Gesundheitskiosk in Hamburg: Seit Oktober fast 1.900 Beratungen
Das Modellprojekt will benachteiligten Menschen in Hamburgs Problembezirken Billstedt und Horn niedrigschwelligen Einstieg zu Gesundheitsförderung und Prävention ermöglichen. Damit entlastet der Kiosk auch die Ärzte, die wegen übervoller Praxen dafür zu wenig Zeit haben.
Die häufigsten Beratungen drehten sich um Gewicht, Ernährung oder Bewegung
Aktuellen Zahlen zufolge gab es allein 2018 bislang 289 Erstberatungen, 224 Folgeberatungen und 166 Kurzberatungen. Möglich sind die Gespräche in acht Sprachen. Die häufigsten Beratungen drehten sich um Gewicht, Ernährung oder Bewegung, aber auch konkrete Krankheitsgeschichten waren wichtige Themen. Seit dem Start am 27. Oktober bis zum 4. April erhielten 272 Patienten eine schriftliche Empfehlung - ähnlich eines Überweisungsformulars - für den Gesundheitskiosk.
Vergangenes Jahr wurden 1.200 Beratungen, davon 800 Erstberatungen und 400 Folgeberatungen durchgeführt. Das Erstgespräch dauert rund 45 bis 60 Minuten, die Folgegespräche eine halbe Stunde.
Dr. Dirk Heinrich, Vorsitzender der Landesgruppe Hamburg beim Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands (NAV-Virchow-Bund), wünschte sich bei einer ersten Präsentation der Zahlen Anfang März, dass dieses Modellprojekt so erfolgreich ist, dass es auch auf andere Städte ausgedehnt wird. „Bislang sind wir die ersten in Deutschland mit so einer Idee. Wir haben Versorgungsprogramme zu Diabetes, Rücken, Herz und Pflege aufgelegt, eine Informationskampagne gestartet und die einrichtungsübergreifende elektronische Patientenakte geplant.“
"Gesundheit für Billstedt/Horn": mit 6,3 Millionen Euro vom Innovationsfonds gefördert
Der Gesundheitskiosk ist nur eine Maßnahme eines groß angelegten Projekts: Die Gesundheitsversorgung in Billstedt und Horn soll neu organisiert, der medizinische und soziale Sektor vernetzt werden. „Gesundheit für Billstedt/Horn“ wird mit 6,3 Millionen Euro vom Innovationsfonds gefördert. Das Projekt wurde 2016 vom NAV-Virchow-Bund gemeinsam mit der OptiMedis AG, dem Ärztenetz Billstedt-Horn e.V. und der SKH Stadtteilklinik Hamburg GmbH ins Leben gerufen.
Über 100 Gesundheitsangebote sind verfügbar
Mittlerweile arbeiten bereits 18 Praxen, 42 Ärzte, acht Pflegeanbieter sowie drei Krankenkassen mit dem Kiosk zusammen; über 100 Gesundheitsangebote sind verfügbar. 15 Veranstaltungen zur Ärztefortbildung wurden abgehalten, drei Gesundheitsprogramme für Risikopatienten entwickelt.
In Billstedt und Horn wohnen überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger, Menschen mit niedrigen Schulabschlüssen, Migranten und Alleinerziehende. Menschen aus diesen Bevölkerungsgruppen erkranken Studien zufolge rund zehn Jahre früher an Diabetes, Asthma, Herz- oder Lungenleiden. Die Arztpraxen können den erhöhten Behandlungsbedarf der Patienten kaum decken - es gibt schlicht zu wenig Ärzte.
"Praxen an solchen Standorten rechnen sich betriebswirtschaftlich häufig nicht!"
Heinrich praktiziert seit 1996 als HNO-Arzt in Hamburg-Horn und erklärt: „Praxen an solchen Standorten, die ganz ohne Privatpatienten auskommen müssen, rechnen sich betriebswirtschaftlich häufig nicht. Zum Quartalsende ist das Budget der Kassen aufgebraucht, und ich behandle meine Patienten, ohne dass ich von der Kasse dafür noch ein entsprechendes Honorar bekomme. Die Kosten für Mitarbeiter, Miete und Energie laufen aber weiter. Im schlimmsten Fall drohen mir sogar Honorarkürzungen und Regresse, wenn ich zu viel verschreibe.“
"Die Budgetierung ist der Hauptgrund, warum die Menschen das Gefühl haben, es gäbe eine Zwei-Klassen-Medizin!"
Ihn ärgert, dass die Sparmaßnahmen der Politik die Situation gerade in Problembezirken wie Billstedt und Horn verschärft haben, sagte er im März: „Die Budgetierung im Gesundheitswesen ist der Hauptgrund, warum die Menschen das Gefühl haben, es gäbe eine Zwei-Klassen-Medizin. Unsinnige Forderungen wie zwangsweise noch mehr Sprechstunden ändern nichts daran, dass wir zu wenig Ärzte und zu wenig Geld für die Behandlung der Menschen in Billstedt und Horn haben.“
"Es gibt nur drei Möglichkeiten als Arzt in Billstedt: jammern, weggehen oder machen!"
„Es gibt nur drei Möglichkeiten als Arzt in Billstedt mit der Situation umzugehen“, bilanziert Dr. Gerd Fass, Vorstandsvorsitzender des Ärztenetzes Billstedt-Horn und Vorstandsmitglied der Landesgruppe Hamburg beim NAV-Virchow-Bund, in einer Erklärung. „Jammern, weggehen oder machen. Wir haben uns für die dritte Option entschieden.“ Heinrich pflichtet ihm bei: „Wenn die politisch Verantwortlichen und Teile der Krankenkassen jahrzehntelang die falschen Akzente gesetzt haben, müssen wir vor Ort eben bessere Alternativen entwickeln.“