Sind die Briten mundgesund?
Die Studie untersucht an klinischen Daten auf Individualebene sowie sozioökonomischen Strukturdaten auf Kontextebene, in welcher Hinsicht es signifikante Unterschiede bei der Inanspruchnahme bestimmter zahnmedizinischer Behandlungen gibt.
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Verglichen wurden fünf konkrete Behandlungsanlässe (Zahnersatz, Anleitung und Beratung, Zahnreinigung, Zahnextraktion, Teilprothese). Es wurde jeweils untersucht, ob diese fünf Behandlungsprävalenzen in einem Vier-Jahreszeitraum in Anspruch genommen wurden.
Die Patienten wurden nach individuellen Merkmalen unterteilt (Alter, Geschlecht, Zahlungsbefreiung und Raucherstatus), außerdem nach dem Wohnort, konkret nach dem Wohlstandsniveau des Wohnortes (area level deprivation). Diese Information stammte aus einer externen Datenquelle und wurde mit dem klinischen Datensatz, der die Patientenadresse enthält, verknüpft.
Der Behandlungsbedarf wird gar nicht analysiert!
Im Ergebnis zeigt sich, dass die Patienten aus ärmeren Wohngegenden seltener Präventionsleistungen erhalten, dafür aber häufiger Zähne extrahiert bekommen. Dieser dentalsoziologische Befund ist nicht neu. Dass die (zahn-)medizinische Versorgung einem sozialen Gradienten unterliegt, kann in allen Gesundheitssystemen mehr oder weniger beobachtet werden, in staatlichen Gesundheitssystemen wie dem britischen NHS ebenso wie im deutschen System. Die Ergebnisse der DMS V verdeutlichen ebenfalls den sozialen Gradienten beim zahnärztlichen Inanspruchnahmemuster (siehe Tabellen 9-6, 9-12 und 9-17 für die jeweiligen Altersgruppen).
Die Studie des King's College London ist methodisch aufwendig inklusive multivariater Mehrebenen-Analyse, um einen Zusammenhang zwischen den erhaltenen Behandlungen und den individuellen und kontextuellen Charakteristika herzustellen.
Die Schlussfolgerung, dass "the study provides evidence of increasing treatment need with age, smoking, exemption from payment and deprivation status" ist für mich anhand der Studienergebnisse nicht nachvollziehbar. Der Behandlungsbedarf (treatment need) wird im Rahmen der Studie nämlich gar nicht analysiert, entsprechende Befunde also auch nicht einbezogen.
Man hat lediglich klinische Daten zur "manifesten Morbidität" der bekannten Patientenklientel, nicht aber zur "latenten Morbidität" der ansässigen Wohnbevölkerung. Insofern ist auch keine Aussage darüber möglich, was die unterschiedlichen Behandlungsprävalenzen kausal verursacht: Soziale Unterschiede in der Mundgesundheit? Barrieren und Filter im Zugang zum Versorgungssystem (access)? Oder beides?
Sauberer wäre die Erfassung des Sozialstatus auf Individualebene gewesen!
Alles in allem ist die Studie methodisch durchaus interessant, die Restriktionen infolge der Verknüpfung zweier Sekundärdatensätze sind aber leider auch massiv. Das Zusammenspielen von Individual- und Kontextfaktoren ist nun mal heikel. Sauberer wäre die Erfassung des Sozialstatus auf Individualebene gewesen. Das gab der klinische Datensatz aber, wie so oft, nicht her.
Die Reduktion des sozialen Gefälles in der Gesundheitsversorgung ist ein permanenter Handlungsauftrag an die Zahnärzteschaft wie an die Gesellschaft. Kritische Forschungsergebnisse können hier durchaus die Funktion eines "Reißzwecken auf dem Stuhl" haben und sind insofern zu begrüßen. Die Autoren der Studie konstatieren, dass "further research is needed on environmental factors that may contribute to dental care". Dem ist nichts hinzuzufügen.
Dr. David Klingenberger, Dipl.-Volksw.Stellvertretender Wissenschaftlicher DirektorInstitut der Deutschen Zahnärzte (IDZ)Universitätsstraße 73, 50931 Köln
Dental Treatment in a State-Funded Primary Dental Care Facility: Contextual and Individual Predictors of Treatment Need? By Kristina L. Wanyonyi , David R. Radford, Jennifer E. Gallagher. Published: January 24, 2017 on Plos One.