Diskussion
Der Ausprägungsgrad der Akromegalie-assoziierten Symptome ist wesentlich davon beeinflusst, wie lange die Patienten den erhöhten Spiegeln von STH und IGF-1 ausgesetzt waren. Aufgrund des schleichenden Verlaufs liegt der Zeitraum zwischen Erkrankungsbeginn und Diagnosestellung oft zwischen sieben bis zehn Jahren [Nachtigall et al., 2008]. In einer groß angelegten Kohortenstudie, in der retrospektiv Daten von 324 Patienten mit Akromegalie ausgewertet wurden, betrug das Intervall zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und der Diagnosestellung fünf bis sechs Jahre [Reid et al., 2010]. Die Autoren stellten fest, dass im ausgewerteten Zeitraum von 26 Jahren keine Tendenz sichtbar war, dass sich dieses Intervall verkürzt. Daraus schlussfolgerten sie, dass es sich um eine unterdiagnostizierte Erkrankung handelt, die stärker ins Bewusstsein der Ärzte und Zahnärzte gerückt werden sollte.
In 40 Prozent der Fälle stellt der Hausarzt oder der Internist die Diagnose [Cordero, Barkan, 2008]. In Abhängigkeit von der Dominanz der Symptome kann eine Akromegalie aber auch vom Augenarzt (bei Einschränkungen des Gesichtsfeldes, etwa bei Hemianopsie), vom Pulmologen (bei Schlafapnoe), vom Gynäkologen (bei Infertilität, bei Störungen des Menstruationszyklus), vom Neurologen (bei Karpaltunnelsyndrom, bei Kopfschmerzen) oder – wie in unserem Beispiel – vom Zahnarzt diagnostiziert werden.
Kreitschmann-Andermahr et al. gingen der Frage nach, wie viele der Akromegalie-Patienten orodentale Pathologien aufweisen. In einer Auswertung von 145 Fragebögen gaben 80,7 Prozent der Patienten orodentale Pathologien wie eine Vergrößerung der Zunge (57,9 Prozent), lückig stehende Zähne (42,8 Prozent) und eine mandibuläre Hyperplasie (24,1 Prozent) an. In ihrer Untersuchung konnten die Autoren zeigen, dass orodentale Pathologien seltener auftreten, wenn zwischen dem Auftreten der ersten klinischen Symptome der Akromegalie und der Diagnosestellung weniger als zwei Jahre vergehen [Kreitschmann-Andermahr et al., 2018].
Im vorgestellten Fall konnte der Patient keine Aussage dazu machen, wann er zum ersten Mal gemerkt hatte, dass sich seine Okklusion verändert. Er beschrieb den Prozess als schleichend und aufgrund des reduzierten Zahnbestands schwer beurteilbar. Eine Vergröberung/Vergrößerung seiner Hände hatte er ein Jahr vor Diagnosestellung bemerkt, dem aber keinen Krankheitswert zugemessen.
Da das Akromegalie-assoziierte, pathologische Wachstum des Unterkiefers aus periostaler Knochenapposition und Reaktivierung subkondylärer Wachstumszentren resultiert, handelt es sich um einen sich über Jahre erstreckenden Prozess [Tornes, Gilhuus-Moe, 1986]. Wir gehen davon aus, dass der Krankheitsprozess unseres Patienten auch über mehrere Jahre – von ihm unbemerkt – verlaufen ist.
Nach erfolgreicher Therapie einer Akromegalie mit Normalisierung der Hormonspiegel bilden sich einige Komorbiditäten der Erkrankung partiell oder komplett zurück. Sofern keine dilatative Kardiomyopathie vorliegt, tritt eine Besserung der kardiovaskulären Funktion ein [Colao et al., 2019]. Auch respiratorische Einschränkungen, die durch Verdickungen der Mukosa und der Weichgewebe der oberen und der unteren Atemwege verursacht sind und dazu führen, dass 45 bis 87,5 Prozent der Akromegalie-Patienten unter einer Obstruktiven Schlafapnoe (OSA) leiden [Vanucci et al., 2013], sind partiell oder komplett nach Remission der Akromegalie reversibel [Wolters, 2019].
Die Normalisierung der Hormonspiegel stoppt das exzessive Wachstum der Akren. Im Gegensatz zur Rückbildungstendenz der zervikofazialen Weichgewebshypertrophie persistiert die mandibuläre Hyperplasie.
Eine Normalisierung der Hormonspiegel ist die Voraussetzung für eine chirurgische Korrektur der skelettalen Dysgnathie [Katznelson et al., 2011]. Bei der Operationsplanung sollte ein Jahr Latenz einkalkuliert werden für die Rückbildung der hypertrophen zervikofazialen Weichteile (Lippen, intraorale, Larynx- und Pharynx-Mukosa), die ein nicht unerhebliches anästhesiologisches Risiko darstellen [Whelan et al. 1982].
Fazit für die Praxis
- Bei schleichend auftretenden Dysgnathien im Erwachsenenalter im Sinne einer mandibulären Hyperplasie muss eine Akromegalie in Betracht gezogen werden, daher sollte unbedingt eine endokrinologische Diagnostik erfolgen.
- Da sich mit Normalisierung der hypophysären Hormonspiegel nach Adenomresektion Akromegalie-assoziierte Veränderungen – wie die Hypertrophie der intraoralen, der laryngealen und der pharyngealen Mukosa oder eine Viszeromegalie – zurückbilden können, sollte die operative Korrektur der Dysgnathie frühestens ein Jahr nach erfolgreicher Therapie des Adenoms erfolgen.
- Bildet sich die Hypertrophie der Zunge nach Normalisierung der hypophysären Hormonspiegel nicht zurück, plädieren wir für eine Zungenreduktionsplastik.
Die Makroglossie scheint den Rückbildungsvorgängen der Weichgewebe nicht zuverlässig zu folgen, so dass unter Umständen eine Zungenreduktionsplastik erforderlich werden kann. Der Zeitpunkt dafür wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Einige Autoren befürworten eine Reduktionsplastik im Rahmen der Umstellungsosteotomie [Ross, 1974], andere sehen eine Gefährdung des Patienten durch die damit verbundene Schwellung [Tornes et al., 1986]. Jackson et al. wiederum propagieren, die bimaxilläre Umstellungsosteotomie in Kombination mit einer Zungenreduktionsplastik, einer Septorhinoplastik und einer chirurgischen Korrektur der vergrößerten Supraorbitalwülste durchzuführen [Jackson et al., 1989].
In unserem klinischen Beispiel vergingen zwischen der Normalisierung der Hormonspiegel und der Umstellungsosteotomie zweieinhalb Jahre. Die ausgeprägte Makroglossie hatte sich in diesem Zeitraum nicht zurückgebildet, so dass im Rahmen der bimaxillären Umstellungsosteotomie eine simultane Zungenreduktionsplastik durchgeführt wurde – im Sinne eines einzeitigen Vorgehens. Postoperativ konnte der Patient aufgrund einer schwellungsbedingten Verlegung der Atemwege nicht extubiert werden, was eine intensivmedizinische Betreuung nach sich zog. Die täglichen laryngoskopischen Kontrollen zeigten, dass die Atemwege durch die Schwellung der pharyngealen und der laryngealen Schleimhäute verlegt waren. Hinzu kam eine mäßige Schwellung der Zunge nach Zungenreduktionsplastik, wobei der Zungenraum infolge der Oberkiefervorverlagerung vergrößert worden war.
Bei einem zweizeitigen Vorgehen wird die Zungenreduktionsplastik als erster Schritt durchgeführt, nach einem Zeitraum von circa einem Vierteljahr schließt sich eine bimaxilläre Umstellungsosteotomie als zweiter Schritt an. Dem minimierten operativen Trauma steht das erhöhte anästhesiologische Risiko einer zweiten Intubation mit erneuter Irritation der pharyngealen und der laryngealen Mukosa gegenüber. Welches Verfahren das risikoärmere ist, kann anhand der aktuellen Datenlage nicht sicher festgestellt werden.
Aus unserer Sicht ist in erster Linie entscheidend, dass alle an der Behandlung Beteiligten sich der beschriebenen Risiken bewusst sind und entsprechend umsichtig die Behandlung planen.
Prof. apl. Dr. Dr. Alexander Eckert
Komm. Klinikdirektor
Universitätsklinikum Halle (Saale),Universitätsklinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Ernst-Grube-Str. 40, 06120 Halle (Saale)
Dr. med. Birgit Scheffler
Oberärztin und Fachärztin für MKG-Chirurgie
Universitätsklinikum Halle (Saale),Universitätsklinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie
Ernst-Grube-Str. 40, 06120 Halle (Saale)
birgit.scheffler@uk-halle.de
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