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Analyse zum Krankenstand in Deutschland

Treibt die telefonische AU den Krankenstand in die Höhe?

mg
Politik
Statistiken zeigen in den vergangenen Jahren deutliche Zuwächse bei den Krankschreibungen. Arbeitgeberverbände sehen die Ursache in der Einführung der telefonischen AU-Bescheinigung. Eine gemeinsame Auswertung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) und der BARMER kommt zu anderen Ergebnissen.

Der Anzahl an AU-Fällen lag bei den größten gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2021 je nach Krankenkasse zwischen 95 und 149 Fällen pro 100 Versichertenjahren und im Jahr 2023 zwischen 181 und 225 Fällen pro 100 Versichertenjahren. Dies entspricht einem Anstieg von bis zu 95 Prozent, meldet das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi), das mit der BARMER eine empirische Analyse durchführte. Parallel zu diesen Entwicklungen zeigt die jährlich vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlichte Statistik zum Sozialbudget, dass sich die Ausgaben für Entgeltfortzahlungen im Zeitraum von 2010 bis 2023 auf 67,9 Milliarden Euro verdoppelt haben.

Expertenmeinungen gibt es nach zum nachhören

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hatte am 1. Oktober im Rahmen seines etwa vierteljährlichen Livestreaming-Formats „Zi insights“die Analyse der möglichen Ursachen für die stark angestiegene Zahl der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen vorgestellt und mit Expertinnen und Experten aus Arbeitgeberverbänden, Betriebskrankenkassen und vertragsärztlicher Praxis diskutiert. Einen 59-minütigen Mitschnitt des Livestreams zum ausführlichen Nachhören bietet das Zi auf seiner Website.

Die Ursachen dafür seien vielschichtig: „So ist zu vermuten, dass neben dem gestiegenen Krankenstand auch die in den letzten Jahren gestiegenen Bruttoentgelte und der erfolgte Beschäftigungsaufbau eine maßgebliche Rolle für diese Entwicklung spielen“. Von den großen Arbeitgeberverbänden werde in diesem Zusammenhang allerdings insbesondere der hohe Krankenstand problematisiert, dessen Ursache in der Einführung der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gesehen wird. „Genährt wird diese Hypothese durch den in den letzten Jahren erfolgten Marktzutritt digitaler Videodienstanbieter“, schreibt das Zi, „die eine niedrigschwellige Möglichkeit der Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ermöglichen.“

Tele-AU macht nur etwa ein Prozent aus

Die Zi-Analyse auf Basis der pseudonymisierten Arbeitsunfähigkeitsdaten und der vertragsärztlichen Abrechnungsdaten der BARMER für die Jahre 2020 bis 2023 hatte keinerlei Hinweise dafür gefunden, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per Telefon beziehungsweise per Videosprechstunde die maßgebliche Treiberin des gestiegenen Krankenstandes in Deutschland ist. Die Auswertungen deuten vielmehr darauf hin, heißt es, dass die Bedeutung der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit einem Anteil von jährlich 0,8 bis 1,2 Prozent an allen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die Gesamtentwicklung der AU-Fälle sehr gering ist, und dass damit der ab dem Jahr 2021 zu beobachtende Anstieg des Krankenstandes nicht erklärt werden kann. Gleiches gilt für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per Videosprechstunde, die mit einem jährlichen Anteil von 0,1 bis 0,4 Prozent an allen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen noch geringer ausfällt.

Wahrscheinlicher sei, dass ein Zusammenwirken eines „postpandemisch höheren Infektionsgeschehens“ mit einer erhöhten Erfassungsrate von AU-Bescheinigungen seit der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zu einem Anstieg der AU-Raten seit dem Jahr 2021 geführt hat. So habe die Zi-Untersuchung gezeigt, dass 58 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2022 und 41 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2023 durch akute Infektionen der Atemwege sowie Corona-Infektionen zu erklären sind.

Maßnahme zur Entbürokratisierung ...

Dr. Eckart Lummert, niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin und Vorsitzender der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, machte deutlich, dass die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung bei Patientinnen und Patienten ohne schwere Symptomatik eine wichtige Maßnahme zur Entbürokratisierung und Entlastung der Praxen sei. Dies gelte auch für den erweiterten Infektionsschutz in den Wartezimmern der Arztpraxen, wenn sich insbesondere atemwegserkrankte Patientinnen und Patienten nicht persönlich vorstellen müssten. Insofern müsse an der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung unbedingt festgehalten werden.

Gleichwohl seien auch die niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzte gefordert, ihre Krankschreibungspraxis mit Bedacht zu differenzieren, so Lummert weiter. Insbesondere in den sehr wenigen Fällen, in denen Patientinnen und Patienten etwa für einen längeren Zeitraum krankgeschrieben werden wollten. Bei Verdachtsfällen bestelle er diese immer zu einer persönlichen Untersuchung in seine Hausarztpraxis ein. Das stärke die Vertrauenskultur und vermeide gefühlte Gerechtigkeitsprobleme. Die große Mehrheit der Patientinnen und Patienten sei in den Hausarztpraxen aber persönlich bekannt, das gegenseitige Vertrauensverhältnis verhindere den Missbrauch der Tele-AU also per se, so Lummert.

... und zum Infektionsschutz in den Wartezimmern

Auch Anne-Kathrin Klemm, Alleinvorständin des BKK Dachverbandes, bekräftigte, dass ein Missbrauch der telefonischen Krankschreibung auch wegen fehlender Kennzeichnung nicht belegbar sei und daher die immer wieder erhobene Forderung nach Aufhebung der entsprechenden Regelungen wegen vermeintlichen Missbrauchs ins Leere laufe. Bevor man also die Telefon-AU abschafft, müsse zunächst Transparenz über Ursache und Wirkung hergestellt werden. Die Telefon-AU entlaste Arztpraxen und Personal. In Ergänzung dazu sei die digitale Ersteinschätzung ein weiteres zentrales Element für eine konsistente Patientensteuerung, um Effizienzreserven im Gesundheitssystem zu heben und die Arztpraxen weiter zu entlasten.

Ein nachweislich erhöhtes Infektionsgeschehen bei den Atemwegserkrankungen könne jedenfalls durch die Aufhebung der erfolgreich etablierten Regelungen zur Krankschreibung nicht kaschiert werden, urteilte Klemm. Die Corona-Pandemie habe die Sensibilität der Beschäftigten für Krankheitssymptome geschärft, so dass sie sich bei ersten Anzeichen schneller krankschreiben ließen, auch um Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit zu schützen. Dies zu kritisieren, sei fragwürdig. Eine ausufernde Misstrauenskultur müsse durch eine innerbetriebliche Vertrauenskultur abgelöst werden, die durch gegenseitige Wertschätzung und Verlässlichkeit bestimmt sei. Hier stehe ausdrücklich auch der Arbeitgeber in der Verantwortung, so Klemm weiter.

Gibt es einen „Goldstandard der Krankschreibung“?

Dr. Susanne Wagenmann, Leiterin der Abteilung Soziale Sicherung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hob hingegen hervor, dass auch aufgrund der enorm hohen Kosten, die Arbeitgebern durch die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall entstünden, sie sich auf den hohen Beweiswert und die medizinische Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unbedingt verlassen können müssten. Alleine im Jahr 2024 seien den Arbeitgebern dadurch Kosten in Höhe von insgesamt 82 Milliarden Euro entstanden.

Der „Goldstandard der Krankschreibung“ müsse weiterhin der persönliche Arzt-Patientenkontakt bleiben, wahlweise ergänzt durch die ärztliche Videosprechstunde, forderte Wagenmann. Die telefonische AU müsse wegen der potenziellen Missbrauchsgefahr abgeschafft werden, ebenso sämtliche Möglichkeiten der unpersönlichen Krankschreibung über Online-Portale. Denn: Nach aktuellen Umfragen von Krankenkassen ließen sich acht und mehr Prozent der Beschäftigten ohne triftigen Grund krankschreiben. Um diese Anteile weiter zu senken und damit die hohen Arbeitskosten zu reduzieren, sei es auch für die gesellschaftliche Akzeptanz wichtig, etwaige Fehlanreize wirksam zu beseitigen, so Wagenmann abschließend.

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