Modekrankheit oder medizinisches Problem?
Die zuverlässige Diagnostik von Krankheiten ist der Ausgangspunkt für eine zielgerichtete Therapie. Patienten sollten in ihrem eigenen Interesse nur dann behandelt werden, wenn eine Erkrankung tatsächlich vorliegt und es Therapien gibt, die die Krankheit verhindern, heilen oder Symptome lindern.
Drahtseilakt zwischen überflüssiger Medikalisierung und notwendiger Therapie
Doch was überhaupt als Krankheit betrachtet und behandelt wird, hängt nicht immer nur von medizinischen Fakten ab. Auch kulturelle und wirtschaftliche Faktoren können eine Rolle dabei spielen, und manche Krankheiten geraten dadurch geradezu in Mode.
Dass die Geschichte der westlichen Medizin reich an „Modekrankheiten“ sei, die nicht nur unter Ärzten, sondern auch in der Bevölkerung bereitwillig aufgenommen werden, stellte Michael Stolberg von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg in seinem Referat über Krankheitsmoden im Wandel der Zeiten sehr anschaulich dar. Sie seien in Indiz dafür, dass die Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung von Krankheit stets auch vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext geprägt ist.
Erfundene Leiden
Das Stichwort Disease-Mongering (Krankheitserfindung, eine Spezialform der Pathologisierung) griff Gisela Schott von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in ihrem Referat auf. Sie kritisierte, dass normale Prozesse des Lebens als medizinisches Problem definiert, neue Krankheitsbilder durch Werbemaßnahmen geradezu erfunden, leichte Symptome zu Vorboten schwerer Leiden stilisiert und Risiken als Krankheit verkauft würden.
Dies habe unter anderem zur Folge, dass die Betroffenen im Rahmen einer Medikation einem unnötigen Risiko ausgesetzt sind und gleichzeitig Ressourcen des Gesundheitssystems verschwendet werden. Die Politik sieht sie in der Pflicht, die Werbung für Arzneimittel strenger zu regulieren und verstärkt die unabhängige Forschung zu fördern. Aber auch die Bürger müssten sich aktiv informieren.
Über die Ausweitung des Krankheitsbegriffs
Thomas Schramme von der Universität Hamburg, der sich den normativen Fragen zum Umgang mit Krankheitsmoden widmete, beklagte die drohende Ausweitung des Krankheitsbegriffs. Es werde nicht unterschieden zwischen der Abwesenheit von Krankheit als Mindestkriterium für die Gesundheit (negativer Gesundheit) und der idealtypischen bestmöglichen Gesundheitsdisposition (positiver Gesundheit).
Hier gelte es, begriffliche Klarheit zu schaffen und zwischen tatsächlich pathologischen Phänomenen und medizinisch normalen Zuständen zu differenzieren. Er stellte zudem die Funktion des Krankheitsbegriffs für die Entscheidung über die solidarische Finanzierung von Therapie infrage.
In der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Jörg Blech vom Magazin "Der Spiegel", Lothar Weissbach von der Stiftung Männergesundheit, Boris Quednow von der Universität Zürich und Christiane Fischer von der Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte MEZIS mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates Wolf-Michael Catenhusen, welche Folgen die Beschreibung immer neuer Krankheitsbilder hat.
Das Leiden als Industrieprodukt
Eine Orientierung von Behandlungsentscheidungen an bloßen Laborwerten führt laut Weissbach dazu, dass aus zuvor gesunden Menschen behandlungspflichtige Patienten gemacht werden, ein grenzwertiger Befund zum „Überbefund“ wird, der eine Überdiagnose und Übertherapie nach sich zieht.
Quednow warnte vor Krankheitsmoden in der Psychiatrie, die im Fall von Burnout dazu führen könnten, dass einerseits eigentlich gesunde Menschen unnötig behandelt werden, andererseits aber das Risiko besteht, dass Menschen, die an einer schweren Depression leiden, eine falsche Diagnose bekommen. Als Verantwortliche machten Blech und Fischer Pharmaunternehmen, medizinische Interessenverbände und PR-Agenturen aus, die ihnen zufolge neue Leiden erfinden und zum Industrieprodukt machen.
Statt maximaler Versorgung unabhängig von der Ausprägung eines Krankheitsbildes sollten sich Ärzte in der „Kunst des Weglassens“ üben, sagte Weissbach, und dabei mitunter von einer Therapie abraten, auch wenn sie damit keine honorierte ärztliche Leistung im Sinne der Krankenkasse erbringen.