Hürden im Kopf
Insgesamt 9,6 Millionen Menschen in Deutschland haben eine Behinderung. Bei nur vier Prozent ist diese Behinderung angeboren. In allen anderen Fällen ist sie, wie es neutral heißt, "erworben", also eine Folge von Unfall, Alter oder Krankheit. Begegnete man Gehandicapten bis vor wenigen Jahren noch mit einer eher fürsorglichen bis distanzierten Haltung, sieht sich die Gesellschaft heute zunehmend als Ganzes und versucht, alle ihre Mitglieder zu integrieren, berichtete Moderatorin Katrin Brand vom WDR: "Es gibt einen Paradigmenwechsel: weg von der Fürsorge, hin zur Teilhabe."
Weg von der Fürsorge
Dr. Christoph von Ascheraden, Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, bestätigte diesen Bewusstseinswandel und verwies auf den Deutschen Ärztetag, der bereits 2008 das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit für behinderte Menschen und damit einhergehend auch die Überwindung äußerer und innerer Barrieren als Ziel formuliert hatte.
Allerdings sei man trotz vieler Fortschritte und Erfolge noch weit von der Verwirklichung der umfassenden Inhalte und Visionen des Gesetzes über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entfernt. Von Ascheraden: "Rollstuhlrampen, breite Türen, behinderte Toiletten - so könnte man in einem ersten Zugriff beschreiben, wie sich der Abbau von Barrieren im alltäglichen Leben darstellt."
Behinderte werden gemacht
"Behindert ist man nicht, behindert wird man gemacht", sagte der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller. Während Barrierefreiheit für uns alle mehr Komfort bedeute, sei sie für Menschen mit Behinderung zwingende Voraussetzung, um zurechtzukommen. Zöller: "Barrierefreiheit für alle - das ist das Ideal, dem sich die Realität schrittweise annähern muss!"
Die Würde der Verschiedenen
"Das Faktum der Exklusion ist mittlerweile begründungspflichtig", bekräftigte Prof. Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland a.D. "Der Defizitansatz wird in der Politik verabschiedet, an seine Stelle tritt die Inklusion, die 'Würde der Verschiedenen'." Die Frage sei nicht mehr 'Wer ist behindert?', sondern 'Wer wird behindert und wodurch?'.
Von den schmerzvollen Erfahrungen Betroffener an die Angleichung an das Normale in der Medizin der 60er Jahre berichtete Prof. Jeanne Nicklas-Faust, Bundesgeschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe. "Heute verdanken die Behinderten der Medizin sehr viel", sagte sie. Zugleich benannte sie die Ambivalenz der Patienten zwischen dem Gefühl anders sein zu müssen und als Objekt wahrgenommen zu werden sowie den medizinischen Errungenschaften, von denen sie profitieren.
Gesetzgeberische Barriere
Den schwierigen Übergang behinderter junger Erwachsener in die Standardversorgung thematisierte Prof. Dr. Michael Seidel, Ärztlicher Direktor der v. Bodelschwingschen Stiftungen Bethel. "Die Betroffenen sind ab der Volljährigkeit in die Regelversorgung integriert, die keine Differenzierung kennt."
Dass diese Problematik analog zur Medizin auch in der Zahnmedizin existiert, erläuterte der stellvertretende KZBV-Vorsitzende Dr. Wolfgang Eßer: "Sind die Patienten 18 Jahre, bezahlt die gesetzliche Krankenversicherung die Maßnahmen der Individual- und Gruppenprophylaxe nicht mehr." Menschen mit Behinderungen könnten aber entgegen dem proklamierten Ideal ihre Eigenverantwortung zumeist selbst nicht wahrnehmen und verfügten zudem nicht über entsprechende finanzielle Ressourcen, um die Leistungen selbst zu bezahlen.
Alles beginnt im Kopf
"Präventionsangebote sollten über das 18. Lebensjahr hinaus sichergestellt werden", bestätigte auch Prof. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer. Oesterreich hob noch einmal hervor, dass Barrierefreiheit viel mehr sei als die Beseitigung baulicher Hürden: "Sie meint vor allem den Abbau mentaler Barrieren in unseren Köpfen und die wertschätzende und offene Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung."
"Es geht uns nicht darum, alle Praxen baulich komplett umzugestalten, sondern die Sensibilisierung in den Praxen zu schärfen", sagte Gastgeberin Regina Feldmann, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, und verwies auf die KBV-Broschüre "Barrieren abbauen".
Weil es aber schnell sehr teuer werden kann, wenn eine Praxis barrierefrei umgebaut wird, haben sich die Vorstände von KBV, BÄK, BZÄK und KZBV bereits im Februar an die Bundesregierung mit der Bitte gewandt, ein Förderprogramm der KfW "barrierefreie Praxis" aufzulegen.