Innovatio-Publikumspreis 2021

„Mein Zahnarzt kommt zu mir nach Hause!“

Das Projekt „Aufsuchende zahnmedizinische Betreuung“ in der Evangelischen Stiftung Volmarstein in Wetter an der Ruhr hat den Publikumspreis des Sozialpreises „innovatio“ gewonnen. Jeden Mittwoch bietet die Universität Witten/Herdecke zahnmedizinische Behandlungen im häuslichen Umfeld für rund 100 Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung an. Neben dem Oberarzt und einer ZFA nehmen auch Studierende am Projekt teil.

Gestartet ist das Projekt vor zwei Jahren. Zum ersten Mal wurde damals eine zahnmedizinische Hochschul-Ambulanz für Menschen mit schwerer Behinderung geschaffen, bei der die zahnärztliche Versorgung im häuslichen Umfeld stattfindet. „Vor Ort steht dem Zahnarzt und seiner ZFA eine transportable Dentaleinheit zur Verfügung, mit der er Prophylaxe, Füllungen oder Prothesenerweiterungen durchführen kann“, berichtet Prof. Dr. Andreas Schulte, Inhaber des Lehrstuhls für Behindertenorientierte Zahnmedizin an der Uni Witten/Herdecke. „Röntgenaufnahmen oder chirurgische Eingriffe sind dort leider nicht möglich.“

Jeden Mittwoch fährt Oberarzt Dr. Peter Schmidt mit einer ZFA in die Einrichtung, um die Bewohnerinnen und Bewohner zu behandeln. „Für Menschen mit körperlicher, geistiger und Mehrfachbehinderung ist der Weg zum Zahnarzt oft sehr beschwerlich und belastend. Die Behandlungsmöglichkeit in vertrauter Umgebung ist für die Patienten viel angenehmer. So spart man Zeit und sie werden wegen des Transports nicht eingeschüchtert“, führt Schulte aus. „Außerdem kann vor Ort der pflegende Betreuer dabei sein, was den Patienten die Angst nimmt und somit die zahnärztliche Betreuung einfacher gestaltet.“

Mehr Vertrauen, weniger Stress, weniger Angst

„Für die Bewohner fällt so der Stress durch den Transport weg. Viele von ihnen weisen schwere Mehrfachbehinderungen auf, sowohl kognitiv als auch körperlich“, betont Felicitas Kleeberg, Leiterin für sozialtherapeutische Dienste Dienste in der Spezialpflege der Ev. Stiftung. So wird im Haus Bethanien ein Pflegeschwerpunkt auf Huntington-Erkrankte gelegt. Kleeberg: „Bei ihnen kann negative Aufregung oder ein erhöhtes Stresslevel zu Schüben führen. Daher ist eine Behandlung in ihrer bekannten Umgebung geeigneter.“ Es sei auch eine Kostenfrage, da die Krankenkassen die Fahrkosten zur Behandlung sparen. „Außerdem ist es für uns eine zeitliche Erleichterung, weil die Fahrten immer begleitet werden müssen.“

Interview mit Oberarzt Dr. Peter Schmidt

„Künftig wird es zum Alltag des Zahnmediziners dazugehören, vermerht Patienten in ihrer Lebenswelt aufzusuchen!“

1. Wie viele Studierende nehmen aktuell am Projekt teil? 

Insgesamt haben in jedem Jahr etwa 90 Studierende aus dem klinischen Abschnitt die Möglichkeit, selbst Teil der aufsuchenden Versorgung zu sein. Jeden Mittwoch begleitet uns eine Studentin oder ein Student in die Einrichtung, damit jeder Studierende die Chance hat, an einem Behandlungstermin mitzumachen. Die Fortführung des Projekts ist definitiv geplant.

2. Wie ist die Resonanz unter den Studierenden?

Aus meiner Erfahrung und Beobachtung heraus wird die Teilnahme am Projekt von den Studierenden durchweg positiv empfunden. Wir haben begonnen, das Projekt zu evaluieren und führen Befragungen unter den einzelnen Personengruppen durch. Wir haben bereits die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen, die Angehörigen der Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Bewohnerinnen und Bewohner selbst zu dem Projekt und ihren Erfahrungen befragt. Momentan sind wir dabei, die Studierenden zu fragen.

3. Welche Behandlungen führen Sie durch?

Jeden Mittwochvormittag behandeln wir im Durchschnitt acht bis zehn Patientinnen und Patienten. Hierfür vergeben wir im Vorfeld Termine. Natürlich werden Schmerzpatienten auch kurzfristig behandelt. Wir führen vor Ort präventive Leistungen durch, beispielsweise Kontrolluntersuchungen, regelmäßige Recalls, professionelle Zahnreinigungen, Füllungstherapien sowie kleinere prothetische Reparaturen.

4. Wie viele Patienten haben Sie insgesamt?

Die evangelische Stiftung ist in unterschiedliche Bereiche aufgeteilt. Aktuell betreuen wir zwei Häuser, die zur Spezialpflege gehören. Hier leben Menschen mit schweren Behinderungen, die oft nicht mobil sind. Daher macht es Sinn, vor Ort zahnmedizinische Behandlungen anzubieten. Aufgrund der freien Arztwahl werden nicht alle Bewohnerinnen und Bewohner von uns betreut, aber die Mehrheit. Insgesamt nehmen etwa 100 Personen unser Behandlungsangebot an.

5. Wie nehmen die Patienten die Behandlung an?

Wir haben festgestellt, dass die Patientinnen und Patienten in ihrer gewohnten Umgebung entspannter sind. Sie sind froh darüber, dass wir ihnen die Möglichkeit anbieten, sich zu Hause behandeln zu lassen. Neben unserer zahnmedizinischen Behandlung befindet sich in demselben Haus auch eine allgemeinmedizinische sowie eine podologische Praxis.

6. Welche Erfahrungen haben Sie gesammelt?

Ich persönlich freue mich, dass das Projekt realisiert werden konnte. Für mich ist dieses Projekt Bestandteil eines sich wandelnden Zahnarztberufs. Der Beruf des Zahnarztes wird sich in Zukunft dahingehend wandeln, dass ein Teil der Versorgung nicht mehr nur in der Zahnarztpraxis stattfinden könnte. Künftig wird es zum Alltag eines Zahnmediziners dazugehören, vermehrt Patienten in ihrer Lebenswelt aufzusuchen, besonders Menschen mit Handicap oder demenziellen Erkrankungen. Also diejenigen, die es alters- oder mobilitätsbedingt nicht schaffen, selbst die Zahnarztpraxis aufzusuchen. Im Sinne des Vertrauensaufbaus und der Stressreduktion müssen bestimmte Angebote in den Lebenswelten stattfinden. Für uns als Universität ist es wichtig und entscheidend, frühzeitig die Studierenden auf diese Arbeit vorzubereiten und zu zeigen, dass diese Form der Behandlung in die Zukunft zunehmend dazugehören wird. So können auch Hemmungen abgebaut werden. Wünschenswert wäre, dass auch andere Universitäten und Institutionen diese Praxiserfahrung mit in ihren Lehrplan aufnehmen, unabhängig davon wie die Umsetzung aussieht.

7. Haben Sie schon Pläne für das Preisgeld?

Wir haben den Preis zusammen mit der Evangelischen Stiftung bekommen und werden gemeinsam entscheiden, wofür das Geld verwendet wird. Aktuell sind wir dabei die Räumlichkeiten anzupassen. Hierfür werden wir wahrscheinlich das Geld nutzen. Gerne würden wir uns ein mobiles Röntgengerät zulegen.

Seit 2016 arbeitet Dr. Peter Schmidt in der Abteilung und am Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin der Universität Witten/Herdecke. Zum Oberarzt der Abteilung wurde er im November 2018 ernannt. Zahnmedizin hat er von 2008 bis 2013 in Jena studiert. In den Jahren 2017 bis 2020 hat er ein postgraduales Weiterbildungsstudium zur Kinderzahnheilkunde an der Universitäten in Gießen und Marburg absolviert. 

Das gemeinsame Ziel sei, so Kleeberg, das Projekt weiter zu etablieren und noch andere Häuser der Einrichtung dafür zu gewinnen. „Allerdings ist die Verlängerung des Projekts von der Bewilligung der Krankenkassen abhängig. Es hat uns sehr gefreut, dass wir im letzten Jahr eine Verlängerung für weitere 2 Jahre bis Ende 2022 erhalten haben. Leider ist derzeit eine dauerhafte Bewilligung noch nicht in Sicht. Wir müssen darum kämpfen, dass wir weitermachen können. Im Laufe der zwei Jahre konnten wir das Projekt bereits räumlich und organisatorisch weiterentwickeln. Wir haben in einem kleinen Raum begonnen und sind jetzt in einen größeren umgezogen. Für die Zukunft hoffen wir, dass es mit dem Kauf eines mobilen Röntgengeräts klappt. Das wäre eine Erleichterung für die Patientinnen und Patienten, um ihnen weitere Fahrten zu ersparen“, wünscht sich Kleeberg. 

Behindertenorientierte Zahnmedizin mit Tradition

An der Zahnklinik der Universität Witten/ Herdecke hat die Einbeziehung der Studierenden bei der Versorgung von Patienten mit Behinderung eine langjährige Tradition. Die Mitarbeit bei diesem Projekt ist Bestandteil des studentischen Unterrichts. „Studierende im Fach Zahnmedizin erhalten im vierten und im fünften Studienjahr Praxis-Unterricht in behindertenorientierter Zahnmedizin. Seit dem Wintersemester 2016/2017 wurde das Praktikum „Kommunikation mit Patienten mit Behinderung“ eingeführt. Alle Teilnehmer am integrierten klinischen Kurs müssen im 7. Fachsemester in Dreiergruppen an diesem Praktikum teilnehmen“, erklärt Schulte.

Das Projekt „Mein Zahnarzt kommt zu mir nach Hause! – Zahnmedizinische Ambulanz in der ESV“ gewann in diesem Jahr den Publikumspreisdes Sozialpreises „innovatio“. Bei diesem Preis entscheidet keine Jury darüber, wer gewinnt, sondern das Publikum. Vom 6. bis zum 28. April konnte darüber abgestimmt werden, welches Projekt unter den 20 Finalisten den Publikumspreis in Höhe von 4.000 Euro erhält. Mit 9.242 Stimmen gewann die Evangelische Stiftung Volmarstein. Die Preisverleihung soll am 28. September virtuell stattfinden. Zu diesem Zeitpunkt erhält das Projekt auch das Preisgeld. „Das können wir gut gebrauchen“, erklärt Schulte. „Schon länger planen wir die Anschaffung eines Röntgengeräts. Daher freuen wir uns über jede Spende, die uns weiterhilft.“ „Wir hoffen, dass unser Projekt für andere Einrichtungen und Universitäten in Zukunft als Vorbild dienen könnte“, wagt Schulte einen Ausblick.

Fünf Fragen an Studentin Charlotte Beckers

1. In welchem Semester befinden Sie sich und warum die Universität Witten/Herdecke?

Ich bin aktuell im 10. Semester, dem letzten Semester in Vorbereitung auf mein Staatsexamen. Vor meinem Studium an der Universität Witten/Herdecke habe ich eine Ausbildung zur ZFA in Köln absolviert, wo ich aufgewachsen bin. Auf Empfehlung einer Freundin und meines ehemaligen Chefs habe ich mich für das Zahnmedizinstudium in Witten/Herdecke beworben. Ich mag vor allem die familiäre Stimmung. Da die Uni kleiner ist, kennt sich fast jeder. Man grüßt sich noch mit Namen auf dem Flur. Außerdem gibt es Leuchttürme, die die Uni ausmachen, wie beispielsweise die Behindertenorientierte Zahnmedizin, die an anderen deutschen Universitäten nicht angeboten wird. Ab dem 6. Semester ist man ständig mit Patienten in Kontakt und kann viel praktische Erfahrung fürs spätere Berufsleben sammeln.

2. Seit wann sind Sie beim Projekt in der Stiftung Volmarstein dabei?

Im April 2019 fand die erste zahnmedizinische Behandlung in der Stiftung Volmarstein statt. Von da an war ich auch als studentische Hilfskraft in der Behindertenorientierten Zahnmedizin tätig und habe etwa sechsmal an Behandlungen in der Einrichtung teilgenommen. Unter Aufsicht von Herrn Dr. Schmidt durfte ich einige Male einfache Tätigkeiten übernehmen, zum Beispiel eine Zahnreinigung oder die Aufklärung der Betreuer in Bezug auf die unterstützende Mundpflege durchführen. Außerdem durfte ich auch Kontrollen durchführen, um zu schauen, ob alles mit den Zähnen der Patienten in Ordnung ist. Bei Menschen mit schweren Behinderungen kann es allerdings schwierig sein, minimalinvasive Behandlungen ohne Narkose durchzuführen.

3. Was bedeutet das Projekt für Sie?

Aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen Studierenden, zahnmedizinischen Fachangestellten, Ärzten und dem Team aus der Evangelischen Stiftung funktioniert dieses Projekt überhaupt. Es würde nicht klappen, wenn es nur eine Person geben würde. Alle wirken mit. Ich finde es schön, ein Teil davon zu sein. Im Laufe der Zeit habe ich eine Koordinationsfunktion für das Projekt übernommen und versucht, Kommilitonen und Kommilitoninnen zum Mitmachen zu begeistern. Das Interesse ist groß. Es gibt eine lange Warteliste, da viele mitmachen wollen. Da ich mich aktuell auf mein Staatsexamen konzentrieren möchte, bin ich dabei eine Kommilitonin einzuarbeiten, die meine Rolle beim Projekt übernehmen wird. Die Uni bietet auch noch andere interessante Projekte an. Einmal im Monat findet am Samstag für Menschen mit Behinderung eine Behandlung im Wachzustand oder unter Vollnarkose statt.

4. Wie sehen Ihre Pläne nach dem Studium aus?

Da ich meine Ausbildung zur ZFA in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie gemacht habe, möchte ich später gerne als Oralchirurgin arbeiten. Hierfür plane ich, eine Weiterbildung zur Oralchirurgin zu machen. Aber zuerst möchte ich meine Promotion auf dem Gebiet der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie abschließen. Ab Februar 2022 möchte ich anfangen, als Zahnärztin zu arbeiten. Ich könnte mir aber auch vorstellen an der Uni zu bleiben oder wieder zurück in meine Heimatstadt nach Köln zu gehen.

5. Können Sie sich auch in Zukunft vorstellen, daran oder an anderen sozialen Projekten mitzuwirken?

Ich kann mir das definitiv vorstellen. Nach meinem Studium würde ich am liebsten sofort in andere Länder reisen, wo Zahnärzte gebraucht werden, um zu helfen. Ich kann mir gut vorstellen, mich später zwischen meiner Arbeit aktiv an sozialen Hilfsprojekten zu beteiligen. Auch von der Uni aus werden soziale zahnmedizinische Hilfsprojekte angeboten, zum Beispiel in Myanmar.

Die 28-jährige Charlotte Beckers kommt aus Köln und hat vor ihrem Studium eine Ausbildung zur ZFA absolviert. Soziale Projekte liegen ihr am Herzen, weshalb sie sich auch später bei sozialen Hilfsprojekten engagieren will. 

Sie wollen helfen?

Spendenkonto: Ev. Stiftung Volmarstein
Verwendungszweck: Inklusive Zahnmedizin
IBAN: DE 40350601902101599054
BIC: GENODED1DKD

ak

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