Einsichten in ein förderales System

Mundgesundheit in Kanada

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Kanada hinkt hinterher, wenn es um die Bereitstellung öffentlicher Gelder für die zahnärztliche Versorgung geht: Das Land steht im OECD-Vergleich ganz unten. Der von der Regierung eingebrachte Canadian Dental Care Plan könnte das jetzt ändern.

In den 22 europäischen Ländern, für die im Jahr 2019 Daten verfügbar waren, stemmte die öffentliche Hand durchschnittlich 31 Prozent der Gesamtausgaben für die zahnmedizinische Versorgung. Im Vergleich dazu lag der Anteil in Kanada bei 6 Prozent. Pro Kopf sind das etwa 10,60 Euro. Nur in Mexiko, Griechenland, Israel und Spanien gibt der der Staat aktuell weniger für die Zahngesundheit aus, wie eine Auswertung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt (siehe Abbildung).

„Gerade vulnerable Gruppen haben Schwierigkeiten beim Zugang zu regelmäßiger zahnärztlicher Versorgung", bilanzieren Wissenschaftler aus Toronto in einer neuen Studie und nennen in dem Zusammenhang nicht weniger als: Kinder, pflegebedürftige Senioren, Menschen mit indigenem Background, neue Einwanderer mit Flüchtlingsstatus, Menschen mit Behinderung und alle, die wenig Geld haben.

Das Selbstzahlermodell hat sich nicht bewährt

Für all diese Kanadier könnte sich das Blatt jetzt wenden, denn die New Democratic Party will die liberale Minderheitsregierung von Justin Trudeau künftig in Abstimmungen unterstützen, sofern jene zu Eingeständnissen bereit ist. Eine dieser Bedingungen: die öffentliche Finanzierung der Zahnpflege.

In ihrem Haushalt für 2023 stellte die kanadische Regierung daher 13 Milliarden Dollar über einen Zeitraum von fünf Jahren und fortlaufend 4,4 Milliarden US-Dollar bereit, um die zahnärztliche Versorgung von armen Familien ohne Zahnversicherung sicherzustellen. Umfragen zufolge unterstützen zwei Drittel der Kanadier den Vorstoß, aber weniger als die Hälfte würden noch mitgehen, wenn damit Steuererhöhungen verbunden wären.

Hohe Gesundheitsausgaben, aber keine gerechte Versorgung

  • Kanada ist das zweitgrößte Land der Erde. Auf den 9,98 Millionen Quadratkilometern leben aber nur rund 38 Millionen Menschen.

  • Während in Städten wie Vancouver, Montreal und Toronto vermehrt Menschen mit europäischen Wurzeln wohnen, ist über die Hälfte der indigenen Bevölkerung in Reservaten (40 Prozent) und auf dem Land (14 Prozent) zu Hause. Stark besiedelt sind die südöstlichen Provinzen Ontario (14,7 Millionen) und Quebec (8,6 Millionen) und das Land entlang der Grenze zu den USA.

  • Die gesundheitliche Infrastruktur ist auf dem Land viel schlechter als in der Stadt, die Lebenserwartung auch, das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko höher. Krankheiten wie Depressionen, Bluthochdruck oder Rheuma treten hier ebenfalls häufiger auf.

  • Die Gesundheitsversorgung erfolgt vor allem über Kliniken und private Praxen. Für Facharztbesuche benötigt man eine Überweisung.

  • Auf 1.000 Einwohner kommen in Kanada nur 2,7 Ärzte und 0,65 Zahnärzte, die überdies im Land sehr ungleich verteilt sind. In Deutschland sind es 4,5 beziehungsweise 0,85.

  • Mit 5.370 US-Dollar pro Kopf und einem Anteil von 10,8 Prozent am BIP zählt Kanada zu den Ländern mit überdurchschnittlich hohen Gesundheitsausgaben. Die Kosten pro Kopf liegen damit 2.000 US-Dollar über dem Durchschnitt aller OECD-Staaten.

  • Zwischen Januar 2016 und September 2018 sind 10.337 Kanadier an einer Opioid-bedingten Überdosis gestorben.

Bereits im Oktober 2022 hatte die Politik ein zweijähriges Übergangsprogramm gestartet: den Canada Dental Benefit, eine antragsbasierte Geldleistung für Kinder aus Haushalten mit einem Nettoeinkommen von weniger als 90.000 US-Dollar. Haben Familien weniger als 70.000 US-Dollar zur Verfügung, erhalten sie bis zu 650 US-Dollar pro Kind für zahnärztliche Maßnahmen, verdienen sie bis zu 90.000 US-Dollar, bekommen sie maximal 260 US-Dollar – steuerfrei.

Das Programm wurde Ende 2022 zunächst auf Kinder unter zwölf Jahren ausgeweitet; Kinder unter 18 Jahren, Senioren und Menschen mit Behinderungen sind ab 2023 versichert; Ende 2025 alle Familien unterhalb jener Einkommensgrenze. Zudem hat sich die Regierung verpflichtet, ab 2025 über einen Zeitraum von drei Jahren weitere 250 Millionen Dollar für die Zahnmedizin bereitzustellen: Über einen Fonds will sie gezielt in Programme investieren, die die Lücken in der Mundgesundheit schließen und Zugangsprobleme zur Versorgung bei vulnerablen Bevölkerungsgruppen beheben, insbesondere für Menschen, die in ländlichen und abgelegenen Gemeinden leben.

Orale Gesundheit ist teuer

Wie dramatisch die Lage ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Mehr als jeder fünfte Kanadier (22,4 Prozent) geht aus Kostengründen nicht zum Zahnarzt, wie das Institute for Research on Public Policy (IRPP) aus Montreal anhand offizieller Statistiken von 2019 belegt. Sobald sie in Rente gehen, reduzieren die Menschen ihre Zahnarztbesuche sogar noch weiter, weil dann der Versicherungsschutz über den Arbeitgeber wegfällt.

Dass die öffentliche Zahnpflege kein Mandat hat, hat die Ungleichheit in Sachen Mundgesundheit in den vergangenen 40 Jahren noch verschärft. So liegt die Prävalenz frühkindlicher Karies bei drei- bis fünfjährigen indigenen Kindern bei 85 Prozent. Einkommensbedingte Unterschiede in der selbstberichteten Mundgesundheit bestehen in allen Altersgruppen und Geschlechtern, wobei 20- bis 64-Jährige das größte Ausmaß der Ungleichheit erleben.

Da nur bestimmte in Krankenhäusern zu erbringende chirurgisch-zahnärztliche Leistungen überhaupt durch die Versicherung abgedeckt sind, wenden sich Menschen mit wenig Geld selbst für eine Standardzahnbehandlung zumeist an Arztpraxen oder Notaufnahmen. Dort landen sie natürlich auch, wenn unbehandelte orale Erkrankungen zu Atemwegsbeeinträchtigungen, Endokarditis oder Halsabszessen geführt haben. Karies ist übrigens in Kanada der häufigste Grund für einen chirurgischen Eingriff unter Vollnarkose bei Kindern im Alter von ein bis fünf Jahren – mehr als infolge von Ohr- oder Mandelentzündungen.

Tatsächlich gab es in Alberta von 2011 bis 2016 mehr Besuche in der Notaufnahme aufgrund von Zahnproblemen als wegen Asthma und Diabetes, und in British Columbia wurden 70 Prozent dieser Besuche als nicht dringend eingestuft. Allein in Ontario wurden 2014 fast 61.000 Behandlungen in Notaufnahmen wegen Mundgesundheitsproblemen durchgeführt, was geschätzte Kosten von mindestens 31 Millionen US-Dollar verursacht hat.

Eine Versicherung löst nicht alle Probleme

Dennoch löse ein Versicherungsschutz nicht automatisch alle Probleme, gibt Colleen M. Flood vom IRPP zu bedenken. So ist in Québec die Zahl der Notaufnahmefälle bei Zahnerkrankungen – insbesondere Karies – von 2004 bis 2013 nach oben gegangen, obwohl es dort eine staatlich finanzierte zahnärztliche Versorgung für Kinder unter zehn Jahren gibt. Zurückzuführen sei der Anstieg teilweise auf mangelnde Kenntnisse über die Mundgesundheit, eine „abwartende“ Haltung und Laiendiagnosen seitens der Eltern, berichtet das Team um Flood.

Insgesamt zeige die alarmierende Häufigkeit von Besuchen in der Notaufnahme wegen Mundgesundheitsproblemen, insbesondere bei Kindern, Einwanderern, Geflüchteten, Obdachlosen und indigenen Bevölkerungsgruppen, wie groß die Hindernisse beim Zugang zur zahnärztlichen Versorgung für marginalisierte Gruppen sind.

Zum Zahnarzt geht, wer es sich leisten kann

In Kanada sind die Provinz- und Territorialregierungen für die Verwaltung, Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdiensten für die Bevölkerung verantwortlich. Der Bund legt im „Canada Health Act“ (CHA) lediglich die Rahmenbedingungen für das Gesundheitssystem fest. Diese Aufgabenteilung führt dazu, dass Kanada 13 provinzielle/territoriale Krankenversicherungspläne hat. Das kanadische Gesundheitssystem „Medicare“ ist staatlich finanziert, bezahlt aber nur medizinisch notwendige Krankenhaus- und Arztleistungen. Der CHA verlangt daher von den Provinzen und Territorien keine Kostenübernahme für zahnärztliche Behandlungen, mit Ausnahme von chirurgischen Leistungen, die in Krankenhäusern erbracht werden – zum Beispiel die Extraktion eines infizierten Zahnes bei einem Krebspatienten. Aber diese Fälle kommen relativ selten vor. Der sehr begrenzte öffentliche Schutz wird in der Regel auch nur Sozialhilfeempfängern, Senioren und Kanadiern mit niedrigem Einkommen gewährt. Die meisten zahnärztlichen Leistungen werden daher über eine Privatversicherung abgedeckt oder/und aus eigener Tasche bezahlt. Oder aber man verzichtet ganz auf zahnmedizinische Pflege.

Wie eine Kfz-Versicherung, die den Ölwechsel bezahlt, aber bei Unfällen nicht einspringt

Offiziellen Schätzungen zufolge hatte 2020 ein Drittel (32 Prozent) der Kanadier überhaupt keinen Zahnversicherungsschutz. Die restlichen zwei Drittel waren zu 76 Prozent über ihren Arbeitgeber versichert, der eine Steuererleichterung für seinen Beitrag zur Prämie erhält. Experten zufolge ist der Begriff „Versicherung“ allerdings irreführend, da nur die routinemäßige Pflege abgesichert wird, während die jährlichen Deckungsgrenzen von in der Regel 2.000 US-Dollar nur wenig Schutz bieten, wenn es um kostenintensive Verfahren wie restaurative Leistungen geht. Dies sei vergleichbar mit einer Kfz-Versicherung, die die regelmäßigen Wartungsarbeiten und Ölwechsel bezahlt, aber bei Unfällen nicht einspringt, kritisieren sie. Der Prozentsatz der Kanadier mit mittlerem Einkommen, die die Kosten als Hürde bei der Inanspruchnahme zahnärztlicher Leistungen sehen, sei demzufolge von 12,6 Prozent im Jahr 1996 auf 34,1 Prozent im Jahr 2009 gestiegen.

Vor dem Canadian Health Measures Survey (CHMS), der von 2007 bis 2009 auch die Mundgesundheitsdaten der Kanadier erhoben hat, wurden die einzigen klinischen Daten dazu 38 Jahre zuvor gemessen. Krankenhausunterlagen über Einweisungen im Zusammenhang mit Zahnerkrankungen sind aufgrund konkurrierender Codes und mangelnder Vertrautheit damit im Krankenhausumfeld häufig ungenau. Obwohl die Ungleichheiten im Bereich Oral Health weiter zugenommen haben, wird laut Fachleuten voraussichtlich weit über ein Jahrzehnt vergehen, bis wieder ein aktualisierter Überblick über die Mundgesundheit in Kanada vorliegt.

Dabei vergrößere die schlechte Verteilung der Zahnarztpraxen die Kluft hinsichtlich der Erreichbarkeit noch weiter, da die meisten Zahnärzte in Gegenden mit höherem Haushaltseinkommen praktizieren, kritisieren die Forscher vom IRPP: „Selbst diejenigen, die Anspruch auf eine der begrenzten öffentlichen Zahnversicherungen in Kanada haben, haben oftmals keinen Zugang zur zahnärztlichen Versorgung."

Zudem zögerten Zahnärzte – möglicherweise aufgrund der niedrigeren Gebühren der öffentlichen Kostenträger – besonders bedürftige Patienten wie Sozialhilfeempfänger anzunehmen. Es sei für sie schlichtweg unkomplizierter, Patienten mit höherem Einkommen mit einer privaten Zahnversicherung zu behandeln und abzurechnen. Bei den Patienten sei Scham oft ein Grund, sich nicht behandeln zu lassen: Aus Angst, wegen mangelhafter oraler Hygiene verurteilt zu werden, trauen sich viele nicht zum Zahnarzt. Einigen falle es auch schwer, sich eine Auszeit von der Arbeit, familiären Verpflichtungen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen zu nehmen. Im Übrigen mangele es vielleicht auch an der öffentlichen Wertschätzung für die Notwendigkeit zahnärztlicher Prävention, schreiben die Autoren.

Ohne die Überweisung an einen Zahnarzt zur fachkundigen Beurteilung und Behandlung werden Patienten den Forschern zufolge aber weiter Krankenhäuser oder Arztpraxen aufsuchen, was ihre Gesundheit weiter verschlechtert und das System zusätzlich belastet. Ein Paradebeispiel dafür sei unentdeckter oder verzögert erkannter Mundkrebs: Mehr als die Hälfte der von 2005 bis 2017 kumulierten Mundkrebsfälle in Alberta wurden im Stadium IV diagnostiziert, wobei die Überlebensraten bei indigenen und ländlichen Bevölkerungsgruppen am niedrigsten waren. Oder die Verschreibungspraxis von Opioiden: Patienten erhalten trotz der kanadischen Opioidkrise und ohne jede Diagnose nicht selten ein Opioidrezept gegen Zahnschmerzen.

Wie aber sollte die Regierung jetzt vorgehen? Das IRPP schlägt insbesondere vor, eine unabhängige Behörde einzusetzen, die von der Bundesregierung finanziert wird und an die die Provinzen ihre Kompetenzen abtreten, um verfassungsrechtliche Streitigkeiten zu vermeiden. „Eine zentrale Behörde könnte auch transparente Standards für den Versicherungsschutz in ganz Kanada festlegen und ein faires Verfahren zur Bestimmung des Leistungsumfangs schaffen", heißt es in dem Bericht. Diese Behörde würde auch die Zusammenarbeit mit der privaten Versicherung regeln, etwa indem sie Zusatzrechnungen und Upselling verbietet. „Unserer Ansicht nach sollte die Bundesregierung sowohl aus Gründen der Gerechtigkeit als auch der Effizienz das Ziel einer flächendeckenden zahnärztlichen Versorgung für einen Kernbestand an notwendigen Leistungen anstreben", bilanziert Flood.

Flood, C., Allin, S., Lazin, S., Marchildon, G., Oliver, P, & Quiñonez, C. (2023). Toward a Universal Dental Care Plan: Policy Options for Canada. IRPP Insight 46. Institute for Research on Public Policy

Levy, B.B., Goodman, J. & Eskander, A. Oral healthcare disparities in Canada: filling in the gaps. Can J Public Health 114, 139–145 (2023). doi.org/10.17269

irpp.org/research-studies/toward-a-universal-dental-care-plan-policy-options-for-canada/

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