Hören Sie Ihren Patienten wirklich zu?
Ungestörtes, aufmerksames Zuhören ist nicht so einfach, selbst für Zahnärztinnen und Zahnärzte, die sich einer aufmerksamen und mitfühlenden Haltung verschrieben haben. „Die Herausforderung besteht darin, Wege zu finden, die unsere ärztlichen Werte und Fähigkeiten mit der notwendigen Praxistauglichkeit zusammenbringen“, schreiben die Autorinnen und Autoren aus Texas, Boston und Detroit in ihrem Essay zur Rolle des werteorientierten Zuhörens im Praxisalltag.
Werteorientiertes Zuhören: Der Fall der norwegischen Krankenschwester
Eine Krankenschwester in einem norwegischen Pflegeheim hatte einen schwierigen Patienten, der sich stets allen Pflegeversuchen widersetzte. Eines Tages, als sie ihn für sein morgendliches Bad vorbereitete, fragte sie ihn: „Was wäre für Sie ein guter Tag?“„Ich möchte mein blaues Hemd tragen“, antwortete der Patient. „Warum das blaue?“, fragte die Krankenschwester. „Das war das Lieblingshemd meiner Frau“, sagte der Patient. „Sie ist heute vor zwei Jahren gestorben, und ich möchte ihr die Ehre erweisen.“ Dann erzählte er ihr, wie er und seine Frau sich kennengelernt hatten, wie lange sie zusammen gelebt hatten und was sie ihm bedeutet hatte. Nach dem Bad bat er um seinen Rollstuhl, um anderen Patienten von seiner wunderbaren Frau zu erzählen. Es war das erste Mal, dass er im Pflegeheim Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen wollte.
Mays Business School, Texas A&M University
Basierend auf ihren Studien zur Versorgung und auf ihren Erfahrungen als Führungskräfte formulieren sie sechs Strategien, die sowohl den praktischen als auch den personenbezogenen Bedürfnisse Rechnung tragen, denn: „Werteorientiertes Zuhören verbessert die Beziehungen zwischen Arzt und Patient, zwischen Arzt und Arzt sowie zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern.“
Sechs wichtige Zuhörstrategien
Zuhören aus nächster Nähe: Physische Präsenz zählt. Sie erfahren von Ihren Patienten in einem ruhigen Moment im Behandlungszimmer oft mehr als aus einer kurzen Notiz in der Patientenakte. Wenn Sie nah, fokussiert und neugierig sind, öffnen sich Patienten eher – und dieses Vertrauen ist entscheidend für gemeinsame Therapieentscheidungen. Achten Sie darauf, dass Sie sich diese konzentrierte Zeit für Ihre Patienen nehmen.
Auch die Zusammenarbeit zwischen Kollegen profitiert von räumlicher Nähe. Einfach auf eine Kollegen ohne Rücksicht auf Hierarchien zuzugehen und zu fragen: „Was meinen Sie?“, veranschaulicht, wie diese Nähe zur gemeinsamen Problemlösung beiträgt. Eine Studie der Mayo Clinic kam zu dem Schluss, dass ihre teambasierte Kultur – Ärzte verschiedener Fachrichtungen arbeiten gemeinsam an der Versorgung desselben Patienten – der Hauptvorteil der Klinik bei Diagnose und Behandlung von Patienten ist.Zuhören mit Neugier: Patienten und Angehörige besitzen ein ebenso sensibles wie umfassendes Wissen. Sie haben oft wichtige Einblicke, die eine schwer fassbare Diagnose entschlüsseln können. Ärzte, die im Umgang mit Patienten eine bestätigende Körpersprache verwenden (sich vorbeugen, nicken, wenn möglich sitzen, Blickkontakt halten), vorzeitige Unterbrechungen vermeiden und die richtigen Fragen auf die richtige Weise stellen, fördern einen offenen Dialog.
Ihre Neugier ist deshalb genauso wichtig wie Ihre Fachkenntnis. Wenn Sie offene Fragen stellen und auf die Worte, Körpersprache und Emotionen des Patienten achten, entsteht Raum für ehrliche Gespräche. Oft kommen dabei entscheidende Details ans Licht, die den Behandlungsplan beeinflussen. „Welche Fragen haben Sie an mich?“ eröffnet einen Dialog – ganz anders als ein einfaches „Haben Sie Fragen?“Zuhören, das Vertrauen schafft und ermöglicht: Im Mittelpunkt des therapeutischen Zuhörens steht nicht nur die Frage, was mit den Patienten los ist, sondern auch, was ihnen wichtig ist. Dabei wird anerkannt, dass Patienten ihre Prioritäten, Werte und Sorgen am besten kennen. Vertrauen beginnt also, wenn der Patient sich sicher fühlt, offen zu sprechen. Das geschieht, wenn Sie urteilsfrei zuhören, ihm Ihre volle Aufmerksamkeit schenken und seine Meinung wichtig finden. Für gestresste Mediziner sind die vier Elemente der motivierenden Gesprächsführung (OARS) im Umgang mit Patienten und Angehörigen besonders hilfreich: Offene Fragen, Affirmationen, Reflexionen und Zusammenfassungen.
Zuhören, unterstützt durch Design: Kleine, überfüllte Räume und ein klinisches Umfeld erschweren vertrauliche Gespräche. Doch einfache Veränderungen – etwa wenn Sie sich während des Gesprächs hinsetzen – können dafür sorgen, dass Ihre Patienten sich besser betreut und gehört fühlen. Patienten nehmen Ärzte, die sitzen, nämlich als fürsorglicher, höflicher und informierter wahr. Das zeigt: Zuhören ist nicht nur eine Fähigkeit, sondern auch eine Frage des Raums und seiner Nutzung.
Zuhören, das stärkt und befähigt: Zuhören sollte zu Handlungen führen – das gilt auch für Ihr Personal, das im Gesundheitssystem selbst unter Prozessen und Richtlinien leidet, die Ressourcen verschwenden, wenig bis gar keinen Nutzen bringen und demoralisierend wirken. Ermutigen Sie Ihre Mitarbeitenden, Prozesse in Ihre Paxis zu identifizieren, die einer erneuten Prüfung bedürfen.
Zuhören, das Resilienz fördert: Sich um andere zu kümmern ist anstrengend. Wer im Gesundheitswesen arbeitet, lässt häufig Mahlzeiten aus oder isst in Eile, um sich um Patienten zu kümmern, Krankenakten zu erstellen und Anrufe zu beantworten. Einfache Gesten wie gemeinsame Mahlzeiten und Gespräche mit Kolleg:innen helfen, Burn:out zu reduzieren und emotionale Stärke aufzubauen. Studien belegen, dass gemeinsames Essen und Reden zu festgelegten Zeiten Menschen unterstützt, die in einem emotional intensiven, sehr anspruchsvollen Beruf arbeiten.
"Zuhören nicht nur eine nette Geste ist, sondern ein kraftvolles Werkzeug – auch in Richtung Team. „Wenn Sie auf meinem Stuhl säßen, was würden Sie als Erstes tun, um die Abläufe in unserer Praxis zu verbessern?“ ist eine bessere Frage der Chefin an ihre Mitarbeitenden als „Wie läuft es?““
Prof. Dr. Leonard Berry
„Wenn Ihr Behandlungsteam mit Empathie und Neugier zuhört, führt das zu besseren Entscheidungen, stärkeren Beziehungen und einer individuelleren Versorgung", resümiert Co-Autor Prof. Dr. Leonard Berry von der Mays Business School. „Freundlichkeit ist kein Luxus im Gesundheitswesen – sie ist eine Notwendigkeit. Und echtes Zuhören ist eine ihrer kraftvollsten Ausdrucksformen.“
Leonard L. Berry, Maureen Bisognano, Nana A.Y. Twum-Danso, Rana L.A. Awdish,The Value — and the Values — of Listening,Mayo Clinic Proceedings,2025,,ISSN 0025-6196,https://doi.org/10.1016/j.mayocp.2025.06.002 (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0025619625003118)