Am Phantomkopf mit zugeklebtem Auge üben?
zm-online: Frau Prof. Wiegand, die Teilnehmer Ihrer Studie mussten auf dem Petziball sitzend oder auch einäugig die zahnärztliche Behandlung trainieren. Warum sind sie besser als die konventionell arbeitende Kontrollgruppe
?
Prof. Dr. Annette Wiegand:
Üblicherweise werden feinmotorische Handlungsfertigkeiten im Zahnmedizinstudium zunächst am Phantom durch wiederholendes Üben und Bewegungskorrektur gelernt. Das differenzielle Lernen versucht durch eine Vergrößerung der Fluktuationen der Bewegungsdurchführung einen zentralnervösen Selbstorganisationsvorgang beim Lernenden zu initiieren, welcher zu einem individuell optimierten und stabileren Bewegungsmuster führen soll.
Beim differenziellen Lernen geht man zunächst davon aus, dass sich Bewegungen vermutlich nie exakt wiederholen lassen und dass das Gehirn aus den neuen Anteilen einer Bewegung lernt, indem es sich an diese anpasst. Daher sollen bewusst Varianzen in eine Bewegung eingebaut werden, um die neuen Anteile zu verstärken. Wenn während einer Übung immer die gleichen Reize angeboten werden, wie zum Beispiel bei Wiederholungen, können sich nur für diese Reize neuronale Verbindungen entwickeln. Wir gehen daher davon aus, dass die Testgruppe effektiver gelernt hat, weil sie nicht immer gleichförmig geübt hat.
Welche Möglichkeiten sind denn denkbar, um die Bewegungsführung zu variieren?
Sehr einfache und kostenlose Möglichkeiten sind zum Beispiel Übungen mit der nicht-dominanten Hand oder Variationen in der Behandlungsposition (Behandlung im Stehen statt im Sitzen, 3-Uhr-Position statt 9-Uhr-Position) oder Patientenlagerung.
Etwas aufwendigere Maßnahmen sind zum Beispiel das Anlegen einer Gipsmanschette oder die Verwendung einer Umkehrbrille. Diese Variationen haben wir unter anderem in unserer Studie verwendet.
Und wie lange muss man die Methodik anwenden, um auch signifikant bessere Ergebnisse in der praktischen Prüfung zu zeigen?
Zumindest für die Zahnmedizin ist noch nicht genau bekannt, wie lange man die Methode anwenden muss und in welcher Dauer und Frequenz die Variationen angeboten werden sollten. Das versuchen wir gerade im Rahmen anderer Studien zu ermitteln. Aus dem Sporttraining ist allerdings bekannt, dass Anfänger mit weniger Variationen unterrichtet werden sollten als Fortgeschrittene.
Wie wichtig ist hier die Rolle des Lehrenden?
Der Lehrende nimmt sich bei diese Form des Lernens stark zurück, weil Bewegungskorrekturen bewusst vermieden werden sollen, um den Studierenden zu ermöglichen, ihre eigene optimale Bewegungsausführung zu entwickeln. Es gibt also kein Feedback durch die betreuenden Assistenten.
Und wo hat der "differenzielle Lernansatz" seine Wurzeln?
Der differenzielle Lern- und Lehransatz ist ein bewegungswissenschaftlicher Lernansatz, der von dem Sportwissenschaftler Prof. Wolfgang Schöllhorn entwickelt wurde und seine Wurzeln im Sport hat. Mein Kollege Dr. Sven-Olaf Pabel ist selber sportlich sehr aktiv und hat Idee, die im Training zahlreicher Sportarten schon erfolgreich angewendet wurde, in die Zahnmedizin übertragen.
Prof. Dr. med. dent. Annette Wiegand ist Direktorin der Poliklinik für Präventive Zahnmedizin, Parodontologie und Kariologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Die Studie befindet sich derzeit noch sich im Begutachtungsprozess.