Aus der Wissenschaft

Prävention reduziert kieferorthopädischen Behandlungsbedarf bei Kindern

Kerstin Albrecht
Präventionsprogramme für Kleinkinder werden oft nur unter dem Aspekt der Kariesbekämpfung diskutiert. Doch die Prävention bei den Jüngsten reduziert nicht nur die Milchzahnkaries, sondern zahlt sich auch im Hinblick auf weitergehende Behandlungsbedarfe aus. Jenaer Wissenschaftler zeigten, dass das in der Stadt etablierte kommunale Präventionsprogramm auch den Bedarf an kieferorthopädischen Behandlungen senken und tendenziell auch die Unterschiede beim Mundgesundheitszustand der Kinder abhängig vom sozialökonomischen Status ausgleichen konnte.

Die frühkindliche Karies (Early Childhood Caries, ECC) bedeutet für die betroffenen Kleinkinder zunächst meist akute Zahnschmerzen, odontogene Infektionen und häufig auch den vorzeitigen Verlust von Milchzähnen. Gerade die Oberkieferfrontmilchzähne und die ersten und die zweiten Milchmolaren gehen bei frühkindlicher Karies häufig vorzeitig verloren [American Academy of Pediatric Dentistry, 2016; Tinanoff et al., 2019]. Eine Komplikation, die sich daraus ergibt, ist ein Platzmangel aufgrund der in die Lücke wandernden Zähne oder ein verkürzter Zahnbogen. Die Folgen sind vermehrte kieferorthopädische Frühbehandlungen [Raja et al., 2018; Bhujel et al., 2016; Brown et al., 2019].

Im Rahmen einer kürzlich publizierten Untersuchung evaluierten Wissenschaftler der Universität Jena ein bereits etabliertes regionales Gesundheitsprogramm für junge Familien bezüglich des Einflusses auf den frühkieferorthopädischen Behandlungsbedarf der teilnehmenden Kinder.

Das Präventionsprogramm

Seit 2009 hat das Jugendamt der Stadt Jena in Thüringen einen kommunalen Besuchsdienst für alle Neugeborenen in Kooperation mit der Sektion Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde des Universitätsklinikums Jena etabliert. Dabei besuchen qualifizierte Mitarbeiter (Krankenschwestern, Hebammen, Sozialarbeiterinnen) pro Jahr circa 1.000 junge Familien in den ersten Wochen nach der Geburt ihres Kindes. Der Besuchsdienst berät die Familien über allgemeine Gesundheitsaspekte, Ernährung sowie über die Zahn- und Mundpflege von Babys und Kleinkindern. Im Besonderen klären die Mitarbeiter über die Bedeutung des Stillens, über die Verwendung von Saugflaschen und Schnullern, die Kariesvermeidung durch zuckerarme Ernährung und eine regelmäßige Zahnpflege mit fluoridhaltiger Zahnpasta ab dem ersten Zahn auf. Jede Familie erhält die Informationen zusätzlich schriftlich in ihrer Muttersprache. Auch die Universitätszahnklinik in Jena ist an dem Präventionsprogramm beteiligt.

Für eine Evaluation dieser Maßnahmen wurden die Familien des Geburtsjahrgangs Juli 2009 bis Oktober 2010 (n = 1.162) im ersten Lebensjahr ihres Kindes zu einer zahnärztlichen Untersuchung in die Sektion Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde eingeladen. Aus der Geburtskohorte folgten 512 Familien der Einladung, sie wurden in das regelmäßige Zahnpflegeprogramm der Sektion Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde aufgenommen. 650 Familien folgten der Einladung nicht und bildeten damit die Kontrollgruppe. Die Zahnmediziner bewerteten das Kariesrisiko der Präventions-Kinder nach dem Caries-Risk Assessment Tool für Säuglinge, Kinder und Jugendliche der American Academy of Pediatric Dentistry (AAPD). Kinder mit geringem und mittlerem Kariesrisiko bestellten die Zahnmediziner halbjährlich ein, jene mit erhöhtem Kariesrisiko alle drei Monate [American Academy of Pediatric Dentistry, 2014 und 2018]. In den ersten drei Lebensjahren erhielten nur die Kinder mit erhöhtem Kariesrisiko einen Fluoridlack (Fluoridin N5, VOCO GmbH). Ab einem Alter von drei Jahren erhielten auch die Kinder mit geringem und mäßigem Kariesrisiko zweimal jährlich einen Fluoridlack. Die Hochrisikokinder über drei Jahre bekamen den Lack vierteljährlich aufgetragen.

Das Team um die Privatdozentin Dr. Yvonne Wagner evaluierte das Programm, indem es die teilnehmenden Kinder im Alter von drei und von fünf Jahren wiedereinbestellte und mit denen aus derselben Geburtskohorte verglich, die nicht am Präventionsprogramm teilnahmen. Die Ergebnisse dieser beiden Evaluationen sind bereits 2016 und 2017 im Journal „Clinical Oral Investigations“ publiziert worden [Wagner und Heinrich-Weltzien, 2016 und 2017].

Material und Methode

Für die vorliegende Studie bestellten die Wissenschaftler alle 289 Familien erneut ein, die an der letzten Evaluierung teilgenommen hatten, als die Kinder fünf Jahre alt waren. Dies entsprach 24 Prozent der ursprünglichen Geburtskohorte. Von den eingeladenen Familien erschienen 227, knapp 20 Prozent der Geburtskohorte Juli 2009 bis Oktober 2010. 127 Familien gehörten zur Präventionsgruppe, 100 bildeten die Kontrollgruppe.

Zwei Zahnärzte untersuchten die Kinder nach erfolgter Zahnreinigung. Sie wussten nicht, ob die Kinder der Präventions- oder der Kontrollgruppe angehörten. Die Untersuchung erfolgte mit Mundspiegel und einer WHO-Sonde ohne die Anfertigung von Röntgenbildern. Die Untersucher ermittelten die dmfs/DMFS-Werte auf D1 Basis (Karies im Zahnschmelz, Oberfläche noch intakt) nach WHO-Kriterien [WHO Oral health surveys, 2013].

Bei Kindern mit vorzeitigem Milchzahnverlust nahmen die Behandler Alginatabdrücke und stellten kieferorthopädische Studienmodelle aus Gips her. Die Modelle werteten zwei Kieferorthopäden aus, die ebenfalls nicht wussten, aus welcher Patientengruppe die Gipsmodelle stammten. Die Kieferorthopäden maßen das inzisale Segment des Zahnbogens (zwischen den Distalflächen der lateralen Inzisiven) und die lateralen Segmente von den Distalflächen des lateralen Schneidezahns bis zur Mesialfläche des ersten Molaren.

Ergebnisse

Die achtjährigen Kinder der Präventionsgruppe hatten eine signifikant niedrigere Kariesprävalenz und -erfahrung verglichen mit der Kontrollgruppe. Bezogen die Forscher noch Angaben zum sozialökonomischen Status mit in die Auswertung ein, so zeigte sich, dass Kinder mit niedrigem sozialökonomischem Status die meiste Karieserfahrung sowohl in der Präventions- als auch in der Kontrollgruppe hatten. Der Anteil der Kinder mit niedrigem sozialökonomischen Status war in beiden Gruppen etwa gleich.

Die kieferorthopädische Auswertung ergab eine höhere Prävalenz von vorzeitigem Zahnverlust in der Kontrollgruppe (41 Prozent) gegenüber der Präventionsgruppe (7,9 Prozent). Der Anstieg dieser Prävalenz war für beide Gruppen im Vergleich zu früheren Untersuchungen im Alter von drei und fünf Jahren exponentiell, mit einer signifikant höheren Zahl fehlender Zähne in der Kontrollgruppe. Bezogen auf die gesamte Geburtskohorte ging am häufigsten der Milchmolar 54 verloren – und zwar bei fast jedem zweiten Kind (45 Prozent).

Die kieferorthopädische Auswertung ergab in Fällen von vorzeitigem Milchzahnverlust ein allgemein signifikant geringeres Platzangebot bei den Zahnbögen der Kinder aus der Kontrollgruppe. Im Oberkiefer (4,2 ± 4,5 mm) war der Platzverlust in der Kontrollgruppe signifikant höher als im Unterkiefer (2,3 ± 4,2 mm). Der Platzverlust in der Präventionsgruppe war dagegen im Unterkiefer erhöht (0,5 ± 1,5 mm gegen 0,2 ± 3,3 mm), allerdings gegenüber dem Oberkiefer nicht signifikant. Die Kinder aus Familien mit geringem sozialökonomischen Status hatten einen signifikant höheren Platzverlust (5,4 ± 4,2 mm) im Vergleich zu Kindern mit einem mittleren oder hohen Status (1,0 ± 3,2 mm). Bei 31,4 Prozent aller Kinder mit vorzeitigem Milchzahnverlust war ein kieferorthopädischer Behandlungsbedarf aufgrund der mesialen Drift der Seitenzähne und des daraus resultierenden Platzverlusts vorhanden.

Diskussion

Die Ergebnisse der vorliegenden und früheren Analysen zeigten eine erhöhte Prävalenz von vorzeitigem Zahnverlust mit zunehmendem Alter der Kinder sowohl in der Kontroll- als auch in der Präventionsgruppe. Die Anzahl der frühzeitig verloren gegangenen Zähne war bei der Kontrollgruppe allerdings um ein Vielfaches höher als bei der Präventionsgruppe, wie die Studienerstautorin schon in ihrer Publikation aus dem Jahr 2017 zeigen konnte [Wagner und Heinrich-Weltzien 2017]. Die Teilnahme am zahnärztlichen Präventionsprogramm führte zu einer deutlich geringeren Prävalenz von vorzeitigem Zahnverlust (7,9 Prozent) in der Präventionsgruppe und zu einer Verzögerung des Zahnverlusts von zwei bis drei Jahren im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Das Präventionsprogramm brachte den zusätzlichen Vorteil, dass die Zahnärzte bei einem vorzeitigen Zahnverlust die Lücke und die Zahnentwicklung überwachen und bei Bedarf einen Platzhalter einsetzen konnten. Die Zahnwanderung kann innerhalb von drei Wochen nach der Zahnextraktion beginnen und mehrere Monate andauern. Mehrere Studien zeigten bereits die Bedeutung von Platzhaltern [Bindayel, 2019; Alnahwi, 2015]. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass es zu Platzverlust gekommen war, wenn die Situation lediglich den Eltern überlassen und nicht von Zahnärzten überwacht wurde.

Karies tritt besonders häufig in sozioökonomisch benachteiligten Gruppen auf [Schwendicke et al., 2015]. In dieser Studie ist der sozioökonomische Status ebenfalls eine Einflussvariable auf die Kariesentwicklung und den daraus resultierenden vorzeitigen Zahnverlust. Das Präventionsprogramm hat sich positiv auf die Zahngesundheit von 8-Jährigen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status ausgewirkt, obwohl diese Untergruppen sehr klein sind und kaum generelle Aussagen aufgrunddessen getroffen werden können. Doch in der Tendenz hat das Präventionsprogramm die vom sozioökonomischen Status abhängigen Unterschiede in Bezug auf Karieserfahrung, vorzeitigen Zahnverlust und Zahnbogenlängendifferenzen ausgleichen können.

Fazit

Kinder, die zeitnah nach der Geburt in ein regelmäßiges Präventionskonzept mit kontinuierlicher Zahnpflege eingebunden sind, hatten in dieser Untersuchung – wie auch in den Vorläuferstudien – eine bessere Mundgesundheit mit weniger vorzeitigem Verlust der Milchzähne. Das führte zu einem geringeren Bedarf an kieferorthopädischer Frühbehandlung im Alter von acht Jahren.

Dr. Med. Dent. Kerstin Albrecht

Medizin-/Dentaljournalistin

Quelle: Yvonne Wagner, I. Knaup, T. J. Knaup, C. Jacobs & M. Wolf: „Influence of a programme for prevention of early childhood caries on early orthodontic treatment needs“, Clinical Oral Investigations (2020); doi: 10.1007 / s00784–020–03295–4.

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Dr. Kerstin Albrecht

Medizin-/Dentaljournalistin

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