Die tödliche Sekunde

eb/dpa
Gesellschaft
Wer sich übermüdet hinters Lenkrad setzt, beginnt manchmal seine letzte Fahrt. Das Ausmaß der Schläfrigkeit am Steuer halten deutsche Mediziner für extrem unterschätzt. Sie schlagen nun Alarm.

Oft ist es nur eine kurze Meldung in kühlem Polizeideutsch: "Autofahrer übermüdet gegen Baum gefahren - Tod noch am Unfallort." Doch die nüchternen Mitteilungen summieren sich jedes Jahr zu einer Vielzahl von Tragödien, von denen Kreuze am Straßenrand zeugen. Schlafforscher aus 19 europäischen Ländern schlagen nun Alarm.

Allein in Deutschland haben nach dem Zwischenergebnis ihrer Online-Umfrage 42 Prozent der Auto-, Bus- und Lastwagenfahrer Schlafattacken hinter dem Lenkrad. Jeder fünfte Unfall wird nach Schätzung der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) durch Übermüdung verursacht. 

EU-Verkehrsexperten sollen "aufwachen"

Mit diesen Zahlen im Gepäck wollen die Wissenschaftler Ende der Woche nach Brüssel reisen - zu EU-Verkehrsexperten. "Wake up" (Aufwachen) nennen sie ihre Aktion. "Schläfrigkeit am Steuer ist ein extrem unterschätztes Problem", sagt die Mannheimer Schlafmedizinerin Maritta Orth. Sie fordert unter anderem, bei Führerscheinprüfungen künftig Fragen zum persönlichen Schlafverhalten zu stellen. Insbesondere zu Müdigkeit und Schläfrigkeit am Tag - und das vor allem bei Berufskraftfahrern. 

Die Schlafforscher haben rund 12.700 Menschen aus 19 europäischen Ländern online zum Thema Müdigkeit am Steuer befragt. Aus Deutschland flossen bisher 759 Interviews ein. Das ist ein Zwischenstand von Anfang Oktober, die Umfrage und die Auswertung laufen weiter. 

Wenn der Vorhang fällt

Die deutschen Trends sind für die Schlafmediziner schon deutlich erkennbar - und alarmierend. Sind 42 Prozent übermüdete Fahrer nicht sehr hoch gegriffen? "Diese Zahl ist hoch, aber ehrlich", urteilt Expertin Orth. Sie kommt auch nicht völlig überraschend. Bereits Ende 2012 gab bei einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrats ein Drittel der Autofahrer zu, am Steuer schon einmal in einen Sekundenschlaf gefallen zu sein. Fast jeder Fünfte erlebte eine gefährliche Situation oder baute einen Unfall. 

Sekundenschlaf ist ein plötzliches, unbemerktes Einnicken. "Ab einem bestimmten Punkt der Übermüdung kann man da nichts mehr gegen machen", erläutert Schlafmedizinerin Orth. "Das ist, als ob ein Vorhang runterfällt." Deshalb sei es ein Irrglaube, sich mit Kaffee, lauter Musik oder frischer Luft wach halten zu können. "Das einzige Mittel gegen Schläfrigkeit ist Schlaf", betont Ärztin Orth. 

Wer müde ist, überschätzt sich

Die Bundesanstalt für Straßenwesen geht bisher davon aus, dass 10 bis 20 Prozent der Verkehrsunfälle auf Deutschlands Straßen mit Müdigkeit am Steuer zu tun haben. Bei 300.000 registrierten Unfällen im Jahr 2012 wären das also bis zu 60.000. Auffällig ist, dass Schläfrigkeit besonders bei schweren Crashs eine Rolle spielt. Der Grund? "Wir überschätzen uns", sagt Orth. 

Oft ist es nicht nur der Schlafmangel einer Nacht, der Stress, die Schichtarbeit oder Termindruck, der zu Müdigkeit am Steuer führt. Allein zehn Prozent der Bevölkerung sind nach Angaben der Wissenschaftler von Ein- und Durchschlafstörungen betroffen - unabhängig vom Lebensalter. Dazu kommen rund 90 weitere Krankheitsbilder im Zusammenhang mit Schlaf.

Gefahrenquelle Dauermüdigkeit

Zu den bekanntesten zählt die Apnoe, bei der nachts der Atem bei lautem Schnarchen kurz aussetzt. Folgen dieses Sauerstoffmangels sind Erschöpfung und Müdigkeitsattacken am Tag. 2004 ergab eine Studie, dass 16 Prozent der befragten Lastwagenfahrer in Deutschland eine Apnoe hatten - viermal häufiger als die Durchschnittsbevölkerung. "Das ist erschütternd. Sie transportieren ja auch Menschen und Gefahrgut", sagt Forscherin Orth. 

"Müdigkeit am Steuer wird stark unterschätzt", sagt auch Sven Rademacher, Sprecher des Deutschen Verkehrssicherheitsrats. "Ein großes Problem dabei ist, dass valide Daten fehlen." Denn nach einem Unfall werde Müdigkeit als Grund in der Regel nicht abgefragt. "Wer mag schon zugeben, dass ihm einfach die Augen zugefallen sind?", fragt Rademacher. "Das hat ja sofort Konsequenzen für die Unfallschuld." 

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