Wir müssen Zahnmedizin neu denken
Leserbrief aus den zm 13/2016 zum Leitartikel„Bohrst du noch oder kratzt du schon? Zahnmedizin 2.0“, zm 11/2016, S. 6
Es vergeht kein Tag an dem nicht Fachliteratur auf den Schreibtisch kommt, in der überwiegend über Neuerungen in der HighTechDentistry berichtet wird. Keine Ausgabe ohne Artikel über Implantate, 3-D Röntgen und andere „digitale Workflows“. Erfrischend hebt sich der Leitartikel von Prof. Benz ab: „Prävention und Paro sind unsere neue Karies. 41% weniger Füllungen, 25% weniger Extraktionen“. Nimmt man nun noch die pilzförmige Alterspyramide hinzu, muss man kritisch hinterfragen, obdie derzeitigen Aufwendungen für Neuentwicklungen in der Zahnheilkunde richtig platziert sind. Der enorme finanzielle und personelle Aufwand von Firmen und öffentlichen Institutionen in Forschung und Entwicklung neuer Behandlungsmethoden kommt meist nur einer kleinen zahlungskräftigen Patientenklientel zugute, die obendrein mit ungewissen, nicht kalkulierbaren Spätfolgen rechnen muss. Zahnärzte geben sich gern technikaffin, sie sind Vorreiter für neue Techniken und Verfahren und werden zu wahren „Abrechnungskünstlern“, wenn es um die Amortisation neuer Techniken geht. Zunehmend überträgt sich diese unreflektierte Fortschrittsgläubigkeit schon auf den Patienten, der dann häufig nicht mehr vernünftigen, kausalen Therapievorschlägen zugänglich ist.
Es ist Zeit umzudenken! Die Zukunft der Zahnarztpraxis wird nicht in der neuen Lupenbrille und im letzten μ des Kronenrands liegen, sondern in der Flexibilität, mit der wir uns an die neuen Gegebenheiten anpassen. Der eigentliche Behandlungsbedarf liegt nicht bei den 20- bis 50-jährigen Patienten, die unsere Praxen aufsuchen, sondern in der massiv anwachsenden Zahl älterer Patienten, die oft nicht in der Lage sind, in die Praxis zu kommen, behinderter Patienten, Angstpatienten, blinder, gehörloser und Wachkomapatienten. Dieser sehr große Patientenkreis, der eine zahnärztliche Versorgung dringend nötig hätte, wird von den Zahnärzten und deren Forschung und Industrie stark vernachlässigt. Selbst in der universitären Ausbildung findet er in Deutschland kaum Beachtung.
Neben der „herkömmlichen“ wiederherstellenden Zahnmedizin und der Prophylaxe (Prävention und Paro, Prof. Benz) wird die zugehende, mobile zahnärztliche Betreuung (Prof. Nitschke) und die Behandlung körperlich eingeschränkter Patienten (Prof. Schulte) die dritte tragende Rolle in den Praxen werden. Es werden erfahrene Spezialisten für patienten- und befundgerechte Mundtherapieplanung benötigt, die den Patienten als Menschen wahrnehmen. Der Zahnarzt 2.0 kann durchaus technikaffin sein, die entscheidenden Fähigkeiten sind aber: ethisches Handeln, barrierefreies Denken, Empathie für den Patienten und ein hohes Maß an flexibler und persönlicher Zuwendung.