"Die Gesellschaft guckt gerne weg"

ck/dpa
Gesellschaft
Die Zahl der jugendlichen Komasäufer in Deutschland steigt seit Jahren. Der ärztliche Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalters, Prof. Rainer Thomasius, beschäftigt sich mit den Hintergründen.

Welche Jugendlichen sind besonders betroffen? 

Thomasius: Der sozioökonomische Hintergrund spielt schon eine Rolle. Wenn Jugendliche aus schlechten Bildungskontexten kommen, aus Familien, die ein weniger hohes Einkommen haben, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht. Auch Impulsivität und Neugier spielen eine Rolle, wir nennen das "sensation seeking" - Jugendliche, die auf der Suche sind nach intensiven äußeren Reizen, um sich besser spüren zu können.

Dann kommen frühe Verhaltensauffälligkeiten in der Pubertät dazu - bei Jungen etwa ADHS, bei Mädchen depressive Verstimmung oder Selbstunsicherheit. Die Peers sind immer wichtig: Wenn sie exzessive Konsummuster aufweisen, wird das Verhalten schnell übernommen. Eine ganz wichtige Einflussvariable ist der riskante Alkoholkonsum der Eltern, hier ist die Vorbildfunktion angesprochen.

Und es gibt noch ein Merkmal, die Menge des verfügbaren Taschengelds. Das widerspricht zwar dem ungünstigen sozioökonomischen Status, zeigt aber, dass es nie ein Risikofaktor allein ist, sondern immer ein Bündel. Rauschtrinken sehen wir auch in gut situierten Stadtteilen. 

Warum nimmt das Komasaufen in Deutschland so zu? 

Da kommen viele Dinge zusammen. In anderen europäischen Ländern sieht man die Steigerungsraten in diesem Ausmaß nicht - das ist schon ein Phänomen, das wir in Deutschland haben. Das muss mit den Voraussetzungen hier zu tun haben. Kaum anderswo in Europa sind alkoholische Getränke so günstig zu erhalten wie in Deutschland. Testkäufe zeigen zudem, dass das Jugendschutzgesetz immer wieder unterwandert wird - Jugendliche haben überhaupt kein Problem, an Alkohol heranzukommen.

Dann haben wir als Besonderheit, dass Alkohol 24 Stunden am Tag an Tankstellen erhältlich ist. In Deutschland wird zudem im europäischen Vergleich vonseiten der Eltern sehr viel Alkohol getrunken, die Vorbildfunktion wird in aller Regel nicht wahrgenommen.

Der Einstieg in den Alkoholgebrauch erfolgt bei uns viel zu früh: 50 Prozent der 12-Jährigen haben schon mal Alkohol getrunken. Ein früher Gebrauch ist immer ein Risikofaktor für die Entwicklung eines riskanten Alkoholgebrauchs.

Dann kommt der Aspekt Werbung hinzu. Die Gesundheitspolitik steuert diesen Voraussetzungen nicht hinreichend entgegen. Die Gesellschaft guckt gerne weg. 

Was sollte denn gegen das Komasaufen getan werden? 

Die Gesundheitspolitik ist in der Verantwortung. Wir haben in Deutschland im Bereich Jugend und Sucht zwei große Problembereiche - den riskanten Alkoholgebrauch und den Cannabisgebrauch bei Jugendlichen. Mein Wunsch wäre, dass von der Bundespolitik hier ein Fokus gesetzt wird. Von den Bundesländern, Städten und Gemeinden wünschen wir uns ein gutes Potpourri präventiver Maßnahmen - von der allgemeinen Prävention, die in erster Linie aufklärt, über Ansätze der selektiven Prävention - etwa für die große Gruppe der Kinder süchtiger Eltern - bis hin zur indizierten Prävention, also für die Jugendlichen, die bereits riskant konsumieren. 

Prof. Rainer Thomasius (56) leitet das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Einrichtung will die Suchtvorbeugung verbessern und führt Forschungen etwa zur Suchtprävention und Suchtberatung für Kinder und Jugendliche durch. Der Mediziner beschäftigt sich seit langem mit Missbrauch und Abhängigkeit zum Beispiel von Alkohol und Drogen. 

von Julia Ranniko, dpa

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