Interview mit Prof. Dr. Ina Nitschke

Ü65 ist kein pauschales Ausschlusskriterium

Patienten ab 65 Jahren zählen zur Risikogruppe – in Corona-Zeiten ist für sie einmal mehr Vorsicht angebracht. Warum eine sorgfältige Einzelfallbetrachtung wichtig ist, erläutert Prof. Dr. Ina Nitschke, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin e.V. (DGAZ).

Was gibt es bei der Behandlung älterer Patienten zu beachten?

Prof. Dr. Ina Nitschke:

Wichtig ist zunächst, das individuelle Risiko des Patienten herauszufinden und ganz bewusst abzuwägen. Das gelingt am besten über einen aktualisierten Anamnesebogen. Auch wenn man einen Patienten schon jahrelang kennt, ist es jetzt wichtig, ein Update zum Gesundheitszustand einzuholen und hinsichtlich COVID-19 zu vervollständigen. Offiziell zählen alle Menschen über 65 Jahre zur Risikogruppe. Aber nicht jeder ältere Mensch ist gleich stark vorbelastet. Manche sind fit. Bei anderen ist ein hoher Blutdruck auch nicht gleich ein Kriterium, ihn nicht zahnärztlich zu behandeln. Ich rate also zur Betrachtung des Einzelfalls.

Es gibt derzeit noch viele Unklarheiten, was das neuartige Coronavirus betrifft. Bei vielen verläuft es harmlos oder sogar unbemerkt, andere tötet es qualvoll durch den Erstickungstod. Noch mal: Jeder Mensch ist anders, nicht jeder Ü65 ist so vorerkrankt, dass er keine Behandlung erhalten kann. Wie gefährdet man ist, hängt nicht nur vom Alter ab. Deswegen sollte auch der Patient mit in die Abwägung einbezogen werden. Kein Zahnarzt sollte sich zurzeit auf die lange Bekanntschaft und die Angaben aus alten Anamnesebögen verlassen. Das kann trügerisch sein. Veranschlagen Sie etwas mehr Zeit für die Anamnese und partizipative Therapieentscheidung eines älteren Patienten.

Eine Behandlung aufzuschieben kann ja auch gefährlich sein.

Ja, das ist richtig. Ein Risiko birgt sich hier in der Zeit, die verstreicht. Beim Abwägen muss beides in die Waagschale gelegt werden: Was könnte sich entwickeln, wenn ein Eingriff oder eine Prophylaxe-Behandlung noch um einige Monate aufgeschoben wird? Wie schlimm wird dann die Karies oder eine Gingivitis? Ist es nicht akut, müssen ja auch zunächst einmal die Schmerzen behandelt werden.

Man kann aber auch die Methoden anpassen, was ältere Patienten sehr schätzen, und zum Beispiel vom Ultraschallgerät, das Aerosole erzeugt und von dem derzeit abgeraten wird, auf Handgeräte umsteigen. Außerdem wird das Spülen mit einer antiviralen Lösung empfohlen.

Wichtig ist, gemeinsam abzuwägen zwischen den Nachteilen, wenn eine Behandlung später erfolgt und Erreichtes in der Prävention infrage gestellt wird, und dem Vorteil, dem ängstlichen Gefühl eines Patienten Raum zu geben. Eine intensive Aufklärung wird notwendig sein, um Patienten auch die Vorteile einer zeitnahen Behandlung nahezubringen.

Was empfehlen Sie für das Praxismanagement?

Ausdünnen! Der Betrieb sollte in dieser Krisenzeit etwas ausgedünnt werden, um zu gewährleisten, dass sich die Patienten möglichst nicht begegnen. Mit einem guten Zeit- und Raum-Management können die Älteren am besten direkt ins Behandlungszimmer geführt werden. Dafür darf man ihnen höflich vermitteln, dass sie bitte nicht zu früh zum Termin erscheinen. Ältere Patienten pflegen häufig die Tugend, zu früh zu kommen. Pünktlich heißt in diesem Fall auch: Nicht zu früh! Eine gute Organisation ist eine gute Bestellpraxis! Keiner drängelt.

Ein weiteres Beispiel für das angepasste Praxismanagement ist die Einrichtung einer speziellen Sprechstunde für sowohl Risiko- als auch für Infektionspatienten. Hier kann der Workflow angepasst werden und es kommt nicht zur Durchmischung von Patienten.

Wo verbergen sich Schwachstellen?

Ich schätze, die Schwachstelle kann irgendwann die Routine sein. Wenn wir uns alle an die neuen Maßnahmen gewöhnt haben, werden wir vielleicht wieder nachlässiger damit im Alltag. Das ist normal. Deshalb muss man sich immer wieder selbst erinnern und die eigene Routine reflektieren: Wird der eigene Umgang noch all den hohen Ansprüchen gerecht? Ich habe gute Erfahrungen mit einer kurzen Teambesprechung einmal pro Woche gemacht.  Hier kann abgeglichen werden, ob alle Vorkehrungen, die Mitte März eingeführt wurden, auch Mitte Mai noch berücksichtigt werden (müssen). Instruieren Sie ihre HelferInnen immer wieder für den Umgang mit Risikopatienten, um Nachlässigkeit durch Routine vorzubeugen. Ständige Selbstkontrolle ist das Stichwort.

Ältere Patienten pflegen häufig die Tugend, zu früh zu kommen. Pünktlich heißt in diesem Fall auch: Nicht zu früh!

Prof. Dr. Ina Nitschke

Wann raten Sie von einer Behandlung ab?

Bei akuten und allgemeinmedizinischen Erkrankungen unklarer Genese sollte in der Regel grundsätzlich nicht behandelt werden. Ansonsten gilt, mit dem Patienten sowie seinen Angehörigenden Einzelfall abzuwägen.

Ich möchte hier auch noch mal an das Vertrauen in die ZahnärztInnen und ihre hohen Hygienestandards im Praxisalltag appellieren! Wie kaum ein anderer Facharzt sind sie außerordentlich geübt im Umgang mit Hygienemaßnahmen sowie Patientenschutz und kennen sich bestens aus. Wenn wir uns die Gefahren von Infektionskrankheiten bewusst halten, kommt das uns und den Patienten zugute! Abschließend noch: Bleiben Sie mit der Pflege in Kontakt!

Die Fragen stellte Laura Langer.

DGAZ-Empfehlungen

Routinemäßige Behandlung (ohne Verdacht auf SARS-CoV-2-Infektion):

1. Chirurgischer Mund-Nasen-Schutz (MNS), Schutzbrille und Schutzhandschuhe sind die Standardausrüstung des Zahnarztes und der ZFA bei jeder Behandlung. Der MNS wird spätestens nach vier Stunden gewechselt.

2. Bei allen Patienten sollte vor einer Behandlung unter Einsatz wassergekühlter Übertragungsinstrumente eine antimikrobielle Mundspülung erfolgen.

3. Die übrigen Hygienemaßnahmen sind konsequent entsprechend dem zahnärztlichen Praxis-Hygieneplan umzusetzen.

Behandlung von Patienten mit Verdacht auf eine SARS-CoV-2-Infektion:

Die Notfallversorgung von Erkrankten oder Infizierten soll vorzugsweise in den eigens benannten Kliniken oder Schwerpunktpraxen erfolgen. Sind unaufschiebbare zahnärztliche Behandlungen an einem anderen Ort erforderlich, sind über die Hygienemaßnahmen aus dem Hygieneplan hinaus weitere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.

Für Behandlungen, die an einem anderen Ort erforderlich sind:

1. Räumliche oder organisatorische Trennung der Verdachtspatienten von anderen.

2. Der Behandlungsort in einer Pflegeeinrichtung ist mit der dortigen Leitung abzusprechen. Auf dem Weg zu diesem Ort legt der Patient einen MNS (chirurgisch oder textil) an und desinfiziert sich die Hände. Er wird sofort ins Behandlungszimmer geführt. Er legt den MNS erst unmittelbar vor der Behandlung ab.

3. Vor der Behandlung ist die Mundhöhle des Patienten mit einer antiviralen Lösung zu spülen. Gegenwärtig können dazu Lösungen auf der Basis von Octenidin, PVP-Iod oder H2O2 empfohlen werden.

4. Die zusätzliche Schutzkleidung des Teams besteht aus einem feuchtigkeitsdichten Schutzkittel. MNS, Schutzbrille sowie Schutzhandschuhe gehören zur Standardhygiene.

5. Auf Aerosol-produzierende Behandlungsmaßnahmen sollte möglichst verzichtet werden. Dies erreicht man durch einen weitgehenden Verzicht auf Schall- oder Ultraschallschwinger, Turbinen, Pulverstrahlgeräte und piezochirurgische Geräte.

6. Ist ein Einsatz wassergekühlter Übertragungsinstrumente notwendig, muss das Team anstelle des chirurgischen MNS eine FFP2-Maske ohne Ausatemventil tragen. Kofferdam ist empfehlenswert. Auf eine effiziente Sprühnebelabsaugung ist zu achten.

7. Nach der Behandlung und vor Ablegen der Schutzkleidung erfolgt eine Desinfektion der Schutzhandschuhe. Nach Ablegen der Schutzhandschuhe sind die Hände zu desinfizieren.

8. Bei der Hände-, Instrumenten- und Flächendesinfektion, der Wäsche-aufbereitung sowie der Abfallentsorgung sind keine Abweichungen vom routinemäßigen Verfahren erforderlich.

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