„Immer noch gibt es Sechsjährige, die noch nie beim Zahnarzt waren!“
Wo steht der ÖGD nach den Pandemieauflagen? Dr. Ilka Gottstein, erste Vorsitzende des Bundesverbandes der Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BZÖG) gibt Einblick in die aktuelle Situation rund um die zahnärztlichen Dienste.
Vom 26. bis 29. April findet in Potsdam der diesjährige wissenschaftliche Kongress des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) und des Bundesverbandes der Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BZÖG) statt. Aus diesem Anlass nahm die BZÖG-Vorsitzende Dr. Ilka Gottstein für die zm eine Standortbestimmung aus Sicht ihres Verbandes vor.
Wo stehen die Zahnärztlichen Dienste jetzt nach Ende der Pandemieauflagen?
Mit Beendigung der Corona-Auflagen sind auch die zahnärztlichen Kolleginnen und Kollegen im Öffentlichen Gesundheitsdienst von ihren Sonderaufgaben wieder entbunden worden und haben mit ihren Mitarbeiterteams größtenteils wieder ihre originären Aufgaben in der Prävention und Gesundheitsförderung übernommen. So wurden die Vorsorgeuntersuchungen in den Settings Kindertagesstätte und Schule endlich wieder bundesweit aktiviert – doch leider läuft die Wiederaufnahme der Gruppenprophylaxemaßnahmen in den Kitas selbst oft schleppend. Viel Überzeugungs- und Motivationsarbeit seitens aller Akteure (zahnärztliche Dienste des ÖGD, Patenschaftszahnärztinnen und -zahnärzte mit ihren Teams und die Prophylaxefachkräfte der Landesarbeitsgemeinschaften) sind nun hier gefragt, um die Situation zu verbessern. Besonders das so wichtige (möglichst tägliche) Zähneputzen in den Einrichtungen ist nicht mehr selbstverständlich.
Ein gravierendes Problem: In fast allen Kindertagesstätten gibt es inzwischen einen chronischen Personalmangel bei den Erzieherinnen und Erziehern. Dementsprechend gewachsen sind die Gruppengrößen der Kinder, die eine Umsetzung des so wichtigen gemeinsamen Zähneputzens teils unmöglich werden lassen. Der präventive Ansatz der Gruppenimpulse, der alle Kinder aus allen sozialen Schichten erreichen soll, wird damit massiv geschädigt. Soziale Teilhabe und gesundheitliche Chancengleichheit bei unseren Kindern und Jugendlichen darf nicht nur als Empfehlung auf dem Papier existieren – sie muss gelebt werden.
Wie sieht es denn jetzt mit der Mundgesundheit der Kinder und Jugendlichen aus?
Die ersten vorliegenden Untersuchungsergebnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass sich die Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen nach der Corona-Pandemie deutlich verschlechtert hat. Dies betrifft insbesondere die Jüngsten, die leider auch am längsten mit diesen negativen Veränderungen des Gebisszustandes leben müssen.
Ein wichtiger Punkt kommt hinzu: Infolge der demografischen Veränderung hin zu einer älter werdenden Bevölkerung, die auch die niedergelassene zahnärztliche Kollegenschaft demnächst mit voller Wucht treffen wird, wird mit Versorgungsengpässen auch für Kinder und Jugendliche zu rechnen sein. Die Stärkung der primären und sekundären (Karies-)Prävention – und damit der gesamten Gruppenprophylaxe schon ab dem Kleinkindalter – ist auch aus diesem Grund unumgänglich. Nur dann werden wir eine Chance erhalten, die leider wieder steigende Zahl kariöser Milchzähne in den Griff zu bekommen.
Was sind jetzt Ihre größten Herausforderungen bei der Präventionsarbeit in den Settings Kita und Grundschule?
Bei Kitas treffen die Zahnärztinnen und Zahnärzte des ÖGD nicht nur auf oben genannte Probleme – oftmals sind gut gedachte neue pädagogische Ansätze des jeweiligen Trägers – zum Beispiel das „offene Kita-Konzept“, bei dem die Kinder selber Entscheidungen zu verschiedenen Tätigkeiten treffen können – jedoch für die Umsetzung der Gruppenprophylaxemaßnahmen erschwerend. Hier muss mit Feingefühl zusammen mit der Kita an einer gemeinsamen Lösung gearbeitet werden.
Oftmals ist jetzt die Betreuung der ganz Kleinen unter zwei Jahren, die vor der Pandemie bereits gut in der Gruppenprophylaxe mitbetreut werden konnten – sozusagen durch Lernen von den Größeren – eingebrochen. Gestartet wird jetzt häufiger erst ab zwei bis drei Jahren mit dem Zähneputzen. Weiterhin bietet der erzieherische Standpunkt „Zähneputzen ist Sache der Eltern“ immer wieder Platz für Diskussionen. Das sehen wir nicht so und plädieren deshalb für eine einheitliche Vorgabe auf Bundes- beziehungsweise Länderebene, das einmalige tägliche Zähneputzen nach einer Hauptmahlzeit in der Kindertagesstätte verbindlich zu machen.
In den Grundschulen wird das Thema Zähneputzen derzeit immer schwieriger in der Umsetzung. Nur wenige Schulen (oft Ganztagsschulen) bieten dies regelmäßig an. Auch hier ist das am häufigsten genannte Problem der Personalmangel. Die zahnärztlichen Dienste sind dennoch bemüht, neben den Vorsorgeuntersuchungen und Fluoridierungsangeboten weitere präventive Gedanken einzubringen, zum Beispiel in Form von Projekttagen, Elternabenden und Unterrichtsgestaltungen.
Ein viel diskutiertes Thema ist die Steigerung der Mundgesundheitskompetenz: Was kann der ÖGD dazu beitragen?
Im Hinblick auf die im Jahr 2021 verabschiedeten „Mundgesundheitsziele für Deutschland bis zum Jahr 2030“ (IDZ 2021) liegt jedoch viel Arbeit vor uns. Eines der Ziele lautet erneut, wie schon für 2020: die Kariesfreiheit bei sechs- bis siebenjährigen im Milchzahngebiss soll im Jahr 2030 rund 80 Prozent betragen. Erreicht wurden 53,8 Prozent kariesfreie Gebisse in 2016. Immer noch gibt es Sechsjährige, die noch nie beim Zahnarzt waren und erstmals bei unseren Vorsorgeuntersuchungen in der Schule untersucht werden. Immer noch gibt es Kinder, die in ihrem häuslichen Umfeld keine eigene Zahnbürste besitzen und deren Sorgeberechtigten keinen Wert auf regelmäßige Zahnpflege legen.
Diese Kinder haben leider keine Lobby – wir sind aber hier in der Pflicht, sozialkompensatorisch zu unterstützen. Hier wirkt Gruppenprophylaxe durch regelmäßiges, spielerisches Training des Zähneputzens und dem dazugehörenden Gruppenlerneffekt. Hier werden erste unverzichtbare Grundlagen für die spätere Mundgesundheitskompetenz eines jungen Menschen gelegt. Deshalb muss der hohe Stellenwert der Gruppenprophylaxe in Kindertagesstätte und Schule ganz klar betont werden.
Ein weiterer wichtiger Ansatz für die ZahnärztInnen im ÖGD ist die Beratung der Sorgeberechtigten, Schwangerer und junger Problemfamilien – oft in Zusammenarbeit mit Familienhebammen, um frühzeitig auf eine (mund)gesunde Entwicklung hinzuwirken.
Wie sieht ihre Zwischenbilanz zum Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst aus: Konnte der Pakt Ihre Erwartungen erfüllen?
Vorgesehen sind im Pakt ja vier Milliarden Euro im Zeitraum von 2021 bis Ende 2025, die für die personelle Verstärkung des ÖGD und für die Digitalisierung aufgebracht werden sollen. Genaue Zahlen zur bisherigen Zwischenbilanz speziell für die Personalaufstockung der zahnärztlichen Dienste liegen uns noch nicht vor. Fest steht, dass die Umsetzung des Paktes in den einzelnen Bundesländern recht unterschiedlich verläuft. Mitunter war auch die Zeitschiene zur Umsetzung für Mittelanträge recht sportlich, das betrifft vor allem die Fristen für Vorlagen von Konzepten. Was die digitale Ausrüstung betrifft, haben wir aber bereits gut profitieren können. Die technische Ausstattung der zahnärztlichen Dienste mit modernsten Geräten wie Laptops, Monitoren und Scannern ist deutlich besser geworden und an der Basis angekommen.
Was bedeutet es für Sie, wenn der Pakt von der Politik ab 2026 nicht mehr aus Bundesmitteln finanziert wird?
Wir vom BZÖG fordern – zusammen mit dem BVÖGD –, dass die Finanzierung unbedingt weitergehen muss. Ein wichtiger Punkt ist hier die Finanzierung des neu eingestellten zahnärztlichen Personals und zahnärztlicher MitarbeiterInnen. Viele der mit Hilfe des Paktes neu besetzten Stellen sind befristet – mit allen damit verbundenen Unwägbarkeiten. Unbefristete Arbeitsverhältnisse wären notwendig. Das betrifft natürlich auch die Mitarbeiterteams. Wir sind gerade dabei, aktuelle Zahlen dazu zusammenzutragen und auszuwerten, um konkretere Aussagen treffen zu können.
Welche inhaltlichen Zukunftsaufgaben stehen bei Ihnen auf der Agenda?
Ein wichtiger Punkt ist die Weiterbildung zum Fachzahnarzt für Öffentliches Gesundheitswesen. Leider ist sie noch nicht in allen Bundesländern in der Weiterbildungsordnung etabliert. Dies sollte sich zeitnah ändern, damit Interessierte die Weiterbildung auch in ihrem Kammerbereich absolvieren können. Dazu wollen wir Gespräche auf Landes- und Bundesebene führen.
Ein weiteres aktuelles Thema, welches gerade durch die Corona-Pandemie wieder an Brisanz gewonnen hat, ist die dentale Vernachlässigung (dental neglect). Da diese Thematik viele Kolleginnen und Kollegen bewegt, haben wir im März dieses Jahres die Arbeitsgruppe „Kinderschutz“ im BZÖG gegründet. Wir sind bereits seit vorigem Jahr mit der Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKIM) im Gespräch und werden beratende Unterstützung für unsere AG bekommen. Derzeit tragen wir im Bundesverband zusammen, welche Ansätze es zu strukturiertem Vorgehen bei Verdacht auf dentale Vernachlässigung in den Bundesländern gibt. Geplant ist die Bereitstellung von Good-Practice-Modellen auf unserer Homepage, Fortbildung zum Thema und ein Statement des BZÖG. Die Vernetzung mit anderen Institutionen und Organisationen wird dabei unseren fachlichen Horizont erweitern. Letztendlich werden wir auch hier unsere Beraterfunktion nutzen, um den betroffenen Familien Empowerment zu geben – in den wenigsten Fällen muss das Jugendamt eingeschaltet werden.
Auf der Agenda stehen ebenso Aspekte der Nachhaltigkeit. Wir stehen hier in den Ämtern noch am Anfang, etwa was den Einsatz von nachhaltigen Materialien und Ressourcenschonung betrifft. Einige Bundesländer und Kommunen sind da aber schon weiter als andere. Und der Klimawandel mit seinen Folgen und Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung bedarf eines gesamtgesellschaftlichen Ansatzes. Die Verzahnung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit der Wissenschaft und dem Public-Health-Sektor kann bei der Bewältigung der anstehenden Aufgaben eine wichtige Rolle spielen.
Welche Lösungsansätze haben Sie zur Nachwuchsgewinnung im zahnärztlichen Öffentlichen Gesundheitsdienst und was muss geschehen, damit der ÖGD für Zahnärztinnen und Zahnärzte attraktiver wird?
Um bereits im studentischen Umfeld Interessenten zu gewinnen, suchen wir nach Wegen, die zahnärztliche Tätigkeit im ÖGD und uns als BZÖG bekannter zu machen. Als Kommunikationsplattform sind hier neben unserer bereits existierenden Homepage die Nutzung von Social-Media-Kanälen, Hochschulveranstaltungen und die vergünstigte Teilnahme für Studierenden an unserem jährlich stattfindenden Bundeskongress, den wir gemeinsam mit dem BVÖGD veranstalten, denkbar.
Zum Glück gibt es Interesse aus der zahnärztlichen Kollegenschaft, so dass frei gewordene oder neu entstandene Stellen in der Vergangenheit größtenteils besetzt werden konnten. Vorteile einer Tätigkeit im zahnärztlichen Bereich des Öffentlichen Dienstes sind für viele die geregelten Arbeitszeiten und die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit – was auch die hohe Frauenquote im ÖGD erklären dürfte. Der BZÖG sieht jedoch die stundenreduzierten Stellen kritisch – im Hinblick auf die Gefahr der Minimierung des Aufgabenspektrums und einer Erschwerung der Weiterbildungsmöglichkeit zum Fachzahnarzt.
Immer wieder Diskussionsthema ist die Honorierung im öffentlichen Dienst. Aufgrund der sehr unterschiedlichen lokalen Gegebenheiten wird es hier keine einheitliche Lösung geben. Eine Möglichkeit wäre es, die Finanzierung der Gesundheitsämter und damit der zahnärztlichen Dienste vom kommunalen Finanzausgleich abzukoppeln, auf anderer (Landes)Ebene verbindlich zu regeln und transparenter zu machen.
Wichtig ist uns, die ganze Bandbreite unserer Tätigkeitsfelder bekannter zu machen – neben den aufsuchenden Vorsorgeuntersuchungen in Kitas und Schulen und der sozialkompensatorischen Präventionsarbeit sowie gutachterlichen Stellungnahmen gehören Beratungen für Familien (besonders aus sozial benachteiligtem Milieu/Migrationshintergrund), Mütter, Schwangere und Menschen mit Handicap zu unseren Aufgaben. Zunehmend sind wir als Kooperationspartner in Netzwerken gefragt, zum Beispiel im Netzwerk Frühe Hilfen.
Das Thema Gesundheitsförderung und Prävention muss auch größer gedacht werden. Ein mit Blick auf die Demografie viel stärker zu fokussierendes Thema ist die Verbesserung der Mundgesundheit bei Seniorinnen und Senioren sowie bei Pflegebedürftigen. Ihre Versorgung nicht nur in Pflegeeinrichtungen, sondern vor allem im häuslichen Umfeld stellt eine große Herausforderung für die Zahnmedizin dar, zukünftig wird diese noch größer werden. Schulungen und Beratungen zum Erhalt und der Verbesserung der Mundgesundheit nicht nur für Pflegepersonal, sondern auch für pflegende Angehörige könnten zukünftig eine wichtige Aufgabe für den ÖGD darstellen – natürlich wäre dies alles nur denkbar bei entsprechender ausreichender und finanzierter Personaldecke.
Das Gespräch führte Gabriele Prchala.