Psychisch krank & stigmatisiert
Eine Ursache sehen die Forscher in der zunehmend biologisch geprägten Sicht auf diese Krankheiten. Künftige Informations- und Aufklärungsprogramme könnten hier ansetzen.
Würden Sie einen schizophrenen Nachbarn akzeptieren?
Hätten Sie Bedenken, einen Menschen mit Depression für einen Job zu empfehlen? Würden Sie einen Nachbarn akzeptieren, der unter Schizophrenie leidet? Das sind Fragen, die sich auch die Betroffenen selbst stellen. Die Angst davor, als verrückt oder gar gefährlich abgestempelt und sozial ausgegrenzt zu werden, kann psychisch kranke Menschen erheblich belasten. Auch aus diesem Grund sucht sich längst nicht jeder rechtzeitig Hilfe. Dass die Angst Betroffener vor Ablehnung nach wie vor nicht unberechtigt ist, haben die Forscher Matthias Angermeyer und Georg Schomerus nun in einem großen Langzeitvergleich festgestellt.
Zweimal, 1990 und 2011, legten sie je 3.000 Teilnehmern kurze Fallbeschreibungen vor, die den typischen Symptomen von Schizophrenie, Depression oder Alkoholabhängigkeit entsprachen. Anschließend wurde nach möglichen Ursachen, einer Empfehlung hinsichtlich Hilfe und Behandlung sowie nach der persönlichen Einstellung gegenüber der beschriebenen Person gefragt. Die auf dem internationalen Kongress für psychiatrische Epidemologie in Leipzig vorab präsentierten Ergebnisse sollen in Kürze in der Fachzeitschrift British Journal of Psychiatry veröffentlicht werden.
Trotz Fortschritt nicht rückläufig
"Seit unserer ersten Erhebung hat die Psychiatrie große Veränderungen durchlaufen", sagt Angermeyer. Mentale Störungen wurden in ihrer biologischen Basis besser verstanden und können heute in vielen Fällen wirksamer behandelt werden. Zugleich wurde die psychiatrische Hilfe stärker in den normalen medizinischen Betrieb integriert. "Viele hatten deshalb gehofft, dass auch die Stigmatisierung psychisch Kranker zurückgehen würde", sagt der Forscher. "Doch das ist leider nicht der Fall."
Zwar sei die Akzeptanz für psychiatrische Behandlung gestiegen. Doch auf die Haltung zu den Betroffenen habe sich dies nicht übertragen. Während sich bei der Einstellung zu Menschen mit Depression und Alkoholismus keine klare Veränderung feststellen ließ, reagierten die Teilnehmer im Jahr 2011 mit deutlich mehr Angst und Distanzierung auf Schizophrenie.
Einen Menschen mit dieser Krankheit als Nachbar oder Arbeitskollege zu haben, lehnten etwa 30 Prozent der Befragten ab, zehn Prozent mehr als bei der ersten Erhebung. "Es ist wichtig zu wissen, dass Schizophrenie durch Medikamentation und Psychotherapie inzwischen gut behandelbar ist", betont Georg Schomerus. "Allerdings suchen Betroffene, auch wegen der befürchteten Stigmatisierung, oft erst viel zu spät Hilfe."
Das Gefühl des Andersseins
Die Ergebnisse weisen auch auf Gründe für die negative Entwicklung hin. So waren die Befragten 2011 häufiger als 1990 der Meinung, dass Schizophrenie auf eine Erkrankung des Gehirns zurückgeführt werden könne. Äußere Faktoren, wie etwa belastende Erlebnisse in der Kindheit oder akuter Stress, wurden deutlich weniger in Betracht gezogen.
Weitere Analysen bestätigten, dass die Annahme von biologischen Ursachen bei Schizophrenie und Depression mit geringerer sozialer Akzeptanz für die Betroffenen verbunden war. "Gerade von der betont biologisch-medizinischen Darstellung psychischer Krankheiten hatte man sich bisher immer einen Rückgang des Stigmas versprochen.", sagt Schomerus.
Tatsächlich verstärkten biologische Krankheitsvorstellungen in der Allgemeinbevölkerung aber offenbar eher das Gefühl des "Andersseins" der Betroffenen. Auch die Auffassung, dass es eine klare Grenze zwischen psychisch gesund und krank gebe, gehe mit stigmatisierenden Einstellungen einher. Der Realität entspreche dagegen eher, dass es sich um ein Kontinuum handele.
Eine Grenze zwischen psychisch gesund und krank stigmatisiert
Künftige Informationskampagnen gegen Stigmatisierung sollten daher nach Ansicht der Forscher die multikausale Natur psychischer Erkrankungen stärker betonen. Auch die Botschaft, dass psychische Krankheit in vielen Fällen eher eine Frage des Schweregrades sei, könne hilfreich sein. Eine erhöhte Aufmerksamkeit für das zunehmend angstbesetzte Krankheitsbild der Schizophrenie erscheine dabei besonders geboten.