Der Crystal-Typus
Bei all ihren suchtbedingten Problemen seien Alkoholiker immerhin einigermaßen zuverlässig, sagt Winfried Vockrodt. Wenn sie einen Termin bei ihm in der Beratungsstelle hätten, dann nähmen sie den in der Regel auch wahr. Und wie viele Kokain-Abhängige seien auch sie meist noch verhältnismäßig gut in die Gesellschaft integriert. Ganz anders sei das bei Menschen, die der Droge Crystal Meth verfallen seien, sagt der Suchtberater aus Leinefelde.
Der Stoff, der alles vernichtet.
"Da haben wir es mit einem ganz neuen Typ Suchtkranken zu tun." Der Crystal-Typus zeichne sich nicht nur dadurch aus, dass er keine Termine einhalte. Er sei vielfach depressiv und auch seine geistige Leistungsfähigkeit lasse durch den Drogenkonsum schnell und teilweise deutlich nach. Deutlicher und schneller als das bei vielen anderen Drogen der Fall sei, mit nicht selten gravierenden Langzeitfolgen, sodass der Stoff innerhalb kurzer Zeit Existenzen völlig vernichten könne.
Doch den Ruf nach einem Landesprogramm gegen Crystal oder pauschal nach mehr Geld für die Drogenberatung hält Vockrodt nicht für zielführend. Einfach nur mehr Geld in die Suchtberatung zu stecken, helfe beim Umgang mit diesen Menschen nicht.
Die Zahl der Menschen, die Crystal nehmen, ist in den vergangenen Jahren sowohl in Deutschland als auch in Thüringen stark gestiegen. Aus der Antwort von Thüringens Sozialministerin Heike Taubert (SPD) auf eine Kleine Anfrage der Grünen zu dem Themenkomplex gehen zwar wegen statistischer Unschärfen keine präzisen Daten dazu hervor, wie viele Thüringen zuletzt wegen Crystal-Problemen Suchtberatungsstellen im Freistaat aufgesucht haben.
Drogenmenge und Abhängige nehmen zu.
Die Tendenz ist trotzdem eindeutig: Nahm die ambulante Suchthilfe in Thüringen in den Jahren 2005 bis 2008 jährlich etwa 200 Fälle wegen der Abhängigkeit von Stimulanzien wie Crystal neu auf, waren es 2011 schon fast 500, 2012 fast 700.
Auch die Menge an Crystal, die in den vergangenen Jahren durch die Thüringer Polizei sichergestellt wurde, nahm nach diesen Zahlen bereits deutlich zu: Waren es 2005 nicht einmal 600 Gramm, waren es 2011 schon mehr als zwei und 2012 bereits fast sieben Kilogramm.
Die Grünen drängen angesichts dieser Daten auf eine Strategie des Landes, um mit dieser Crystal-Schwemme umzugehen. "Ich habe nicht den Eindruck, dass in der gesellschaftlichen Debatte klar ist, wie gefährlich diese Droge eigentlich ist", sagt die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Landtag, Anja Siegesmund. Der Landesregierung wirft sie vor, das Thema zu vernachlässigen. Bestärkt sieht sie sich in dieser Einschätzung dadurch, dass es in Tauberts Antwort auf die Grünen-Anfrage heißt: "Eine Landeskonzeption zur Bekämpfung dieser Droge gibt es in Thüringen nicht."
Ein Sprecher des Sozialministeriums weißt Kritik Siegesmunds zurück. Die Landesregierung wisse sehr wohl um das Problem. Die Polizei sei im Kampf gegen die Droge sehr aktiv und sein Ressort habe die Drogenberatungsstellen zuletzt gestärkt. Ohnehin seien die Berater vor Ort mit der Thematik vertraut - auch ohne explizite Landeskonzeption.
Gefährlichkeit wird unterschätzt.
Vockrodt, in dessen Beratungsstelle die Zahl der hilfesuchenden Crystal-Abhängigen von 2012 auf 2013 um 80 Prozent auf 20 gestiegen ist, bestätigt das. Zugleich stimmt er Siegesmund zu, dass die Gefährlichkeit von Crystal von vielen noch unterschätzt werde. Doch zum Beispiel ein noch größeres Weiterbildungsangebot für Thüringens Drogenberater sei überflüssig. Es gebe eine Vielzahl entsprechender Schulungen, "die jeder nutzen kann, der das will".
Klassische Suchtberater seien in Thüringen bereits gut informiert und vernetzt. Wichtig sei es, den neuen Süchtigen-Typus anders anzusprechen, sagte Vockrodt, ohne auf Details dazu näher einzugehen. Oft helfe es schon, wenn die Beratungsstellen ihre eigenen Hilfsangebote noch niederschwelliger gestalteten.
Wenn zum Beispiel ein Crystal-Abhängiger unangekündigt vor der Tür stehe, dürfe man ihn nicht wieder mit der Bitte wegschicken, zu einem vereinbarten Termin wiederzukommen, zu dem er wohl ohnehin nicht erscheinen werde. "Wenn die Menschen da sind, muss man sich Zeit für sie nehmen", sagt der Nordthüringer Experte. "Auch wenn man vielleicht gerade etwas anderes zu tun hätte."
von Sebastian Haak, dpa