Mini-Implantate: Klein, aber oho?
Sie sind nur wenige Millimeter dünn und regen doch breite Debatten in der Fachwelt an: Einteilige Implantatsysteme mit einem reduzierten Durchmesser von in der Regel 1,8 bis 2,4, höchstens jedoch drei Millimetern, gibt es in den USA schon seit den 1970er Jahren.
Minis: Anfangs nur temporär im Einsatz
„Bis Mitte der 90er Jahre bestand ihr primärer Verwendungszweck in der temporären Fixierung von provisorischem Zahnersatz während der Einheilphase konventioneller Implantate“, erklärt Privatdozent Dr. Friedhelm Heinemann, Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik, Alterszahnheilkunde und medizinische Werkstoffkunde am Universitätsklinikum Greifswald.
Doch die Entwicklung der einteiligen Titanschrauben, die in der Regel minimalinvasiv in den Knochen eingebracht werden und sofort belastbar sind, ist seither rasant fortgeschritten. Schon 1997 gab die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA das erste Mini-Implantat für langfristigen Einsatz frei, das MDI-System von Imtec (heute 3M Espe).
Seitdem werden Mini-Implantate mit bereits integrierten, konfektionierten Aufbauten auch in Europa nicht mehr nur zur Fixierung von Total- und Teilprothesen eingesetzt, sondern kommen in bestimmten Fällen auch für festen Einzelzahnersatz infrage und zur Verankerung von festsitzendem Zahnersatz bei beschränktem Platzangebot sowie zur Regulierung von Zahnfehlstellungen in der Kieferorthopädie.
Alte Hüte für ältere Damen (und Herren)
„Mini-Implantate sind alte Hüte, wenn man etwa an die Nadelstraßen denkt“, sagt daher auch Prof. Dr. Dr. Wilfried Wagner, Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Mainz. „Einteilig und mit beschränkter Indikation“, fasst er die Nachteile zusammen. „Sie sind eine Option für diejenigen Patienten, die sonst ein Knochenimplantat bräuchten, um eine herausnehmbare Prothese zu stützen. Wenn beispielsweise eine alte Dame zu mir kommt, bei der man keine Augmentation mehr machen kann, kann ich ihren Zahnersatz mit vier Kugelköpfen und Gummiringen stützen und die Patientin ist glücklich“, erzählt Wagner.
Damit spielt er an auf die Kugelköpfe der einteiligen Implantate, über die ein Gummiring gleitet, der sich in einem Metallgehäuse in der Totalprothese befindet. Mittels vier solcher Stützen kann die Prothese im Unterkiefer, mit sechs im Oberkiefer befestigt werden.
Zum Durchbruch verhalf den durch die Schleimhaut einsetzbaren Small Diameter Implants (SDIs) auch der Trend hin zu weniger invasiven Verfahren und der größere Bedarf an Teil- und Totalprothesen, unter anderem bedingt durch die demografische Entwicklung: „Zahnärzte stehen vor der Herausforderung eine wachsende Zahl älterer Patienten zu behandeln, die deutlich höhere Ansprüche an ihre Lebensqualität als die gleiche Altersgruppe vor 20 Jahren haben“, erklärt Heinemann. „Außerdem verlieren sie ihre Zähne heute sehr viel später als früher und so gewöhnen sich viele Patienten nur sehr schlecht oder gar nicht an Totalprothesen oder große Teilprothesen mit geringer oder ungünstig verteilter Restbezahnung.“
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Eine implantologische Nische?
Also besteht bei älteren Menschen der Wunsch nach besser sitzendem Zahnersatz. Gleichzeitig jedoch scheuen sie chirurgische Eingriffe und haben zudem häufig stark atrophierte Kiefer. „Somit scheiden konventionelle Implantattherapien für diese Patientengruppe oftmals aus, auch, da das Knochenlager für reguläre Implantate ohne zusätzliche Augmentationsmaßnahmen bereits zu stark resorbiert ist“, sagt der Experte.
Aus diesen Gründen haben Kleinst-Implantate zwar durch ihren geringen Durchmesser ein relativ eingeschränktes Einsatzgebiet; gleichzeitig jedoch erweitern sie den Kreis der Patienten, die überhaupt Zugang zur implantologischen Behandlung bekommen - zum Leidwesen so manches erfahrenen Implantologen.
Skeptisch äußert sich beispielsweise Dr. Karl-Ludwig Ackermann aus Filderstadt, Zahnarzt, Oralchirurg und implantologisch tätig: „Mini-Implantate stellen eher eine implantologische Nische dar“, betont er, etwa als Option für sehr alte Patienten, bei denen sich Augmentationen als schwierig oder gar unmöglich erweisen sowie für multimorbide oder wenig belastbare Patienten.“
Zumindest sei es jedoch essenziell für implantologisch tätige Zahnärzte, wesentliche Aspekte, die eine Therapiesicherheit garantieren, vor der Entscheidung für ein Miniimplantat zu erörtern, etwa die anatomischen Voraussetzungen, die Art und Dimension der Gegenbezahnung beziehungsweise prothetischen Versorgung oder auch das Alter der Patienten. „Bei einem noch jungen Patienten unter 50 Jahren muss man sich fragen, ob wirklich verantwortlich Mini-Implantate gesetzt werden sollten“, betont Ackermann.
Fester Halt oder wacklige Angelegenheit?
Namhafte Implantathersteller wie Straumann oder Camlog führen keine klassischen Mini-Implantate mit Durchmessern unter drei Millimetern. Vielmehr werden sie von Nischenanbietern wie M&K dental oder Spezialunternehmen wie JMP dental, Clinical House Europe, Dentegris, Hi-Tec Implants oder B.T.I. Biotechnology Instute angeboten. Aber auch größere Dentalfirmen wie Bego Implant Systems, Gebr. Brasseler oder 3M Espe führen eine „Mini-Linie“. „Schonende Behandlung und fester Halt“ - so propagiert 3M Espe deren Vorzüge. Das Dentalunternehmen des 3M-Konzerns stellt seit Ende der 90er Jahre SDIs her. Seit kurzem werden die Minis auch zur Stabilisierung von Teilprothesen genutzt. Ein Planungsschema hierzu hat 3M Espe gemeinsam mit der Universität Greifswald entwickelt [siehe Abbildung]. Auch Bego Implant Systems vermarktet seit 2008 zweiteiligen Mini-Schrauben und bietet seit 2013 zum Preis von 35 Euro auch ein provisorisches Mini-Implantat an.
„Für schmale und atrophierte Kiefer sowie für Prothesenträger oder in schmalen Lücken im seitlichen Frontzahnbereich können sie hilfreich sein“, sagt Dr. Philip Streckbein, der zusammen mit seinem Vater Dr. Dr. Roland Streckbein eine implantologische Praxis in Limburg führt und seit 2008 auch Mini-Implantate einsetzt.
Aufgrund des einfacheren Aufbaus und die dadurch niedrigeren Produktionskosten sind Mini-Implantate allgemein kostengünstiger als herkömmliche Implantate mit Abutment. Die Materialkosten eines Miniimplantats belaufen sich auf rund 100 Euro. Zudem seien die Minis „schnell gesetzt“ und zeigen „auch bei Langzeitbelastung gute bis sehr gute Ergebnisse“ – so ist es auf der Internetseite www.implantate.com zu lesen, die Dr. Dr. Bijan Zahedi, Zahnart mit Tätigkeitsschwerpunkt Implantologie aus Ratingen, betreibt. Diese Vorzüge klingen wie Musik in den Ohren von Patienten, die zwar ihre Kaufunktion bewahren oder wiederherstellen möchten, jedoch Kosten, Schmerzen und zumindest kurzzeitige Einschränkungen befürchten.
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Push-Marketing erhöht die Fehlerquote
Genau darin läge das Dilemma der Mini-Implantate, sagt Ackermann. „Die Hersteller bieten sie an, weil sie einen Markt sehen, der ihre Verkaufszahlen verbessert. Im Sinne eines Push-Marketings der Industrie sollen Mini-Implantate in die Zahnarztpraxis gelangen“, kritisiert der Implantologe. „Die Fehlerquote wird steigen und die Implantologie zum wiederholten Male diskreditieren - und die Behandler auch“, mahnt er.
Der Trend gehe dahin über kurze oder schmale Implantate einen Knochenaufbau zu vermeiden. Auch setzen eventuell in der Implantologie weniger erfahrene Zahnärzte die vermeintlich leichter zu implantierenden Mini-Schrauben.
„Ich bin ein relativ konsequenter Kritiker von kurzen oder schmalen Implantaten oder auch von weniger Implantaten. Je schlechter die Mundsituation, desto mehr muss ich tun, um Probleme gering zu halten. Denn was habe ich von einer kurzzeitigen Befriedigung? Nutzen sehe ich bei alten sowie multimorbiden und wenig belastbaren Patienten, jedoch eher als passagere Hilfe, um Zahnersatz zu stabilisieren“, fügt Ackermann an, der seit 1980 deutlich mehr als 10.000 Implantate in eigener Praxis gesetzt und prothetisch versorgt hat.
Auch Wagner stuft einige der „Protagonisten“ in der Miniimplantat-Szene als „aggressiv“ ein. Die Tendenz gehe allgemein durchaus zu immer dünneren und auch kürzeren Implantaten hin. „Augmentation vermeiden - so lautet der große Trend, auch wenn in einigen Indikationen eine Augmentation die sachgerechtere Therapie wäre“, moniert er.
Der Knochen oder das Implantat – wer passt sich wem an?
Anders sieht das Heinemann: „Man kann einen klaren Trend beobachten, die Implantatgeometrie dem vorhandenen Knochenangebot anzupassen, und nicht umgekehrt.“ Zunehmend, sagt er, werden dünnere und kürzere Implantate eingesetzt. Allerdings seien dabei wichtige Indikationseinschränkungen zu beachten, die teilweise sogar von den Herstellern vorgegeben werden. Mittlerweile beschreibt eine Vielzahl von retrospektiven Studien Anwendungsspektrum, Zuverlässigkeit und Grenzen für längen- und durchmesserreduzierte Implantate.
„Mini-Implantate sind aber nicht für jeden Patienten und jede Indikation geeignet“, sagt Heinemann. Daher sei die sorgfältige und kritische Patientenauswahl ein Schlüssel zum Erfolg. Wichtig sei auch, die Mini-Implantate nicht als Ersatz für konventionelle Implantate, sondern als Ergänzung des Therapiespektrums zu verstehen. „Daher empfinde ich es als wichtige Aufgabe sich als Zahnarzt mit den Möglichkeiten und dem Nutzen, aber auch mit den Indikationsbeschränkungen der Mini-Implantate zu beschäftigen Deren Anteil beläuft sich bei Heinemanns mittlerweile auf rund 15 bis 20 Prozent seiner jährlich inserierten etwa 800 Implantate, Tendenz steigend.
Wagner sieht für die Mini-Schrauben allenfalls eine „Nischen-Indikation. Ist ausreichend Knochen vorhanden, kann ich auch ein flexibleres Standard-Implantat einsetzen. Nur bei schmalen, spitzen Kieferdämmen haben die Mini-Implantate Vorteile - also in Situationen, in denen man ansonsten augmentieren würde“, erklärt der Experte aus Mainz. Im zahnlosen Unterkiefer stuft er die Prognose der Minis als „gut“ ein. „Im Oberkiefer sinken die Erfolgsquoten erheblich“, fügt er an.
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Minimalinvasiv ist nicht gleich minimaler Aufwand
Ebenso wie die Patientenauswahl bietet auch die minimalinvasive Insertionstechnik Fallstricke, weiß Heinemann: „Es muss sichergestellt werden, dass das Implantat im Knochen steht und nicht teilweise daneben oder sogar perforiert“, mahnt er, etwa mittels präoperativer Diagnostik und 3-D-Planung. Zudem müsse der „Implanteur“ immer in der Lage sein, „im Zweifelsfall aufklappen zu können“.
Nachteile der Minis befürchtet Heinemann in erster Linie aus einer unkritischen Anwendung der vermeintlich einfacher einzusetzenden Systeme. „Es wäre ein schlimmer Fehler ohne entsprechende implantologische Ausbildung und Vorkenntnisse mit Minis zu starten“, warnt er. Insbesondere die mechanischen Grenzen fordern aufgrund des geringen Durchmessers der SDIs besondere prothetische Konzepte. Ebenso warnt Wagner vor der vermeintlich leichteren Insertion.
„So mancher glaubt, man kann die dünnen Schrauben sozusagen blind durch die Schleimhaut in den geringen Knochen drehen. Dann besteht jedoch die Gefahr, dass sie nicht richtig im Knochen sondern vestibulär oder lingual des Kieferkamms stehen“, erklärt er. Streckbein sieht die Zielgruppe der Minis aktuell auch noch eher bei den Spezialisten: „Mini-Implantate sollten nicht die ersten Implantate sein, die ein Zahnarzt einsetzt“, sagt er.
"Akzeptable" Überlebensraten
Seit ihrer Einführung haben zahlreiche wissenschaftliche Studien die klinische Eignung der Mini-Implantate überprüft. 2014 haben Dr. Thorsten Mund und Kollegen von der Universität Greifswald in einer Verlustanalyse von Mini-Implantaten zur Fixierung von Totalprothesen über vier Jahre „akzeptable“ Überlebensraten in beiden Kiefern festgestellt, „mit einem Trend zu mehr Verlusten im Seitenzahnbereich und von kürzeren Implantaten“ [1]. Im anterioren Oberkiefer betrug die Vierjahres-Überlebensrate 95,4 Prozent, im posterioren Oberkiefer 91,8 Prozent, im anterioren Unterkiefer 97,0 Prozent und im posterioren Unterkiefer 91,1 Prozent.
Auch andere Studien bestätigten den Minis im Vergleich mit konventionellen Implantaten ähnliche Erfolgsraten zur Verankerung von Totalprothesen. Prof. Dr. Jocelyne Feine von der kanadischen McGill-University hat in mehreren Studien gezeigt, dass die Prothesenverankerung durch Mini-Implantate für ältere Patienten eine sinnvolle Alternative darstellt [2].
Die Mehrheit der veröffentlichten Publikationen, sagt Heinemann, bescheinigen Mini-Implantaten Erfolg als Therapieoption für ein bestimmtes Klientel, vor allem Ältere und anamnestisch vorbelastete Patienten, „wenn sie von erfahrenen Implantologen verwendet werden.“
2013 wurden SDIs erstmals in der Konsensuskonferenz des International Team for Implantology (ITI) als mögliche Therapieform für bestimmte Patientenfälle ausgewiesen und akzeptiert. „Das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen und zeigt, dass man Mini-Implantate heute als festen Bestandteil des implantologischen Behandlungsspektrums betrachten kann“, sagt Heinemann.
[1] Mundt T, et al: Dtsch Zahnärztl Z 2014; 69: 262-270[2] Sohrabi K, et al: Clin Oral Implants Res. 2012; 23(5): 515-25