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Doktor Courage

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Von der Pharma-Industrie als "Erbsenzählerin" geschmäht, von der Gesellschaft später als Heldin gefeiert: Die Pharmakologin Frances Oldham Kelsey verhinderte, dass der Contergan-Wirkstoff auch in den USA verkauft wurde. Im Alter von 101 Jahren ist die mutige Prüferin jetzt gestorben.

Ab 1960 arbeitete die promovierte Pharmakologin Kelsey für die Food and Drug Administration (FDA) in Washington, D.C. Ihre Aufgabe war vor allem, die Zulassung neuer Medikamente und Substanzen für den Markt zu begleiten. Eine der ersten Substanzen, die sie überprüfen musste, war Thalidomid.

Der erste Fall: Thalidomid

Zu dem Zeitpunkt, als sie die Unterlagen auf den Tisch bekam, ahnte sie nicht, dass sie mit ihrem ersten Fall gleich Geschichte schreiben würde. Schließlich war Thalidomid als Wirkstoff bereits in 20 europäischen und afrikanischen Ländern zugelassen, seit Oktober 1957 ging es auch in Deutschland über den Apothekertresen - rezeptfrei. Das Mittel sollte bei Einschlafproblemen helfen, generell beruhigen - und die morgendliche Schwangerschaftsübelkeit bekämpfen. Sein Name: Contergan. Von den schweren Nebenwirkungen, die das Medikament bei ungeborenen Kindern verursacht, wusste damals niemand.

Dennoch verweigerte Kelsey die Anerkennung für die Substanz. Sie misstraute den Angaben der Firma Richardson-Merrell, die aus ihrer Sicht nur PR-Aussagen enthielten, statt wissenschaftlicher Aussagen zur Wirkung oder Testergebnisse. "Die klinischen Berichte lasen sich wie Empfehlungsschreiben und nicht wie gut durchdachte und sauber abgewickelte Studien", sagte sie. Die Untersuchungen liefen ihrer Meinung schlicht weg nicht lang genug, um daraus Schlüsse ziehen zu können.

"Unzumutbare Erbsenzählerei"

Nach Angaben der New York Times hatte das Unternehmen zu diesem Zeitpunkt bereits Tonnen des Medikikaments eingelagert und Proben an 1.000 Ärzte verteilt.

Kelsey forderte Richardson-Merrell auf, Tests durchzuführen und die Ergebnisse mitzuteilen. Doch die Firma weigerte sich und verlangte insgesamt sechs Mal, die Zulassung zu gestatten, was jedes Mal abgelehnt wurde. Geschäftsleute und Politiker übten Druck auf Kelsey aus. Merrell-Vertreter beklagten sich bei Kelseys Boss, über diese "unzumutbare Erbsenzählerei" der "kleinlichen Bürokratin", heißt es in einem FDA-Bericht aus dem Jahr 2001.

1962 zog Richardson-Merrell dann den Antrag auf Zulassung zurück. Kelseys Bedenken gegenüber der Substanz wurden bestätigt, als klar wurde, dass die Schädigungen neugeborener Kinder in Europa auf Thalidomid-Einnahme in der Schwangerschaft zurückzuführen waren.

Rezeptfreies Schlafmittel für Schwangere

Bis Ende der 1950er Jahre wurde Thalidomid unter dem Namen Contergan in Deutschland gezielt als rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen. Vom 1. Oktober 1957 bis zum 27. November 1961 wurde das Medikament verkauft und erst ab dem 1. August 1961 rezeptpflichtig. Erst Ende 1961 wurde der Zusammenhang zwischen Contergan und den Fehlbildungen erkannt und das Medikament vom Hersteller, der Grünenthal GmbH in Stolberg, vom Markt genommen.

In der Folge kam es zu einer Häufung von schweren Fehlbildungen (Dysmelien) oder gar dem Fehlen (Aplasien) von Gliedmaßen und Organen bei Neugeborenen. Weltweit kamen etwa 5.000 bis 10.000 geschädigte Kinder auf die Welt. Zudem kam es zu einer unbekannten Zahl von Totgeburten. Mitte 2012 gab der Bundesverband Contergangeschädigter auf seiner Internetseite an, dass in Deutschland noch ca. 2.500 Contergan-Geschädigte leben.

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