Soziologe Hilbert: "Lösungen vor Ort ausbauen"
Herr Prof. Hilbert, ein Workshop Ihres Instituts am 20.2. in Gelsenkirchen beschäftigt sich mit Lebensbedingungen und Gesundheitschancen in strukturschwachen Regionen. Was haben Sie herausgefunden – inwieweit beeinflussen die sozialen Lebenswirklichkeiten die Gesundheit der Menschen?
Hilbert:Zahlreiche Studien - nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern – zeigen, dass Bildungs- und Sozialschwache schlechtere Chancen haben, gesund aufzuwachsen und gesund alt zu werden, als Bildungsbürger und einkommensstarke Bevölkerungsteile. Oft treten gesundheitliche Benachteiligungen bei Menschen mit Migrationshintergrund verstärkt auf.
Und: Solche Probleme gibt es zwar überall auf, besonders drängend sind sie aber in strukturschwachen Regionen – also vor allem in altindustriellen Ballungsregionen, in denen händeringend nach wirtschaftlichen und sozialen Erneuerungen gesucht wird.
Wo herrscht aus Ihrer Sicht besonderer Handlungsbedarf? Welche Menschen sind besonders gefährdet?
Hilbert:Unsere Veranstaltung findet ja in Gelsenkirchen, im nördlichen Ruhrgebiet, statt! Besondere Herausforderungen stellen sich hier vor allem bei zwei Bevölkerungsgruppen: bei Kindern und bei Älteren. Im nördlichen Ruhrgebiet haben wir erfreulicherweise überdurchschnittlich viele Kinder. Allerdings kämpfen viele von ihnen mit gesundheitlichen Handicaps, etwa Übergewicht oder Bewegungsmangel.
Und bei vielen Älteren sind chronische Krankheiten und Multimorbidität überdurchschnittlich oft und auch früher anzutreffen als in bildungs- und einkommensstärkeren Regionen. Und last but not least leben im nördlichen Ruhrgebiet noch immer viele Industriearbeiter, die unter harten und monotonen Arbeitsbedingungen leiden.
Können Sie das an einem Beispiel näher erläutern?
Hilbert:Da komme ich auf die Zahnmedizin zu sprechen. Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und einkommensschwachen Bevölkerungsteilen und aus Stadtteilen und Regionen mit besonderem Erneuerungsbedarf – so werden die Problemstadtteile manchmal benannt – haben in aller Regel einen schlechteren Zahnstatus als ihre Altersgenossen aus den Reihenhaus- und Villenvierteln. Sie sind oft schlechter ernährt, bei ihnen wird auch die Zahnpflege nicht immer ganz ernst genommen.
Vielleicht das wichtigste aber ist, dass diese Kinder und Jugendlichen nur selten jemanden haben, der sie dazu einlädt, auch gesunde Nahrungsmittel als lecker zu entdecken.
Welche Strategien können Ihrer Meinung nach Abhilfe schaffen?
Hilbert:Die Gesundheitswissenschaften haben auf die Probleme im Spannungsfeld zwischen Lebenswirklichkeit und Gesundheit bereits seit langem hingewiesen. Und es wurden auch zahlreiche Aktivitäten gestartet, um Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Der Setting-Ansatz bei der Prävention – also die Entwicklung spezieller Strategien für die Welt der Arbeit, für Kinder und Jugendliche und für die Zielgruppe der Älteren – ist hierfür das beste Beispiel.
Allerdings waren viele Bemühungen mit Enttäuschungen verbunden, sie erreichten häufig nicht die erhofften Wirkungen. Wir stehen vor der Notwendigkeit, durchstarten zu müssen, die Gestaltungskonzepte weiter zu entwickeln und sie durch Wirkungsanalyse auf Tragfähigkeit zu prüfen.
Besonders viel verspreche ich mir davon, dass wir mehr und direkter auf die Menschen in den Stadtteilen zugehen und dass wir dabei die zahlreich vorhandenen Gesundheitsdaten – etwa bei den statistischen Ämtern, aber auch bei den Kostenträgern, für mehr Zielgenauigkeit nutzen – also nicht mit der Gießkanne arbeiten, sondern adressatenorientiert vorgehen.
Da können wir mit den Daten, die heute schon vorliegen, viel erreichen; allerdings sind an etlichen Stellen noch Vertiefungen nötig. Ganz praktisch haben wir hier in Gelsenkirchen gute Erfahrungen damit gemacht, frühzeitig auf junge Eltern zuzugehen und dabei gerade auch in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf besonders aufmerksam zu sein.
Was können Verantwortungsträger aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und dem Gesundheitswesen tun?
Hilbert:Alles beginnt damit, dass sich die Verantwortungsträger der Herausforderung bewusst werden und sie auch tatsächlich angehen wollen. Heute fürchten viele Verantwortungsträger noch häufig, dass dann, wenn sie Probleme offen ansprechen, dies auf sie als Vorwurf, nicht gut für die Versorgung der Bevölkerung zu sorgen zurückfällt.
Dann sehe ich die Wissenschaft gefordert. Bislang kann sie die Probleme gut beschreiben; wenn sie verstärkt nach Lösungen sucht und – wenn möglich geprüft wirkungsvolle– Lösungsangebote liefert, wäre viel geholfen. Ganz wichtig sind dabei das Wissen und die Erfahrung für „Lösungen vor Ort“ auszubauen. Oft ist hier von Quartiersmanagement die Rede. Wir brauchen mehr belastbares Wissen darüber, wer im Quartier zu welchen Konditionen was leisten kann – und wie sich die verschiedenen Akteure untereinander abstimmen.
In NRW hat die Landesregierung damit begonnen, die unterschiedlichen Ansätze und Erfahrungen beim gesundheitsbezogenen Quartiersmanagement zu sammeln, zu systematisieren und über eineInternetplattforman die interessierte Fachöffentlichkeit weiterzureichen.
An der Bochumer Hochschule für Gesundheit (HSG) wird gerade ein neues Department gegründet, das sich mit Lebenswirklichkeit und Gesundheit befasst und insbesondere auch nach gesundheitsbezogenen Verbesserungsmöglichkeiten für soziale Schwächere sucht.
Von der Wirtschaft erhoffe ich mir übrigens, dass sie ihr Engagement deutlich steigern wird. Die absehbaren Arbeitskraft-Engpässe in etlichen Berufsfeldern lassen keine andere Wahl als auch die gesundheitlich gefährdeten und gesundheitlich angeschlagenen Auszubildenden anzusprechen und mit Inklusionsansätzen zu stützen.
Die Fragen stellte Gabriele Prchala.
Prof. Dr. Josef Hilbert ist Geschäftsführender Direktor des Instituts Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen Bottrop Recklinghausen. Er leitet dort auch den Forschungsschwerpunkt Gesundheitswirtschaft und Lebensqualität. Hilbert hat eine Honorarprofessor an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum inne und ist im Vorstand bei MedEcon-Ruhr, der Initiative Gesundheitswirtschaftsinitiative der Metropole Ruhr und Sprecher des Netzwerks der deutschen Gesundheitsregionen (NDGR e. V.).