Interview zu nachhaltiger Zahnmedizin

„Die Zero-Waste-Praxis ist nicht möglich”

mg
Praxis
Für Zahnarzt Hannes Schulte-Ostermann sind Umwelt- und Klimaschutz Herzensangelegenheiten. Hier erklärt der Chef der prämierten Praxis „Mundpropaganda”, wie er seinen Berufsalltag nachhaltiger gestaltet.

Herr Schulte-Ostermann, gab es einen externen Impuls oder ein persönliches Erlebnis, das Sie motivierte, Ihre Praxis nachhaltiger auszurichten?

Schulte-Ostermann:

Dieser Impuls kam schon in frühester Kindheit. Ich bin in Kiel aufgewachsen, auf dem Land, und bin auf eine Waldorfschule gegangen, diese liegt am Stadtrand von Kiel und auf dem Schulgelände fließt eine Au. In dieser Au haben wir als Kinder mit Ästen eine "Müllfangstation" gebaut und täglich aus dieser Au zwei bis drei Säcke Müll gefischt und diese dann der Verwertung zugeführt. Dies ist das erste prägende Erlebnis, was mir vor Augen geführt hat, wie sehr wir die Umwelt durch unsere Unachtsamkeit verschmutzen.

Wie sind Sie im Anschluss vorgegangen?

Nach dem Entschluss, mich mit einer Praxis selbstständig zu machen, war mir schnell klar, dass ich sie von Anfang an nachhaltig und ökologisch ausrichten will. Meine langjährige Berufserfahrung hat mir viele Impulse aus der Praxis gegeben, zum Beispiel in Bezug auf Prophylaxe und einen digitalen Workflow. Kurzum: Ich habe das Mundpropaganda-Manifest entwickelt und verfasst. Die Lösungsansätze habe ich teilweise selbst entwickelt, teilweise stammen sie aus Recherchen im Internet.

Für welche Maßnahmen haben Sie sich entschieden – und warum?

Unserer Maßnahmen teilen wir in drei Bereiche: Less waste – Hightech – Prophylaxe. Die erste Entscheidung war die Location und deren ökologische Sanierung. Das Praxisdesign kommt von BFGF Design Studios , die als zertifizierte "Cradle-to-Cradle© Design Consultants" die Umsetzung der Sanierung im Sinne der optimierten Kreislaufwirtschaft geplant haben. So sind in unseren Praxisräumen der ehemaligen Jugendzahnklinik Berlin im Prenzlauer Berg nachhaltige Materialien, regionales Vollholz und gut zerlegbare und trennbare Konstruktionen mit hoher Recyclefähigkeit zum Einsatz gekommen. Es wurde auf lösbare Verbindungen, einen geringen Einsatz von Verbundstoffen und auf den minimalen Einsatz von Kleb- und Kunststoffen geachtet.

Wir setzen auch auf Upcycling, so sind unser Firmenschild und der Fahrradständer vor der Praxis aus alten Materialien gebaut. Und natürlich reduzieren wir Müll im Alltag, so gut es eben geht, zum Beispiel durch wiederverwendbare Instrumente, die sterilisiert werden, Keramikbecher, Gläser oder verpackungsfreie Zahnpasta. Verpackungsmüll wird weitestgehend - auch in der Zusammenarbeit mit unseren Lieferanten - reduziert. In der Praxis steht durch einen hochmodernen Wasseraufbereiter Trinkwasser in Quellwasser-Qualität für MitarbeiterInnen und PatientInnen zur Verfügung. Wir lassen uns zudem Snacks und Lebensmittel unverpackt liefern.

Im Bereich Hightech sparen wir viel Zeit, Material und Ressourcen durch das eigene Zahntechniklabor, den digitalen Workflow inklusive abdruckfreiem Intraoral-Scanner. Die Prophylaxe, die im besten Fall mit dem ersten Milchzahn beginnt, ist für uns die wirksamste Methode Zahnbehandlungen und somit Material einzusparen. Hier binden wir die Eltern und die Kinder sehr früh in unser Zahnreinigungs- und Prophylaxe-System ein.

Welche Schwierigkeiten, Überraschungen oder Rückschläge gab es dabei, die Praxis nachhaltig aufzustellen?

Die größte Schwierigkeit war/ist, dass eine Zero-Waste-Dentistry nicht möglich ist. Wir hatten am Anfang über den Slogan "Zero Waste Dentistry" für unsere Praxis nachgedacht, sind dann aber darauf gekommen, dass es allein aufgrund der hygienischen Anforderungen nicht möglich ist, dies zu verwirklichen. So sind wir zu "less waste dentistry" gekommen.

Auf welche Lösung sind Sie besonders stolz?

Zusätzliche Urlaubstage für Mitarbeiter, die auf Urlaubs-Flugreisen verzichten. Außerdem Jobrad [Anm. d. Red.: Ein Dienstleister für Fahrradleasing und Dienstfahrräder] und ÖPNV-Tickets für die Mitarbeiter – und die vollständige Digitalisierung aller Prozesse sowie das Einsparen von Papier- und Abdruckmaterialien.

Wie waren die Rückmeldungen von Kollegen? Gibt es Vorbilder oder Nachahmer?

Es hat zunächst geholfen, im Netz andere Praxen zu finden, die auch nachhaltige Ansätze

verfolgen. In Amerika gibt es sogar eine Gesellschaft für nachhaltige Zahnmedizin, die Eco-Dentistry Association .

Und Ja, es melden sich immer mal wieder Kollegen bei mir, die Ihre Praxis nachhaltiger gestalten wollen und Fragen an mich haben.

Wie hat das Team reagiert? Wie die Patienten?

Das Team hat super reagiert. Sie sind jetzt nicht alle hellauf begeistert, lassen sich aber gerne auf unsere Ansätze ein. Alle Teammitglieder tragen unser Konzept mit, auch wenn es natürlich nicht alle privat so konsequent leben wie ich.

Die Reaktion der Patienten war am Anfang gemischt. Manche konnten es gar nicht verstehen, haben gefragt, ob wir jetzt "alte Zähne" wieder benutzen. Mittlerweile ziehen wir aber eine spezielle Klientel an, die uns genau aus dem Grund aufsucht. Manche Patienten interessiert es aber auch gar nicht weiter – sie suchen halt einfach einen guten Zahnarzt.

Welche Kosten oder auch Einsparungen haben die Maßnahmen ausgelöst? War die Einführung des Konzept am Ende vielleicht sogar kostenneutral?

Ich habe es nicht genau ausgerechnet. Ich denke aber, dass es am Ende – vor allem was die Digitalisierung betrifft – kostenneutral gewesen ist.

Planen Sie weitere Maßnahmen? Wenn ja, welche sind das?

Unsere Praxis wird zurzeit an eine neue, modernere Heizungsanlage angeschlossen. Außerdem suchen wir aktuell noch nach einem geeigneten Hersteller für plastikfreie Zahnseide zur Verringerung der Umweltbelastung und zur Ressourcenschonung.

Wo sehen Sie in puncto nachhaltige Zahnmedizin die größten Herausforderungen  für die Zukunft?

Energie und Abfall. Ein großes Problem sind die Handschuhe. Wir hatten versucht, von Vinyl- auf PE-Handschuhe umzustellen, das war aber praktisch nicht möglich. Pfandsysteme für Praxismaterialien: Dieser Punkt wird von der Industrie noch sehr wenig umgesetzt, es gibt ein paar Beispiele, aber noch viel zu wenige.

Wie könnten Dentalindustrie und Politik Ihrer Meinung nach Zahnärzte beim Thema Nachhaltigkeit besser unterstützen?

Gut wären eben beispielsweise Pfandsysteme für Praxismaterialien – und wenn die Industrie selbst Forschung betreiben würde, welche Materialien klimaneutral sind, sich gut wiederverwerten lassen und selbst recyceln.

Welche Bedeutung haben Auszeichnungen wie "Die Grüne Praxis"?

Es war für uns sehr schön, diesen Preis zu gewinnen, es hat uns sehr stolz gemacht. Wir haben doch sehr viel Arbeit in dieses Projekt gesteckt und waren oft unsicher, ob es ein gangbarer, richtiger Weg ist. Da ist so eine Auszeichnung natürlich eine super Sache.

Die Fragen stellte Marius Gießmann.

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