Der Mensch ist kein autonomer Organismus, sondern stellt ein komplexes multi-zelluläres eukaryotisches System dar, das zahlreiche mikrobielle Symbionten, Noso-Symbionten und deren Genome beherbergt [Bordenstein und Theis, 2015]. Die Mikroorganismen in und auf dem menschlichen Körper können als ein funktionelles Organ betrachtet werden. Sie besitzen Bedeutung für physiologische Abläufe und letztendlich für die Gesundheit des Individuums. Die Anzahl der den menschlichen Körper besiedelnden Mikroorganismen übersteigt vermutlich die der eigenen Zellen [Sender et al., 2016]. Die Gemeinschaft der den Menschen besiedelnden mikrobiellen Spezies wird als Mikrobiom bezeichnet. Dieser Begriff umfasst alle Kommensalen, symbiotischen und pathogenen Mikroorganismen, deren genetische Information und Umgebung, mit der sie interagieren.
Die Entwicklung neuer Technologien zur Analyse des Genoms, insbesondere die „next generation“-Sequenziertechniken (NGS), und Entwicklungen auf dem Gebiet der Bioinformatik haben entscheidend zum heutigen Verständnis der Beziehungen von Organismus und Mikrobiom beigetragen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem das Humane Mikrobiom-Projekt [Turnbaugh et al., 2007] und weitere Metagenom-Projekte wie MetaHIT [MetaHIT Consortium, 2016], ein Projekt zur Untersuchung des Metagenoms des Darmtrakts, die helfen, das mikrobiologische Wissen zu ordnen und die Rolle des humanen Mikrobioms besser zu verstehen. Auch in Deutschland werden solche Projekte durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Eine bevölkerungs-repräsentative Studie, die NAKO-Gesundheitsstudie [GnC, 2014], besitzt umfangreiche Biobanken mit Blutproben und Mikrobiom-Proben aus verschiedenen Körperregionen.
Die mikrobielle Kolonisierung des menschlichen Individuums geschieht nicht zufällig. Die Aufnahme der Mikroorganismen erfolgt aus der näheren Umgebung, insbesondere aus der Familie. Die Beziehungen zwischen menschlichem Organismus und Mikrobiom haben sich im Laufe der Evolution über lange Zeiträume entwickelt. Das Mikrobiom hat die Entwicklung des Menschen begleitet und vice versa [Cornejo Ulloa et al., 2019]. Die Beziehung zwischen Mikrobiom und Individuum ist dynamisch und wird vom Lebensstil beeinflusst. Faktoren wie Ernährung, Rauchen und Stress können das Gleichgewicht dieses Ökosystems beeinflussen.
Das Mikrobiom
Ein Mikrobiom ist eine komplexe ökologische Gemeinschaft. Strukturell und funktionell organisierte mikrobielle Gemeinschaften sind als Biofilme an unterschiedlichen Oberflächen gebunden [Li und Tian, 2012]. Spezies-übergreifende Kooperationen und Antagonismen tragen zur ökologischen Stabilität bei. Bakterien innerhalb eines Biofilms können miteinander kommunizieren, indem sie diffusionsfähige Signalmoleküle produzieren, diese aussenden, empfangen und auf empfangene Signalmoleküle wiederum reagieren. Dies wird als Quorum Sensing bezeichnet und stellt im Rahmen der Kolonisation und Biofilmbildung die Reaktion auf konkurrierende Mikroorganismen und Veränderungen in der Umwelt dar. Quorum Sensing in Biofilmen beeinflusst auch die Virulenz und Pathogenität von Bakterien und ist daher ein wichtiger Faktor für die Kontrolle bakterieller Infektionen. Die Mikroorganismen in Biofilmen werden so in die Lage versetzt, toleranter gegenüber der Wirtsabwehr und antimikrobiellen Stoffen zu reagieren [Preda und Sandulescu, 2019].
Das Orale Mikrobiom
- 100 Milliarden Bakterien
- 200 prädominierende Bakterienspezies
- 700–1.000 bakterielle Taxa
- Kolonisation harter und weicher Oberflächen
- interindividuelle Variabilität: Jedes Individuum besitzt sein eigenes orales Mikrobiom.
- große Diversität
- orales Mikrobiom = „Fingerprint“
Die verschiedenen Mikrobiome des Menschen tragen zu wichtigen metabolischen, physiologischen und immunologischen Funktionen bei [Kilian et al., 2016; Donohoe et al., 2011; Krajmalnik-Brown et al., 2012; Relman, 2015]. Zu diesen Funktionen menschlicher Mikrobiome gehören:
- Differenzierung und Reifung von Schleimhäuten und ihrerImmunsysteme
- Verdauung
- Energiegewinnung
- Stoffwechselregulation und Kontrolle der Fettspeicherung
- Entgiftung
- Unterstützung der Barrierefunktion von Haut und Schleimhäuten
- Regulation des Immunsystems und Feinabstimmung seines Reaktionsmusters für ein Gleichgewicht zwischen pro- und antiinflammatorischen Prozessen
- Behinderung der Invasion von und Kolonisierung durch Pathogene
Die Zusammensetzung des Mikrobioms zeigt eine hohe Diversität zwischen unterschiedlichen Körperregionen. Auch interindividuell sind die Mikrobiome hochvariabel [Costello et al., 2009]. Trotz dieser Unterschiede ist die Gesamtfunktion der Mikrobiome recht konsistent [Gillings et al., 2015]
Das orale Mikrobiom
Die Mundhöhle ist kein homogener Lebensraum, sondern bietet unterschiedliche Habitate für die mikrobielle Besiedlung. Dies sind Zähne, der gingivale Sulkus, die Gingiva, Zunge, Wange, Lippe sowie harter und weicher Gaumen [Dewhirst et al., 2010]. Diese Habitate bilden ein sehr heterogenes ökologisches System und unterstützen das Wachstum sehr unterschiedlicher mikrobieller Gemeinschaften [Xu et al., 2015]. Die warme und feuchte Umgebung der Mundhöhle ist für das Wachstum unterschiedlicher Mikroorganismen geeignet und bietet von außen zugeführte und wirtseigene Nährstoffe wie zum Beispiel Proteine und Glykoproteine des Speichels und der Sulkusflüssigkeit [van´t Hof et al., 2014]. Im Gegensatz zu den weichgeweblichen Oberflächen der Mundhöhle, bei denen ein stetiger Epithelumsatz erfolgt, bieten die Zähne mit ihren harten „non-shedding“-Oberflächen einzigartige Besiedlungsräume für Mikroorganismen [Marsh und Devine, 2011].
Prof. Dr. Stefan Rupf
| privat
- 1989 – 1994: Studium der Zahnmedizin an der Universität Leipzig
- 1997: Promotion, Leipzig
- 2006: Habilitation, Leipzig
- 2007: Oberarzt Klinik für Zahnerhaltung Homburg/Saar
- 2012: außerplanmäßige Professur, Universität des Saarlandes
- 2020: Ruf auf die Professur für „Synoptische Zahnmedizin“, Universität des Saarlandes
- Forschungsschwerpunkte: - Kariesprozess: Biofilme, orales Mikrobiom- kaltes atmosphärisches Plasma- Biomaterialien
Bis heute wurden mehrere hundert prokaryotische Taxa in der Mundhöhle nachgewiesen. Viele von ihnen können mit den üblichen Kulturmethoden nicht isoliert werden. Etwa 57 Prozent sind bekannte Spezies, 13 Prozent sind unbenannt, aber kultivierbar und 30 Prozent sind nur als unkultivierte Phylotypen bekannt [HOMB, 2020]. Das orale Mikrobiom setzt sich nicht nur aus verschiedenen Bakterienspezies zusammen, sondern enthält auch Pilze, Viren, Bakteriophagen sowie ultrakleine Bakterien [Baker et al., 2017].
Symbiose und Dysbiose
Das orale Mikrobiom trägt sowohl zum lokalen oralen als auch zum allgemeinen Gesundheitszustand bei. Störungen können sich nachteilig auf die individuelle Gesundheit auswirken. Im Gegensatz zum gesunden, symbiotischen Mikrobiom liegt eine Dysbiose vor, wenn die Vielfalt der Keime reduziert und/oder die relativen Anteile von Spezies der mikrobiellen Gemeinschaft pathogen verändert sind [Valm, 2019].
In der gesunden Mundhöhle ist die Zusammensetzung der mikrobiellen Gemeinschaften bemerkenswert stabil. Allerdings bleiben die Beziehungen zwischen dem oralen Mikrobiom und seinem Wirt stets dynamisch. So beeinflussen Veränderungen im Laufe des Lebens eines Menschen die mikrobiellen Gemeinschaften [Marsh et al., 2015]. Beispiele dafür sind physiologische Veränderungen während des Alterns oder hormonelle Veränderungen in der Pubertät und in der Schwangerschaft. Die Anpassung erfolgt oft mit dauerhafter, teils jedoch auch mit reversibler Beeinträchtigung der Mundgesundheit [Zaure und ten Cate, 2015]. Eine Störung des Ökosystems der Mundhöhle führt zu einer dysbiotischen Verschiebung hin zueinem höheren Anteil pathogener Mikroorganismen mit dem Verlust des Gleichgewichts oder der Diversität von mikrobiellen Gemeinschaften [Gross et al., 2010].
Die Dysbiose ist dabei keine „Infektionskrankheit“, sondern bezeichnet ein orales Mikrobiom im Zustand der Erkrankung.
Zu den modifizierbaren Faktoren, die eine orale Dysbiose auslösen können, gehören Funktionsstörungen der Speicheldrüsen und damit Veränderungen des Speichelflusses oder seiner Zusammensetzung, eine unzureichende Mundhygiene, Ernährungsgewohnheiten und das Rauchen [Marsh et al., 2010; Wu et al., 2016]. Es ist heute ein anerkanntes Konzept, dass orale Erkrankungen als ungünstige Veränderung des natürlichen Gleichgewichts der Mikroorganismen und nicht als die Folge einer exogenen Infektion aufgefasst werden. Im Rahmen einer Dysbiose können krankheitsassoziierte Mikroorganismen in deutlich erhöhten Anteilen vorhanden sein, während sie unter gesunden Bedingungen harmlose Bestandteile des Biofilms sind [Larmont et al., 2018]. So wird Karies heute als Folge eines zugunsten kariogener Keime verschobenen (gestörten) mikrobiellen Gleichgewichts verstanden.
Systemische Folgen der oralen Dysbiose
Die Mundhöhle bietet den hier lebenden Mikroorganismen vielfältige Möglichkeiten, andere Körperregionen wie den Verdauungstrakt und die Atemwege zu erreichen. Im Fall inflammatorischer Prozesse oder in Folge von Verletzungen können Keime in Gewebe sowie in die Blutbahn gelangen.
Die Dysbiose im Rahmen von Parodontalerkrankungen kann den Auslöser einer Bakteriämie und der systemischen Verbreitung von oralen Bakterien darstellen. Eine effiziente Mundhygiene ist entscheidend für die Kontrolle der Gesamtbakterienlast [Forner et al., 2006; Han und Wang, 2013]. Komplexe Wechselbeziehungen zwischen dem oralen Mikrobiom und dem Immunsystem werden diskutiert und es wird angenommen, dass die orale Dysbiose bei der Entwicklung von Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, rheumatoider Arthritis, Lungenentzündung, ungünstigen Verläufen der Schwangerschaft, Schlaganfall, entzündlichen Darmerkrankungen und Darmkrebs, Meningitis oder Hirnabszessen, Lungen-, Leber- oder Milzabszessen, Nierenerkrankungen und der Blinddarmentzündung einen Beitrag leistet [Seitz et al., 2019].
Prof. Dr. med. dent. Matthias Hannig
| Universität des Saarlandes
- 1980–1986: Studium der Zahnheilkunde an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
- 1986–2000: wissenschaftlicher Assistent, später Oberarzt an der Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie der Universität Kiel
- 1987: Promotion
- 1994: Habilitation für das Fach Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
- 1999: Apl. Professor
- 2000–2002: stellvertretender Direktor der Abteilung Poliklinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie des Universitätsklinikums Freiburg
- seit 2002: Direktor der Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg/Saar
- 2006–2009: Forschungsdekan der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes
- 2009–2014: Vizepräsident (für Forschung) der Universität des Saarlandes
- seit 2014: Prodekan der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes
- 2016–2018: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahnerhaltung
- seit 2016: Editor-in-Chief „Clinical Oral Investigations“
Umgekehrt wird angenommen, dass systemische Erkrankungen wie Diabetes oder rheumatoide Arthritis das orale Mikrobiom beeinflussen [Han und Wang, 2013; Chapple und Genco, 2013; de Pablo et al., 2009]. Die Beteiligung einer Dysbiose des oralen Mikrobioms an der Entstehung der Adipositas wird diskutiert [Benahmed et al., 2020]. Die negative Beeinflussung des Typ-2-Diabetes und des Blutzuckerspiegels von Nichtdiabetikern durch die Parodontitis ist erwiesen. Hier besteht ein bidirektionaler Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der Parodontitis und diabetischen Komplikationen [Sanz et al., 2018].
Trotz der starken Evidenz für einen Zusammenhang zwischen der mikrobiellen Besiedlung eines Menschen und seinem Gesundheitszustand sind die kausalen Mechanismen, die diesem Zusammenhang zugrunde liegen, nur unzureichend erforscht. Abhängig von der untersuchten Krankheit sind ähnliche Muster in der Dysbiose des Mikrobioms für verschiedene Körperregionen und Organsysteme bekannt. Dies führt zur Hypothese, dass es körperweite mikrobiell induzierte Stoffwechselwege geben muss, die durch mikrobiellen Organ-Cross-Talk miteinander verbunden sind [Cornejo Ulloa et al., 2019]. Systematische, groß angelegte Studien über das Organ-Cross-Talking menschlicher Mikrobiota sind noch nicht verfügbar. Mikrobiomstudien, die in bestehenden populationsbasierten Kohortenstudien mit Langzeit-Follow-up durchgeführt werden, sind notwendig, um das Konzept des mikrobiellen Cross-Talk zwischen verschiedenen Mikrobiom-Standorten des Körpers auf seine Rolle für die menschliche Gesundheit und Krankheit hin zu bewerten.
Schlussfolgerungen
Die vielfältigen mikrobiellen Gemeinschaften, aus denen das orale Mikrobiom besteht, befinden sich in einem fein adjustierten Gleichgewicht und bieten Schutz vor Erkrankungen. Es ist wichtig, ihre natürliche Vielfalt zu erhalten. Der individuelle Lebensstil kann das natürliche Gleichgewicht des oralen Mikrobioms stören. Klinisches Ziel sollte es sein, ein symbiotisches Gleichgewicht im oralen Mikrobiom für den Patienten individuell zu erhalten. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei die Interaktion von (zahn)medizinischem Fachpersonal mit dem Patienten, um das Konzept eines ausgewogenen oralen Mikrobioms mit seiner hohen Bedeutung für die orale und systemische Gesundheit auch in der entsprechenden Lebenssituation anzuwenden. Wichtige Bausteine dieses Konzepts sind die Schulung des Personals, die Individualisierung geeigneter Präventionsstrategien, die individuelle Beratung zur Ernährung und zum Rauchen.
Künftige präventive Strategien
- individuelle Bewertung des Mikrobioms und der Wirtsantwort
- frühe Identifizierung von Risikopatienten
- personalisierter Ansatz zur Wiederherstellung eines mit Gesundheit assoziierten Mikrobioms nach einer Dysbiose
Mundhygienestrategien sollten ermöglichen, die Biofilmmengen auf einem mit der oralen Gesundheit kompatiblen Niveau zu halten. Hauptanliegen sollte die aktive Erhaltung der Gesundheit und nicht der Umgang mit der Krankheit sein. Ist eine Dysbiose einmal eingetreten, sollte das Behandlungsziel darin bestehen, das verlorene ökologische, symbiotische Gleichgewicht wiederherzustellen. Der Einsatz von Antibiotika zur Behandlung oraler Erkrankungen sollte restriktiv gehandhabt werden, um die nützlichen oralen Mikroorganismen zu schützen und Antibiotikaresistenzen zu vermeiden.
Die klinische Praxis mit ihrem historischen Schwerpunkt des Managements von Karies und Parodontitis durch Eliminierung der Mikroorganismen sollte zu einem proaktiven Management der Mundgesundheit durch einen ökologischen Ansatz für den Gesamtorganismus weiterentwickelt werden. Dafür ist eine individuelle Beurteilung des oralen Mikrobioms in Kombination mit klinischen Parametern zur Früherkennung von Individuen mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko zu entwickeln, um personalisierte Ansätze zum Erhalt eines gesundheitsassoziierten oralen Mikrobioms zu ermöglichen [Yu et al., 2019].
Keine Kommentare