeiten. Eine mobile Lösung wäre toll gewesen. Aus organisatorischen Gründen erschien uns die Praxis aber die bessere Wahl, auch um den Patientinnen und Patienten wirklich nachhaltig zu helfen.
Welche Erkenntnisse gibt es von der Premiere im vergangenen Jahr? Wie viele Patienten konnten versorgt werden? Was waren die Herausforderungen?
Wir sind ziemlich unbedarft an die Planung herangegangen und hatten uns auf einen hohen Andrang vorbereitet. Nicht absehen konnten wir, dass viele Betroffene keine festen Termine einhalten können oder wollen. Deshalb kamen nicht „Busladungen“ von Menschen, sondern eher Einzelne, spontane Fälle und einige geplante, vorselektierte Patientinnen und Patienten durch unsere Partnerorganisationen. Insgesamt waren es damals elf Personen am Aktionstag. Diese sowie 13 weitere Patienten haben wir – insbesondere unsere Zahnärztin Jessica Wickert –innerhalb des letzten Jahres weiter versorgt, beispielsweise mit Wurzelkanalfüllungen oder herausnehmbarem Zahnersatz. Heute sind 15 Patientinnen und Patienten fest eingeplant.
Herausforderungen beim ersten Mal waren vor allem No-Shows oder kurzfristige Absagen und zwei alkoholisierte Personen, bei denen wir chirurgisch arbeiten mussten – da haben wir dann aus Sicherheitsgründen nur das Nötigste gemacht. Was wir gelernt haben: Eine realistische Erwartungshaltung, die enge Zusammenarbeit mit Sozialdiensten und schlanke, strukturierte Abläufe sind sinnvoll.
Wie organisieren Sie den Ablauf und die Kapazitäten?
Wir arbeiten hybrid: Es gibt vorab terminierte Patientinnen und Patienten, gleichzeitig sind spontane Walk-ins möglich. Die Organisation übernimmt weitgehend die Karuna (Vorselektion, Transport, Begleitung), wodurch die Terminwahrnehmung deutlich besser wird. Innerhalb der Praxis arbeiten wir mit einem klaren Triage-System (zum Beispiel einer farblichen Markierung bei Traumafällen), differenzierten Anamnesebögen und mehreren Behandlungszimmern, um den Durchlauf zu optimieren.
Welche Leistungen bieten Sie am Aktionstag an?
Wir machen überwiegendakute Schmerzbehandlungen, Extraktionen, Trepanationen, Zahnsteinentfernung und kleine Reinigungen (keine umfassende Prophylaxebehandlung), Füllungen (falls möglich, oft Folgebehandlungen) und häufig bereits Abdrücke für Interimsersatz. Wir konzentrieren uns an diesem Tag also primär auf akute Beschwerden. Vollständige Sanierungen sind selten an einem Tag möglich — die meisten Patientinnen und Patienten benötigen Folgebehandlungen. Wir bieten Folge-Termine an und nutzen unser eigenes zahntechnisches Labor für Versorgungen, um Kosten zu reduzieren und Abläufe zu beschleunigen.
Welche hygienischen und sicherheitsrelevanten Maßnahmen haben Sie im Vorfeld getroffen? Wie gehen Sie mit schwierigen Personen um?
Grundsätzlich gilt: Jeder Patient kann infektiös sein. Deshalb arbeiten wir nach den gleichen strengen Hygienestandards wie bei regulären Patientinnen und Patienten: Mundschutz, Schutzbrille, Einmalhandschuhe, standardisierte Sterilisationsabläufe. Zudem haben wir die Möglichkeit, auf andere Zimmer auszuweichen, ohne den Druck zu haben, den Raum schnell für die nächste Behandlung vorzubereiten. Doppelhandschuhe oder „Extra-Sicherheitsrituale“ haben wir nicht, stattdessen setzen wir auf saubere, ruhige Arbeitsabläufe und eine entspannte Behandlerhaltung, die Berührungsängste im Team abbaut.
Bei akut intoxikierten Patientinnen und Patienten behandeln wir restriktiv und zielgerichtet. Wir konzentrieren uns auf dringende, kurz durchführbare Maßnahmen. Umfangreiche oder elektive Eingriffe werden verschoben.
Entscheidend ist die enge Kooperation mit den begleitenden Streetworkern: die Vorselektion, die Begleitung während der Behandlung, Dolmetscher und ein vorab organisierter Rücktransport reduzieren die Risiken erheblich.
Welche Rolle übernehmen Karuna und die Berliner Obdachlosenhilfe?
Die Organisationen unterstützen uns durch die Vorselektion der Patientinnen und Patienten. Streetworker begleiten die Personen, sind Ansprechpartner für beide Seiten, organisieren den Transport zur Praxis, kümmern sich um die Nachsorge-Koordination und dolmetschen teilweise. Die Partner sind sehr protektiv gegenüber ihren Klientinnen und Klienten, übernehmen Verantwortung für die Sicherheit und die Auswahl — das schafft Vertrauen auf beiden Seiten, schützt aber auch die Praxis und das Personal.
Wie viele Praxen haben noch am Dental Street Day teilgenommen?
Dieses Jahr konnten wir drei weitere Berliner Praxen überzeugen mitzumachen: Dr. Steffi Ladewig (Berlin-Tiergarten), Dental21 (Berlin-Friedrichshain) und die Praxis Michael Kiderlen (Berlin-Tegel). Praktisch zeigt sich nämlich ein logistisches Grundproblem: Die Patientinnen und Patienten, die wir behandeln, kommen überwiegend aus dem unmittelbaren Umfeld. Längere Transportwege funktionieren bei wohnungslosen Personen in der Regel nicht beziehungsweise erhöhen die Hemmschwelle für die Behandlung.
Deshalb ist es unsere Vision, mittelfristig ein Netz von rund 30 Praxen in ganz Berlin zu etablieren, damit überall eine niedrigschwellige, würdevolle Versorgung in Praxisräumen angeboten werden kann. Als wir andere Praxen direkt angesprochen haben, ist die Resonanz aber viel geringer ausgefallen als erhofft.
Welche konkreten Bedenken haben die Kolleginnen und Kollegen denn?
Die häufigsten Bedenken sind Sicherheits- und Organisationsängste. Viele Kolleginnen und Kollegen fürchten, dass verstärkt akut intoxikierte oder suchtkranke Menschen kommen könnten, und wissen nicht, wie sie mit solchen Situationen umgehen sollen. Es gibt auch Sorge um das Personal. Zum Beispiel fühlen sich Ein-Personen-Praxen mit einem rein weiblichen Team verletzlich. Ein weiterer Punkt ist der vermeintliche Mehraufwand: Material, Zeitplanung und potenzielle Störungen des Praxisablaufs. Diese Ängste sind nachvollziehbar, lassen sich aber durch die verlässlichen Partnerorganisationen und klare Strukturen deutlich senken.
Welche dieser Maßnahmen sind Ihrer Meinung nach am effektivsten?
Am wirkungsvollsten ist eine enge Kooperation mit erfahrenen Streetworkern und Hilfsorganisationen: Sie übernehmen Vorselektion, Begleitung und Rücktransport und können im Vorfeld einschätzen, wer geeignet ist. Ergänzend braucht es ein internes Briefing für das Praxisteam mit klaren Abläufen – wer entscheidet, wenn eine Person intoxikiert ist, welche Eingriffe werden in welchem Zustand durchgeführt. Praktisch hilfreich sind definierte Verhaltensregeln, zum Beispiel nur akutmedizinische, kurz durchführbare Eingriffe bei Intoxikation, sowie die Möglichkeit, Patientinnen und Patienten vorab zu triagieren, um die Planung und die Vorbereitung zu erleichtern.
Welche Optionen können Sie anbieten, damit auch kleine Praxen ohne großen Aufwand mitmachen können?
Kleinere Praxen können sehr gut mit überschaubaren, klar begrenzten Optionen starten, zum Beispiel mit einem einstündigen Slot außerhalb der regulären Öffnungszeiten. Alternativ freuen wir uns, wenn wir Geld- oder Materialspenden erhalten. Ebenso ist es möglich, zunächst einmal bei uns vorbeizukommen und den Ablauf nur zu beobachten. Alle diese Formate reduzieren den organisatorischen und den psychologischen Aufwand und geben den Kolleginnen und Kollegen die Sicherheit, sich schrittweise zu engagieren.
Gab es anfänglich Vorbehalte in Ihrem Team und wie wurden diese angesprochen und gelöst?
Ja, anfänglich gab es interne Bedenken, vor allem bei neuen Mitarbeitenden. Unsere Praxismanagerinnen haben dann Team-Briefings durchgeführt, Ängste moderiert, Rollen geklärt und das Team mental vorbereitet. Das Ergebnis war ein deutlich gesteigertes Vertrauen der Mitarbeitenden – und keine Krankenstände am Aktionstag.
„Der Aktionstag hat uns daran erinnert, warum wir Zahnmedizin machen!“
Frau Dr. Ladewig, was hat Sie persönlich motiviert, dieses Jahr zum ersten Mal am Dental Street Day teilzunehmen?
Dr. Steffi Ladewig: Ich habe mich dafür entschieden, weil wir über die Ressourcen, die fachliche Kompetenz und ausreichend Manpower verfügen. Diese Chancen ungenutzt zu lassen – das wäre verschenkte Lebenskraft. In unserem Beruf geht es schließlich auch darum, das, was wir haben, auf selbstlose Weise einzusetzen.
Wie haben Sie sich und Ihr Team auf den Aktionstag vorbereitet und diesen in Ihren Praxisalltag integriert?
Zunächst haben wir das Team sensibilisiert, über die Zielgruppe und den Ablauf gesprochen und den Mitarbeitenden ein sicheres Gefühl vermittelt. Wir haben organisatorisch Freiräume geschaffen und die Patientinnen und Patienten persönlich empfangen, sie in den Wartebereich begleitet und dann ins Behandlungszimmer gebracht. Parallel ging die reguläre Praxisarbeit weiter – wir sind fünf Ärztinnen und Ärzte, die normale Behandlung lief also gleichzeitig.
Wie hat Ihr Praxisteam auf die Teilnahme reagiert und welches Feedback haben Sie nach dem Tag erhalten?
Das Feedback des Teams war durchweg positiv. Vorab hatten wir ausführlich über mögliche Ängste und Unsicherheiten gesprochen, zum Beispiel im Hinblick auf Alkohol- oder Drogen-bedingte Situationen bei den Patientinnen und Patienten. Wir haben den Ablauf, immer zwei Personen zusammen in einem Behandlungszimmer arbeiten lassen, genau geplant und alle Eventualitäten besprochen, um den Mitarbeitenden Sicherheit zu geben.
Am Ende des Tages zeigte sich, dass all diese Sorgen unbegründet waren: Die Patientinnen und Patienten sind ganz normale Menschen mit individuellen Lebensgeschichten und harten Schicksalsschlägen. Für das gesamte Team war es ein besonderer Tag, weil der Dental Street Day allen wieder deutlich gemacht hat, warum wir Zahnmedizin machen: um Menschen konkret zu helfen. Im Alltag erleben wir alle dieses Gefühl doch viel zu selten – und es hat uns alle persönlich und beruflich bereichert.
Können Sie ein Beispiel nennen, bei dem Ihre Behandlung zu einer sichtbaren Verbesserung der Lebenslage oder Teilhabe geführt hat?
Besonders bewegt hat mich eine junge Patientin aus England, Anfang 20, mittel- und obdachlos. Sie hatte keine Zahnschmerzen, aber starke Kiefergelenkbeschwerden. Wir konnten ihr mit einer einfachen Aufbissschiene helfen. Als sie zur Nachkontrolle kam, war sie emotional ergriffen und sagte, es fühle sich so anders an. Solche kleinen Maßnahmen können Großes bewirken.
Wie haben Sie die Atmosphäre des Tages empfunden? Gab es besondere Momente, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind?
Der Tag verlief sehr strukturiert und war von Wohlwollen und Dankbarkeit geprägt. Ein Beispiel: Eine junge Mitarbeiterin war sich zunächst unsicher, ob sie die Patientinnen und Patienten allein zum Röntgen begleiten will. Am Aktionstag meisterte sie diese Aufgabe problemlos und konnte ihre Ängste und Befürchtungen völlig vergessen. Solche kleinen Erlebnisse bleiben lange im Gedächtnis und verdeutlichen, wie bereichernd der Tag für alle Beteiligten war.
Sind Situationen aufgetreten, die Sie so nicht erwartet haben, besondere Herausforderungen oder Überraschungen?
Überraschungen gab es kaum, weil die Organisationen alles gut vorbereitet hatten – mit Listen der Patientinnen und Patienten, den Beschwerden und nötigen Informationen. Fragen zu Sprachbarrieren und zur Barrierefreiheit wurden im Vorfeld geklärt, das vermittelte Sicherheit und erleichterte den Ablauf.
Können Sie schon sagen, ob die Teilnahme Ihre Sicht auf die Versorgung wohnungsloser Menschen oder auf Ihre Rolle als Zahnärztin verändert hat?
Ja, der Aktionstag hat uns einen Perspektivwechsel ermöglicht und das Team daran erinnert, warum wir diesen Beruf gewählt haben. Wir arbeiten gerade daran, das Projekt mit anderen Praxen auszuweiten, um wohnungslosen Menschen regelmäßig und flächendeckend eine zugängliche Versorgung im Praxisverbund anzubieten. Das zeigt: Schon kleine zeitliche Ressourcen, etwa zwei Stunden parallel zum laufenden Praxisbetrieb, können viel bewirken – für die Patientinnen und Patienten und für uns als Team.
Das Gespräch führte Dr. Nikola Lippe.
Hat die Aktion unerwartete positive Effekte gezeigt?
Tatsächlich hat die Aktion neue Mitarbeitende angezogen: Leute, die uns geschrieben haben, dass sie unsere Arbeit toll finden und gern in einer Praxis arbeiten würden, die solche Projekte macht. Das hat uns personell eindeutig etwas gebracht. Für mich hat das auch eine moralisch-ethische Dimension: Wenn andere sagen „Ihr macht coole Sachen“, wirkt das nach außen — Menschen schauen sich die Praxis an und bewerben sich gezielt bei uns.
Vor allem merke ich jedoch die Wirkung im Team: Wenn es nicht nur um Umsatz geht, verändert das die Stimmung. Es stärkt das Vertrauen der Mitarbeitenden in mich als Praxisinhaber, sie sehen, dass mir mehr wichtig ist als reine Profitmaximierung. Das verschafft Respekt und Achtung im Team.
Darüber hinaus wirkt der Dental Street Day als Teambuilding-Maßnahme: Er schweißt zusammen und verbessert auch die Wahrnehmung bei Kolleginnen und Kollegen aus anderen Praxen. Insgesamt entsteht das Gefühl, dass uns viele mögen — und das ist ein wertvoller Nebeneffekt der Aktion.
Das Gespräch führte Dr. Nikola Lippe.






