Meine Wahrheit, deine Wahrheit
In einem großen Bogen umspannte Pörksen, Universität Tübingen, beim traditionellen Festvortrag der Karlsruher Akademie für Zahnärztliche Fortbildung am 27. September die Reflexionsgebiete "Wahrnehmung - Wirklichkeit - Wahrheit".
Anleitung zum Andersdenken
Wie kann aus kleinen und großen Kämpfen um das Rechthaben, um den Anspruch, die einzig allgemeingültige Wahrheit zu besitzen, ein wechselseitiges Verstehen und Verständnis werden? Das fragte der Forscher und gab in einer fulminanten Rede eine Anleitung zum Andersdenken, das gerade zu immer neuen Sichtweisen und einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Dogmen inspiriert.
Menschen sind Pörksen zufolge in der Lage, sogenannte Wahrheitsillusionen zu entwickeln, die sie unfähig und blind machen gegenüber anderen Wahrnehmungen - also denen ihrer Mitmenschen. Das in der Medizin als Anton-Syndrom bekannte Phänomen bewirke, dass beispielsweise tatsächlich Erblindete ihr Blindsein leugnen und sich so verhalten, als könnten sie sehen. Wenn sie Dinge beschreiben, täten sie das in der Regel sehr lebhaft und (gegebenenfalls) aus ihrer Erinnerung heraus.
Blind gegenüber der Wahrheit
Angebunden an die Medizin bedeutet das für Pörksen, dass Individuen auch im gesellschaftlichen Kontext und als soziale Wesen etwas für wahr erachten können, was der Wirklichkeit gegenüber zwar nicht standhält, vom Betroffenen jedoch als absolut wahr erachtet wird.
Verschiedenenste Voraussetzungen unterstützen diese Wahrheitsillusionen. So begünstige etwa der Glaube an Autoritäten und Expertentum, die an die Stelle der eigenen Überzeugungen, der eigenen Intuition und Zweifel treten, dieses Phänomen.
Die Welt der inneren Dämonen
Dabei wirke ein Dämonisierungsprinzip, das Skepsis und Zweifel vertreibe und verteufele. Dies geschehe etwa in Sekten oder totalitären Kulturen mit streng hierarchischen Strukturen. Im Ergebnis liegen die "Erblindungsursachen“ laut Pörksen in der Natur des Menschen, ihre Wirkungsweise entfaltet sich, wenn man der eigenen, subjektiven Wahrheit den Anschein des Allgemeingültigen gibt.
Abschied vom Prinzipiellen
"Was wir aber brauchen, ist der Abschied vom Prinzipiellen, das Ende des Anspruchs, meine Wirklichkeit sei die Wahrheit aller“, so der Forscher. Um dem eigenen Erblinden zu entgehen, müsse man immer die Möglichkeit des Andersseins mitdenken und in Betracht ziehen, es könnte auch ganz anders sein. Pörksen: "Es kommt auf jede subjektive Sicht an, es kommt auf jeden Einzelnen an, der den Mund aufmacht.“
Der Gastredner
Prof. Dr. Bernhard Pörksen wurde mit 33 Jahren auf eine Professur für Journalistik und Kommunikationswissenschaften an der Universität Hamburg berufen; aktuell hat er einen Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen. Zudem hat er zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher veröffentlicht, die aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen reflektieren (wie etwa „Die Casting Gesellschaft“, 2010).
Zum Karlsruher Vortrag
Seit 1983 lädt die Karlsruher Akademie zum "Karlsruher Vortrag" ein. Preisträger sind Persönlichkeiten, "die durch ihr Lebensbeispiel zur Ausprägung gemeinsamer Werteüberzeugungen beitragen und beigetragen haben“, so die Akademie. Namhafte Vorgänger Pörksens waren unter anderem der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx (2010), der ehemalige Präsident des deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse (2002), oder der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, München, Anthroposoph und Dirigent Dr. Peter von Siemens (1983).