Medizin

Nicht wer, sondern warum

nh/pm
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Falsche Diagnose, verwechselte Medikamente, vergessenes OP-Besteck in der Bauchhöhle: Über 14.600 Vorwürfe zu Behandlungsfehlern gingen im vergangenen Jahr bei den Krankenkassen ein. In jedem vierten Fall bestätigten die Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) den Verdacht der Patienten.

"Die Zahl der begutachteten Behandlungsvorwürfe ist anhaltend hoch", sagte Dr. Stefan Gronemeyer, Leitender Arzt und stellvertretender Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS). Im vergangenen Jahr haben mehr Patienten bei ihrer Krankenkasse einen Verdacht auf Behandlungsfehler geltend gemacht als in den Vorjahren. Die Zahl der entsprechenden Gutachten des stieg um gut 2.000 Fälle auf 14.663 an. 

In 3.796 Fällen erkannten die Gutachter einen Behandlungsfehler. Diese Zahl war im Vorjahr mit 3.687 Fällen nur unwesentlich geringer, teilte der MDK mit. 

Chirurgie: Sie umfasst die meisten Vorwürfe

Knapp zwei Drittel der Behandlungsfehlervorwürfe betrafen Behandlungen in Krankenhäusern. Ein Drittel bezogen sich auf Vorwürfe gegen einen niedergelassenen Arzt. Die meisten Vorwürfe drehten sich dabei um chirurgische Eingriffe. „Dies hat nach unserer Erfahrung damit zu tun, dass bei einem postoperativen Behandlungsverlauf, der nicht den Erwartungen entspricht, der Verdacht auf einen Behandlungsfehler nahe liegt, während Fehler bei der Medikation von Patienten oft nicht wahrgenommen werden“, erläutert Prof. Dr. Astrid Zobel, Leitende Ärztin des MDK Bayern.

Ein Beispiel dafür: die Situation eines ansonsten gesunden Patienten nach einem unfallbedingten Knochenbruch. "Wenn der Bettnachbar mit der gleichen Verletzung nach der Operation viel schnellere Fortschritte macht und der eigene Heilungsverlauf trotz identischem Trainingsprogramm verzögert ist, entsteht leicht der Verdacht, dass bei der Behandlung etwas schiefgelaufen sein könnte", erläutert Zobel.

Pflege: Hier passieren die meisten Fehler

Die höchste bestätigte Fehler-Quote findet sich jedoch nicht in der Chirurgie: Am häufigsten wurde nach der MDK-Auswertung ein Fehlervorwurf in der Pflege bestätigt (57,8 Prozent von 590 Fällen), gefolgt von der Zahnmedizin (39,2 Prozent von 1.419 Fällen), der Allgemeinchirurgie (27,5 Prozent von 1.642 Fällen) sowie der Frauenheilkunde und Geburtshilfe (27 Prozent von 1.144 Fällen).

77 Prozent der festgestellten Fehler beruhen dabei darauf, dass eine indizierte Maßnahme entweder gar nicht oder falsch durchgeführt wurde, erläutert Dr. Max Skorning, Leiter Patientensicherheit MDS: "Weitere Fehler bestanden im Umsetzen einer falschen Maßnahme. Beispielsweise wurde ein Medikament verordnet, obwohl es aus medizinischer Sicht nicht sinnvoll war oder eine bekannte Allergie dagegen vorlag. Daneben gibt es Fälle in denen zwar eine korrekte Maßnahme eingeleitet wurden, aber zu spät."

„Die Zahlen der MDK-Gemeinschaft spiegeln jedoch nicht die Behandlungsqualität wider, da sie nicht die Gesamtzahl der Behandlungen und Behandlungsfehler repräsentieren", räumt MDS-Vize Gronemeyer ein. Es sei zudem von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, weil "Fehler zum einen nicht immer als solche zu Tage treten und somit weder für Patienten noch für Behandler erkennbar sind. Zum anderen sind Patienten vermutlich oft nicht in der Lage oder können sich nicht entschließen, einem Fehlerverdacht nachzugehen“, macht Zobel deutlich.

Falsches Bein operiert - ein Never Event

Daneben gebe es noch die "Never Events", erläutert Skorning. Dies sind Ereignisse, die einerseits folgenschwer und andererseits sehr gut vermeidbar sind. „Wenn zum Beispiel bei Operationen immer eine standardisierte OP-Checkliste genutzt wird, dann kann einfach verhindert werden, dass offensichtliche Probleme und bekannte Risiken im Einzelfall übersehen werden. Besteht eine solche Routine nicht, dann liegt es nahe, dass doch folgenschwere Fehler aufgrund von Verwechslungen oder Missverständnissen geschehen können." 2014 stellten die MDK-Gutachter bundesweit 209 „Never Events“ fest.

Die Frage ist nicht "wer", sondern "wo und warum"

„Auch bei größter Sorgfalt passieren Fehler im Krankenhaus, in der Arztpraxis und in der Pflege. Die Frage ist, wie kann den Geschädigten geholfen werden und was können wir tun, um künftig Fehler zu vermeiden?", fragt Gronemeyer. Es gehe dem MDK nicht so sehr um die Frage: Wer hat einen Fehler gemacht? Sondern: Wo ist der Fehler passiert? Was war das für ein Fehler und warum ist er passiert?

"Uns geht es um einen offenen Umgang mit Fehlern, damit die Patienten entschädigt werden. Zudem müssen die Fehler systematisch analysiert werden, damit sie in Zukunft vermieden werden können. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Umstände zum Fehler geführt haben", erläutert Gronemeyer.

Transparenz entstehe vor allem dadurch, dass Fehler landesweit erfasst und dokumentiert werden. In Ländern wie den USA, England oder Irland sind dazu sogenannte Behandlungsfehlerregister verbindlich vorgeschrieben. "In Deutschland gibt es derzeit keine übergreifende systematische Erfassung und Dokumentation von Behandlungsfehlern", erläutert Gronemeyer und spricht sich für ein solches System aus. "Mit einem Behandlungsfehlerregister könnte man im Idealfall auch feststellen, ob Maßnahmen zur Vermeidung von Fehlern in der Praxis tatsächlich erfolgreich sind."

Kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsproblem

"Es mangelt nicht an erprobten Maßnahmen zur Fehlervermeidung", sagt Gronemeyer, "Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsproblem. Anerkannte Maßnahmen wie OP-Checklisten, regelmäßige Notfall- und Teamtrainings oder das kritische Hinterfragen der Medikamente, die vor allem ältere Patienten oft gleichzeitig einnehmen und die manchmal gravierende unerwünschte Wirkungen haben, werden noch nicht systematisch und flächendeckend eingesetzt."

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) veröffentlicht jedes Jahr eine Statistik der häufigsten Behandlungsfehler auf Grundlage der erstellten Gutachten. Die Gutachter gehen dabei der Frage nach, ob die Behandlung nach dem anerkannten medizinischen Standard abgelaufen ist. Liegt ein Behandlungsfehler vor, wird außerdem geprüft, ob der Schaden, den der Patient erlitten hat, durch den Fehler verursacht worden ist.

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