Aufruhr im Nationalen Gesundheitsdienst NHS

Ärztestreiks verschärfen Gesundheitskrise in Großbritannien

mg
Gesellschaft
In britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) sorgen Streiks in dem ohnehin desolaten System Englands für hunderttausende abgesagte Untersuchungs- und OP-Termine. Assistenzärzte fordern 35 Prozent mehr Lohn und auch das Fachpersonal will eine angemessene Vergütung.

Insgesamt 27.361 Mitarbeiter waren auf dem Höhepunkt der Streiks Mitte April nicht bei der Arbeit, bilanziert der Guardian, auch wenn die tatsächliche Zahl noch einmal höher sein könnte, da einige Personaldaten unvollständig waren. NHS-Direktor Prof. Sir Stephen Powis sprach gegenüber der Zeitung von „kolossalen Auswirkungen der Arbeitskampfmaßnahmen auf die geplante Versorgung im NHS“. In den vergangenen fünf Monaten seien streikbedingt fast eine halbe Million Termine verschoben worden.

Streikbedingt wurde fast eine halbe Million Termine verschoben

Vertreter des Junior Doctors Committee der British Medical Association entschuldigten sich für die Störungen, stellten jedoch klar, dass die betroffenen Patienten nicht aufgrund von Streiks Versorgungseinschränkungen ertragen müssten – ursächlich sei vielmehr die anhaltende finanzielle Unterausstattung des Gesundheitswesens und die mangelnde Wertschätzung des Personals im NHS. Schon lange seien die überforderten Arbeitskräfte nicht mehr in der Lage, eine „qualitativ hochwertige und zeitnahe Versorgung zu gewährleisten, die Patienten benötigen und verdienen". Nach Angaben der Gesundheitsstiftung Health Foundation gab es im Dezember 2022 umgerechnet auf Vollzeit im NHS rund 124.000 unbesetzte Stellen.

Sehen Krankenschwestern im NHS eine Zukunft?

Laut der britischen Stiftung Health Foundation entfallen mehr als ein Drittel der unbesetzten Vollzeitstellen im NHS auf Krankenschwestern. Mehr als drei Viertel (78 Prozent) der in Großbritannien beschäftigten Krankenschwestern sind im NHS tätig. Auswertungen zeigen, dass 38 Prozent derjenigen, die den NHS verlassen, ihrem Job treu bleiben, aber zu privaten Dienstleistern wechseln. Weitere 38 Prozent bleiben im erweiterten Gesundheitsbereich tätig – und nur 24 Prozent wechseln in fachfremde Branchen.

Nach wochenlangen Streiks gibt es inzwischen einen Tarifabschluss für mehr als eine Million NHS-Mitarbeiter in England, berichtet die BBC. Sie sollen eine Gehaltserhöhung von 5 Prozent sowie eine Einmalzahlung von mindestens 1.655 Britischen Pfund erhalten, heißt es. Der Deal gilt für Krankenschwestern und -Pfleger, KrankenwagenfahrerInnen, Physiotherapeuten und Träger. Der Tarifvertrag wurde bei einem Treffen zwischen der Regierung und 14 Gesundheitsgewerkschaften unterzeichnet, die alle NHS-Mitarbeiter außer Ärzte und Zahnärzte vertreten. Das Royal College of Nursing (RCN), eine Gewerkschaft für Gesundheitsfach­kräfte hat das Angebot der Regierung abgelehnt und angekündigt, die Streiks fortzusetzen.

Seit Jahren verfolgt die Regierung einen harten Sparkurs, dann kam 2019 der Brexit mit den bekannten Folgen für die ehemals sehr international besetzten Gesundheitsberufe, 2020 die Pandemie und mit dem Angriffkrieg Russlands auf die Ukraine ab 2022 Inflationsraten bis zehn Prozent, was viele Beschäftigte in besser bezahlte Jobs trieb.

Zehntausende warten in der Notaufnahme mehr als zwölf Stunden

Aktuell verfehlt der Gesundheitsdienst eine Vielzahl selbstgesteckter Zielmarken, wie die US-Tageszeitung Wall Street Journal (WSJ) aufzeigt: Statt der angestrebten 19 Sekunden dauert es bis zur Annahme eines Notrufs im Durchschnitt 88 Sekunden, der Notdienst erreicht das Opfer nach offiziellen Erhebungen auch nicht wie geplant nach 18 Minuten, sondern erst nach 79 Minuten und bis zur Übergabe im Krankenhaus vergehen nicht weitere 19, sondern 40 Minuten.

Dort angekommen, müssen viele Menschen Stunden warten: Im Januar 2023 überschritt die Zahl der monatlich dokumentierten Fälle, in denen Patienten in der Notaufnahme mehr als 12 Stunden auf einen Arzt warten mussten erstmals die Marke von 50.000 – eine Situation, die bis 2020 überhaupt nicht vorkam. Mehr als 100.000 weitere warteten im Januar mehr als vier Stunden, bis sie behandelt wurden. Ebenfalls ein Rekord.

Insgesamt ist die klinische Versorgung desaströs, wie das WSJ weiter berichtet: Wer kein medizinischer Notfall ist, wartet zum Teil sogar mehrere Jahre auf seine Behandlung. Im November 2022 summierte sich die Zahl derartiger Fälle in England auf 7,1 Millionen, das entspricht 12 Prozent der Gesamtbevölkerung. Als Ursachen gelten die Überalterung, aber auch, dass es vergleichsweise extrem wenig Krankenhausbetten gibt. In den vergangenen 30 Jahren hat sich deren Zahl in England mehr als halbiert, von rund 299.000 im Jahr 1987 auf 141.000 im Jahr 2019, berichtet der King's Fund, ein unabhängiger britischer Thinktank.

Aufgrund des rigiden Sparkurses sind die Gesundheitsausgaben extrem gesunken

2021 hatte das Vereinigte Königreich weniger Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner als fast jedes andere der 38 Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Nach den jüngsten Zahlen der Organisation sind es 2,3 – zum Vergleich: In den USA sind es 2,8, in Frankreich 5,7 in Deutschland 7,8 und in Japan 12,6. Geringer als in Großbritannien ist die Quote nur in Schweden (2,0), Chile (1,9), Kolumbien (1,7), Costa Rica (1,2) und Mexiko (1,0).

Reform der NHS-Zahnmedizin wird diskutiert

Regelmäßig gibt es Medienberichte aus dem Vereinigten Königreich, die eine enorme Mangelversorgung im zahnärztlichen Bereich beschreiben (die zm berichteten). Das seit Jahren unterfinanzierte System leidet demnach doppelt unter den Folgen der COVID-Pandemie: Zum einen gibt es einen erheblichen Behandlungsrückstand, zum anderen klagen die NHS-Praxen über eine enorme Finanzierungslücke. Einer BBC-Recherche aus dem April 2023 zufolge nehmen aktuell neun von zehn NHS-Zahnarztpraxen im Vereinigten Königreich keine neuen erwachsenen Patienten mehr zur Behandlung an, für Kinder gilt dies in acht von zehn Praxen. Und in einem Drittel der mehr als 200 Gemeindebezirke Großbritanniens gibt es laut Bericht einen totalen Neupatienten-Stopp bei NHS-Zahnärzten.

Teile der Regierung haben nun eingeräumt, dass die NHS-Zahnheilkunde in England komplett überarbeitet werden muss. Die Zeit für kleine Änderungen am System sei vorbei und eine tiefgehende Reform erforderlich. Das Gesamtniveau der NHS-Zahnheilkunde soll dadurch gesteigert werden, heißt es vage – vor allem aber soll Arbeit im NHS attraktiver gemacht werden. Die Verbesserung des NHS-Zugangs hat nicht nur Priorität, zitiert die BBC das britische Gesundheitsministerium, offenbar gibt es auch ein Budget von zusätzlich 50 Millionen Pfund für den „Abbau von COVID-Rückständen“, das dafür verwendet werden könnte.

Die British Dental Association (BDA) kritisierte indes die ständig steigenden Zuzahlungen für NHS-Patienten. Eine vom Verband beim Meinungsforschungsinstitut YouGov in Auftrag gegebene Umfrage zeige, dass fast ein Viertel der Erwachsenen in England (23 Prozent) ihre zahnärztlichen Behandlungen im NHS aus Kostengründen verzögern oder vernachlässigen. Und 45 Prozent geben laut BDA an, dass der Preis ihre Wahl der Behandlung beeinflusst – den klinischen Empfehlungen ihres Zahnarztes folgen hingegen nur 36 Prozent.

Laut einer Analyse der Health Foundation lagen die durchschnittlichen täglichen Gesundheitsausgaben dank des extremen Sparkurses der Regierung zwischen 2010 und 2019 bei 3.005 Pfund pro Person und Jahr – das sind rund 18 Prozent weniger als der Durchschnittswert der EU14, also jenen Ländern, die der Europäischen Union vor 2004 beigetreten sind. Weniger gaben nur Italien (2.517), Spanien (2.369), Portugal (2.130) und Griechenland (1.756) im selben Zeitraum aus.

Der britische Gesundheitsminister Steve Barclay zeigt kein Verständnis für die Arbeitskämpfe der Ärzte. Er finde es bedauerlich, dass sich die jungen Ärzte entschieden hätten, nach Ostern zu streiken, um „maximale Störungen“ zu verursachen. Barclay beteuerte, er wolle einen Deal, der die Gehälter der jungen Ärzte erhöht und Frust abbaut, aber dies würde eine „sinnvolle Bewegung“ der Gegenseite erfordern. Die aktuelle Forderung der MedizinerInnen sei schlicht nicht zu finanzieren, lautet Barclays Fazit.

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