zm-Serie: Täter und Verfolgte im „Dritten Reich“

Wie gehen wir mit diesem Wissen um?

Matthis Krischel

In diesem Beitrag werden die Lebensgeschichten von 17 Verfolgten in den Kontext der Erinnerungskultur in der deutschen Medizin und Zahnmedizin eingebettet. Dabei sollen noch einmal zentrale Punkte der historischen Forschung zu Verfolgten in der Zahnmedizin deutlich gemacht und abschließend einige Fragen aufgeworfen werden, die die organisierte Zahnärzteschaft in Deutschland für sich selbst beantworten muss – nach dem Platz, den das Wissen im Gedächtnis der deutschen Zahnärzteschaft einnehmen soll, der Benennung von Preisen und Institutionen nach belasteten Personen und dem Andenken an Verfolgte.

Ärzte und Zahnärzte sollten mehr über den Nationalsozialismus wissen“, forderte Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, im September 2020 in den zm.1 Die Ergebnisse des gemeinsam von BZÄK, KZBV und DGZMK geförderten Aufarbeitungsprojekts zur Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus, das 2017 begonnen worden war, sind in diesem Jahr in einer 18-teiligen Reihe einer breiten zahnärztlichen Öffentlichkeit in dieser Zeitschrift vorgestellt worden.2

Den Kern der Reihe bilden – eingerahmt von einem Einführungsartikel zu Beginn und diesem Abschlussbeitrag – Biografien von Zahnärztinnen und Zahnärzten, Dentistinnen und Dentisten, die in der Zeit des Nationalsozialismus entweder als Täter aufgetreten sind oder aus unterschiedlichen Gründen verfolgt wurden.

Diese unterschiedlichen Lebensgeschichten stellen anschaulich dar, welche Rollen Zahnärzte in den 1930er- und 1940er-Jahren einnehmen konnten. Gleichzeitig deuten viele Biografien an, wie bis weit in die Nachkriegszeit mit dem Nationalsozialismus umgegangen wurde, etwa wenn belastete Personen ihre Karrieren fortsetzen konnten oder überlebende Verfolgte mühsam „Wiedergutmachung“ vor Gericht erstreiten mussten. Die Reihe von Biografien ermöglicht es nun, mehr über den Nationalsozialismus zu wissen und dieses Wissen mit konkreten Namen und Gesichtern zu verbinden.

Im Jahr 2020 sind nur noch sehr wenige Überlebende des Holocaust in der Lage, als Zeitzeugen zu berichten. Ebenso gibt es nur noch ganz vereinzelt persönlich belastete Täter, die 75 Jahre nach Kriegsende noch am Lebens sind. Damit hat sich die Erinnerung an die Zahnmedizin im Nationalsozialismus endgültig vom sozialen Gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis verschoben, das heißt, die Geschichte wird nicht mehr von Person zu Person weitererzählt, sie ist nun in Dokumenten – vor allem in Bildern und Texten – konserviert.3

Erinnert wird an die (Zahn-)Medizin im Nationalsozialismus in formalisierter Weise. Ein Beispiel dafür ist der Herbert-Lewin-Preis für Forschung zur Rolle der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus,4 an dessen Ausschreibung sich die Bundeszahnärztekammer und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung seit 2019 beteiligen.

Vom sozialen ins kulturelle Gedächtnis

Vor einer Generation, als einige belastete Personen noch am Leben waren, aber auch, während ihre direkten akademischen Schüler leitende Stellen an Universitäten und in Standesorganisationen bekleideten, konnten noch explizite oder implizite Loyalitäten wirken und so eine kritische Aufarbeitung hemmen. Verfolgten Kolleginnen und Kollegen wurde dabei früher gedacht als Täter benannt und ihr Handeln problematisiert werden konnte.

Eines der – seltenen – Beispiele für ein frühes Gedenken stellt etwa eine Reihe von Artikeln dar, die der in die USA geflohene Zahnarzt Hans Sachs5 bereits 1966 in den zm veröffentlichte.6

Fritz Witt (1887–1969) nahm offenbar nach der Gründung des Forschungsinstituts für Geschichte der Zahnheilkunde 1965/66 in Köln Kontakt zu mehreren vertriebenen Kollegen auf. Darauf deuten Mappen hin, die er anlegte7. Auf Witts Karriere in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik mit ihren Kontinuitäten, Brüchen und Widersprüchen hat Gisela Tascher hingewiesen.9

Er war im „Dritten Reich“ zweiter Geschäftsführer des Reichsverbands der Zahnärzte Deutschlands gewesen und hatte in dieser Funktion an der Verdrängung der jüdischen Kolleginnen und Kollegen mitgewirkt. In der Bundesrepublik war er bis 1956 Geschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Zahnärzte, der Vorgängerorganisation der Bundeszahnärztekammer.

Gleichzeitig hatte Witt vor 1933 eng mit dem Zahnmedizinhistoriker Curt Proskauer (1887–1972) zusammengearbeitet, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach New York emigrieren musste. Zudem schloss das von Witt in Köln gegründete Forschungsinstitut an die Tradition des vor dem Krieg von Proskauer in Berlin gegründeten Reichsinstitut für Geschichte der Zahnheilkunde an.

Während in den 1980er-Jahren die Aufarbeitung der Zahnmedizin im Nationalsozialismus noch nicht aus der Mitte der organisierten Zahnärzteschaft kam, sondern vor allem von Mitgliedern der Vereinigung Demokratische Zahnmedizin ausging9 und es auch Anfang der 1990er-Jahre noch Widerstände vonseiten der Forschungsstelle für Geschichte der Zahnheilkunde in Köln gab,10 ist die Situation heute eine gänzlich andere. Im Rahmen der Pressekonferenz, bei der im November 2019 in Berlin die Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus vorgestellt wurden, war den Vertretern der drei fördernden Institutionen ihre tiefe Betroffenheit und ihr aufrichtiger Wunsch anzumerken, Licht in dieses dunkle Kapitel zu bringen.11

Zur Forschungslage zu verfolgten Zahnärzten

Über die quantitative Dimension der Verfolgung von Zahnärztinnen und Zahnärzten im Nationalsozialismus ist bereits seit Ende 2019 Einiges bekannt:12 Mehr als 1.300 Zahnärztinnen und Zahnärzte gehörten zu den Verfolgten, dazu kommen mehr als 300 Zahntechnikerinnen und Dentisten und mehr als 60 Studierende.

Die Gründe der Verfolgung waren ganz überwiegend rassistischer Natur, die Personen wurden als Mitglieder der jüdischen Religion oder wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt. Auch politische Aktivität im linken Spektrum – als Kommunist, Sozialist oder Sozialdemokrat – konnte zum Entzug der Zulassung und zur Verhaftung führen. Ein Beispiel hierfür ist Ewald Fabian (1885–1944) aus Berlin, der bereits 1933 aus Deutschland floh und im Exil das Internationale Ärztliche Bulletin herausgab.13

Die Anzahl der Fälle, in denen Personen aus politischen Gründen, aber nicht gleichzeitig auch aus rassistischen Gründen verfolgt wurden, scheint jedoch verhältnismäßig gering. Zu den weiteren Gründen für Verfolgung zählte auch sexuelle Orientierung, von mindestens elf Zahnärzten ist bekannt, dass ihnen deshalb die Approbation entzogen wurde, zusätzlich drohte ihnen Haft im Zuchthaus oder im Konzentrationslager. In einer solchen Verfolgungssituation sah Engelbert Decker (1889–1941) aus Hamburg nur den Suizid als Ausweg.14

Etwa zwei Drittel der Verfolgten konnten aus Deutschland fliehen, aber nur eine Minderheit der Emigranten konnte in ihren Zielländern wieder zahnärztlich tätig werden. In vielen Fällen verlief die Flucht über mehrere Etappen – wie etwa bei Jenny Cohen15 (1905–1976) oder Ernst Hausmann (1906–1963).16

Wer nicht rechtzeitig fliehen konnte oder wollte, wurde deportiert und in Ghettos, Konzentrations- oder Vernichtungslagern ermordet. Dies betraf etwa ein Viertel der verfolgten Zahnbehandler, darunter Waldemar Spier (1889–1945) aus Düsseldorf17 oder Julius Misch (1874–1942) aus Berlin.18 Etwa jeder 20. Verfolgte sah die „Flucht in den Tod“ (Suizid) als letzte selbstbestimmte Handlung, wie Therese Schwarz (1893–1943) aus Wiesbaden.19

Bisher waren nur relativ wenige Biografien von verfolgten Zahnärzten bekannt, darunter Größen des Faches wie Alfred Kantorowicz (1880–1962) und Hans Moral (1885–1933). Oft handelte es sich um akademisch tätige Zahnärzte. Im Rahmen der biografischen Reihe war es das Ziel der Autoren, diesen Kreis auszuweiten und anhand der individuellen Lebensgeschichten von Männern und Frauen verschiedene Schicksale von verfolgten Zahnbehandlern im Nationalsozialismus aufzuzeigen. Die erzählten Geschichten sind dabei immer individuell, es gibt jedoch für jeden Grund der Verfolgung, für jeden Lebensweg, für jede Art den Lebensunterhalt zu verdienen und für jede gefundene neue Heimat viele ähnliche Geschichten. Die nebenstehende Tabelle gibt einen Überblick über die Verfolgungsgeschichten und Schicksale.

Drei Fragen an die Zahnärzteschaft

Zum Ende der biografischen Reihe bleiben einige Fragen an die organisierte Zahnärzteschaft offen. Nun, da Zahnärzte anhand von anschaulichen Vignetten die Lebensläufe von Kolleginnen und Kollegen kennengelernt haben, die im Nationalsozialismus zu Tätern wurden oder als „Opfer“ verfolgt wurden, wie geht sie mit diesem Wissen um? Und wie stellt sie sicher, dass dieses Wissen ein Teil des kulturellen Gedächtnisses der Zahnmedizin wird und bleibt? Hierzu möchte ich drei Fragen stellen, die von der organisierten Zahnärzteschaft selbst beantwortet werden müssen. Im besten Fall entsteht dazu eine breite Diskussion.

1. Welche Rolle sollte die Zahnmedizin im Nationalsozialismus in der zahnärztlichen Ausbildung spielen?

Im Studium der Humanmedizin gibt es seit 2002 einen verpflichtenden Querschnittsbereich „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ und man wird heute kaum eine medizinische Fakultät in Deutschland finden, an der die Medizin im Nationalsozialismus nicht Lehrinhalt dieses Querschnittsbereichs ist. Die geplante, neue Approbationsordnung für Zahnärzte sieht ein neues Pflichtfach „Ethik und Geschichte der Zahnmedizin und Medizin“ vor. Welches Wissen über die Zahnmedizin im Nationalsozialismus sollte zum neuen Ausbildungskanon gehören?

2. Wen möchten sich Zahnärztinnen und Zahnärzte in Deutschland zum Vorbild nehmen?

Die Diskussion um den Walkhoff-Preis, den die Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung nach den Erkenntnissen der Forschungsprojekts zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus umbenannt hat, zeigt, dass diese Gesellschaft sich den Nationalsozialisten Walkhoff nicht länger als Namensgeber für einen von ihr verliehenen Preis vorstellen konnte. 2005 wurde die Hermann-Euler-Medaille umbenannt, weitere eponyme Preise folgten.20

Auch in Zukunft wird sich die organisierte Zahnärzteschaft fragen müssen, wer als Vorbild und Namensgeber dienen soll.

3. Wie soll in Zukunft an verfolgte Kolleginnen und Kollegen erinnert werden?

Nur zwei im „Dritten Reich“ vertriebene Zahnärzte – Alfred Kantorowicz und Erich Knoche – wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Ehrenmitglieder deutscher Zahnmedizinischer Fachgesellschaften.21

Einzelne Landeszahnärztekammern – wie die in Berlin – haben eine Tafel mit den Namen ihrer verfolgten, ehemaligen Mitglieder aufgestellt, die Landeszahnärztekammer Hamburg hat die Patenschaft für einen Stolperstein für ein verfolgtes ehemaliges Mitglied übernommen. Auch die Förderung des Forschungsprojekts zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus hat dazu beigetragen, dass viele bisher verborgene Biografien ans Licht und in den Druck gekommen sind – auch in dieser Zeitschrift. Welche kreativen, zeitgemäßen Wege werden Mitglieder der zahnärztlichen Profession in Zukunft finden, um an ihre zwischen 1933 und 1945 diskriminierten und verfolgten Kolleginnen und Kollegen zu erinnern und ihr Andenken zu würdigen?

Dr. Matthis Krischel
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf E-mail:

Fußnoten

1 Prchala G (2020) ( https://www.zm-online.de/archiv/2020/18/gesellschaft/aerzte-und-zahnaerzte-sollten-mehr-ueber-den-nationalsozialismus-wissen-1/ ) (18.11.2020);
2 Groß D, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (1–2), 24–27;
3 Zu diesem Abschnitt vergleiche Krischel M, Halling T (2020) Erinnerungsorte und Erinnerungskultur – Zur Karriere der „Memory Studies“ in der Medizingeschichte. Medizinhistorisches Journal 55 (3), 219–231;
4 Heidner D (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (1–2), 10–11;
5 Halling T, Krischel M (2020). Zahnärztliche Mitteilungen 110 (3), 150–153;
6 Sachs H (1966) Zahnärztliche Mittelungen 56, 86–92, 130–132, 183–187;
7 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mittelungen 110 (8), 836–838;
8 Tascher G (2012) Zahnärztliche Mitteilungen 102 (19 A), 2512–2518;
9 Krischel M, Schwanke E, Halling T, Westemeier J, Groß D (2017) . Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift 72 (6), 477–480;
10 O.A. (2012) Recherchieren mit Hindernissen. Zahnärztliche Mitteilungen 102 (19 A), 2514;
11 Prchala G (2019) ( https://www.zm-online.de/news/politik/fuer-eine-kultur-der-erinnerung-in-gegenwart-und-zukunft/ ) (18.11.2020);
12 Krischel M, Halling T (2019) ( https://www.kzbv.de/zusammenfassung-verfolgte-zae-ns-krischel.download.d58f355624dd379709233850f82e145e.pdf ) (18.11.2020);
13 Krischel M, Halling T (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (7), 718–720;
14 Krischel M, Bollmann U, Halling T (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (11), 1127–1128;
15 Krischel M, Halling T (2020) Zahnärztliche Mittelungen 110 (9), 922–924;
16 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mittelungen 110 (22), 2213–2215;
17 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (1–2), 30–32;
18 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (20), 1975–1977;
19 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (4), 304–307;
20 O.A. (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 11 (18), 1704–1705;
21 Groß D, Wilms K (2019) Dossier 2: (https://www.bzaek.de/fileadmin/PDFs/fp/10_Dossier2_Ehrenmitglieder_DGZMK-Praesidenten.pdf) (18.11.2020)

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