Ein Zahnarzt in Indien (3)

Hans-Joachim Dubau
Gesellschaft
Der erste Tag in Jaipur: Heute treffe ich meinen Kollegenzahnarzt Dr. Mathur, um einige Tage mit ihm in seiner Praxis zu behandeln. Ich bin sehr gespannt, was mich erwartet.

Die erste Nacht in Jaipur ist aufgrund der bevorstehenden Ungewissheiten doch von Unruhe geprägt, trotz großer Sehnsucht nach ausreichend erholsamem Schlaf. Am nächsten Morgen genieße ich das reichhaltige Buffet und den leckeren Kaffee zusammen mit dem Team vom WDR. Es sollte für die Zeit in Indien das letzte gemeinsame Frühstück sein. Ich merke: Bestimmte Dinge werden mir verheimlicht oder hinter meinem Rücken abgesprochen.

Wegen meiner großen Fragezeichen in meinem Blick erklärt man mir nett, ich solle kein Schauspieler sein, der  Regieanweisungen gemäß Drehbuch umsetzt. Meine Erfahrungen soll ich selber und unvoreingenommen machen, soweit das geht und es die Kamera einfangen kann. Daher müssen eben manche Dinge organisiert und besprochen werden, über die ich mir aber keine Gedanken machen soll. Ich bin kurz verunsichert, dann kann ich mitspielen und auf die Professionalität des Teams vertrauen. Und jetzt soll ich meinen Kollegen Dr. Mathur treffen und einige Behandlungstage mit ihm in seiner Praxis verbringen. 

Vor dem Hotel lerne ich noch den indischen Producer und seinen Assistenten kennen. Der Producer ist bei einem staatlichen Fernsehsender angestellt, hat sich im Vorfeld um die Organisation der beteiligten Zahnärzte in Jaipur, die Unterkünfte und Drehgenehmigungen gekümmert und steht uns nun mit Rat und Tat zur Seite. Hinzu kommt noch der ebenfalls von "unserem Mann in Indien" organisierte Fahrer, ein sehr engagierter junger Mann namens Sanjeev, mit einer erstaunlich deutschen Einstellung zum Zeitmanagement.

Nach der Begrüßung und Klärung der Zuständigkeiten und der voraussichtlichen Tagesplanung stürzen wir uns in den Verkehr in Richtung zahnärztlichem Kollegen. Die Spannung steigt bei mir, wobei ich versuche, die Nervosität nicht hochkochen zu lassen. Der Producer sorgt mit seinem Fragebombardement für ausreichend Ablenkung, denn sein Englisch verstehe ich kaum und meins reicht nicht aus, um seine Fragen hinreichend beantworten zu können.

Mein erster O-Ton

Eine unübersichtliche Masse unterschiedlichster Fortbewegungsmittel schiebt sich über die Straße in alle Richtungen. Überall sehe ich ausschließlich Schriftzeichen in Hindi, die übrigens an dritter Stelle der meist gesprochenen Sprachen der Welt nach Chinesisch und Englisch steht.

Die Praxis des Kollegen ist in eine allgemeinärztliche Klinik eingebettet, die nur durch das rote Kreuz am Eingang als solche zu erkennen ist. Bevor ich die Klinik betrete, wird spontan zum ersten Mal ein "O-Ton" gedreht, das heißt, Marika befragt mich - unvorbereitet -  zur Situation und meiner Gefühlslage. Mich auf die Fragen zu konzentrieren - bei den umherschwirrenden Menschen, die neugierig schauen, sich dazu gesellen, winken, sich freuen, lachen, auch ihrerseits Fragen stellen, dazu die laufende Kamera, die ich "einfach" ignorieren soll - fällt mir schwer. Marika hat jedoch die Gabe, mich durch das Interview zu führen: Anhand ihrer Mimik und Gestik erkenne ich, ob ich im Begriff bin, auch tatsächlich auf die Fragen zu antworten oder besser nochmal anfange.

Ich erzähle, dass ich mich unsicher fühle, weil ich nur fremde Schriftzeichen und keine mir bekannten Buchstaben sehe. Die Sprache scheint ein großes Hindernis zu sein. Ich wünsche mir mal wieder, in der Schule besser aufgepasst oder zumindest meine Lernheftchen zur Reisevorbereitung auswendig gelernt zu haben. Gut, hilft jetzt nichts, no problem, wie der gemeine Inder zu sagen pflegt.

Hier gibt es nur die eine Seite

Um zu dem Kollegenzahnarzt zu kommen, muss ich mich durch den überfüllten Wartebereich schlängeln. Ich sichte den Vorhang, der das Behandlungszimmer vom übrigen Betrieb abtrennt. Anklopfen zu können wäre jetzt schön, gestaltet sich aber schwierig bei dem Vorhang. Schiebe ihn also vorsichtig zur Seite und treffe so auf den indischen Kollegen.

Die Kamera verfolgt mich bei der doch sehr herzlichen Begrüßung. Ich bekomme einen Sitzplatz angeboten und kann mich umschauen. Wir unterhalten uns ein paar Minuten über die Ausstattung und das Patientenaufkommen. Meine Gedanken kreisen unaufhörlich, wollen Vergleiche ziehen zwischen den gewohnten Standards und der Praxis hier. Ich muss meinem Kopf verbieten, weiter über MPG, Autoklaven, die reine und die unreine Seite nachzugrübeln, denn hier gibt es nur eine Seite. Es dauert ein wenig, bis ich mich gedanklich so neutralisiert habe und sagen kann: "Okay, das ist die Situation hier und damit wird gearbeitet. Punkt".

Augenmerk liegt auf der Schmerzbeseitigung. Es gibt keine Termine und auch keine Matritzen zur Füllungslegung. Die Zementfüllungen haben eher die Aufgabe, die Zähne zur Extraktion vorzubereiten, vielleicht noch zwei bis drei Monate hinauszuzögern. Das Skalpell kommt häufig zum Einsatz, Abszesse gehören zum Alltag. Nach der Extraktion wird der Patient angewiesen kräftig umzuspülen, die frische Wunde wird danach mit Watte austamponiert. Die Patienten arbeiten gut mit, der Zahnarzt erklärt kurz, ruhig und freundlich, diskutiert wird wenig bis überhaupt nicht.

Es gibt einen Zahnarzthelfer, der die Aufgaben der uns bekannten Haupthelferin innehat. Er nimmt Patienten an, fertigt Röntgenbilder an - es gibt einen Spitztubus am Stuhl -, die Chemikalien sind allgegenwärtig, nimmt Abdrücke für Prothesenreparaturen.

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Für die Abdrücke geht es im Stockdunkeln in den Keller

Hierfür gibt es einen weiteren Raum im Keller, der noch abenteuerlicher anmutet. Um dorthin zu gelangen, balanciert man im Stockdunkeln eine schmale Steintreppe hinunter, bis extrem muffiger Geruch den Atem nimmt. Fenster gibt es nicht, dafür einen großen Ventilator, der zusammen mit dem spärlichen Licht angeschaltet wird. Die Arbeitsflächen und Ablagen sind allesamt mit Zeitungspapier abgedeckt, an den Spateln und Anrührbechern klebt altes Alginat. Sehr zartfühlend geht der Assistent nicht mit den Patienten um, kommuniziert überhaupt nicht. Allerdings macht er sehr ordentliche Abdrücke.

Da ich ja nicht in Indien bin, um die Arbeit meiner Kollegen zu beurteilen, kann ich recht schnell die positiven Attribute für mich herausstellen. Der Kollege versucht schon, seinen Patienten die Ursachen der Erkrankungen und Möglichkeiten der Zahnheilkunde zu vermitteln. Er bietet Untersuchungen für ganz kleines Geld an. Bislang wird das Angebot aber von seinen Patienten leider nicht wahrgenommen.

Schubladendenken

Sehr interessant erscheint mir die Abrechnung und Dokumentation. Die Preisgestaltung ist vom Patienten abhängig und wird immer direkt ausgehandelt, beziehungsweise der Kollege schlägt einen Preis vor und nennt auch - sofern vorhanden - Alternativtherapien mit ihren Kosten. Ist der Patient einverstanden, wird losgelegt. Bezahlt wird in bar - das Geld wandert in die Schreibtischschublade. Dokumentiert wird bei ungefähr jedem dritten Patienten, wenn der Kollege das Gefühl hat, den Patienten noch einmal wieder zu sehen. Dann schreibt er schon mal etwas in sein Heftchen, das auch in der Schreibtischschublade mit den Scheinchen aufbewahrt wird.

Je länger ich in diesem kleinen Zimmerchen verweile, desto wohler fühle ich mich. Das Gefühl, bei schmerzenden Zuständen zu helfen, ohne große Formalitäten und Kostenträgern, dankbare Patienten, mit wenig kostenintensiven Materialien, tut gut, befreit. Back to the roots ...

Spontan fühle ich mich schlecht aufgrund meiner Voreingenommenheit, meiner Urteile und Überheblichkeit. Ich frage mich, muss das so sein, wie wir ganz selbstverständlich unsere Zahnheilkunde betreiben? Ich bin verwirrt, mag den Kollegen, seine ruhige und bescheidene Art und hinterfrage wieder meinen Alltag. So geht es dann in die Mittagspause.

Das Kamerateam holt mich ab und der Producer schlägt ein nettes Straßenlokal in der Nähe der Klinik vor, wohin er uns dann auch sogleich fährt. Meine Gedanken verweilen noch ein wenig in dem kleinen, doch irgendwie gemütlichen Behandlungszimmerchen, wollen noch nicht weiterziehen ...

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