Ein neues Kapitel im Anlegerschutz

Gefängnis statt Ehrenkodex

Weil in aller Welt die Aktionäre den Bilanzen ihrer Unternehmen nicht mehr trauen können, schickten sie die Börsen massiv auf Talfahrt. Nun steuern die Gesetzgeber gegen, um die Investoren vor Bilanztricksern zu schützen und ihr Vertrauen in Aktiengesellschaften zurückzugewinnen. Strafgesetze lösen Ehrenkodizes ab.

Die Pleite des großen amerikanischen Energiehändlers Enron hat den Sprachschatz der internationalen Kapitalwelt bereichert. Spricht man von „Enronitis“, ist Folgendes gemeint: Die Top-Manager eines Unternehmens haben Schulden und Verluste geschickt verschoben und versteckt, um ihren Aktionären ein immerfort blühendes, gewinnträchtiges Umsatz- und Gewinnwachstum vorzugaukeln. Warum dieses Täuschungsmanöver? Um den Aktienkurs künstlich hochzuhalten.

Damit verbunden ist alles andere als eine banale Schönheitskosmetik, sondern die Gier nach Reichtum. Denn das involvierte Management besitzt dicke Aktienposten und schwere Pakete an Kaufoptionen für die Aktien des eigenen Unternehmens. Diese sind gleichsam Bestandteil ihrer Entlohnung. Ein nach oben gepuschter Aktienkurs erlaubt es den Bilanztricksern, die Aktien und Optionen am eigenen Unternehmen zu Höchstkursen zu verkaufen. Bei Enron scheffelten die Bilanzfälscher auf diese Art Hunderte von Millionen Dollar. Als der Schwindel aufflog, war Enron ganz schnell pleite, die Aktie mit einem Schlag nichts mehr wert. Die meisten der Enron-Beschäftigten, ebenfalls mit Aktien-Kauf-Optionen zu Höchstleistungen angefeuert und belohnt, hatten auf ihre Enron-Aktien ihre Altersvorsorge aufgebaut. Sie stehen heute vor dem Ruin.

Vertrauenskrise

Enron war der Auslöser der weltweit grassierenden Vertrauenskrise in die Aktienmärkte. Enron blieb und bleibt aber kein Einzelfall. Es folgten als Schwergewichte der US-Kommunikationskonzern WorldCom, der mit manipulierten Falschbuchungen in Höhe von über sechs Milliarden US-Dollar kürzlich pleite ging. Als Bilanzmanipulateur wurden auch der amerikanische Kopierriese Xerox wie auch der aufgeblasene Mischkonzern Tyco entlarvt. Freiwillig outete sich Ende Juli dieses Jahres der US-Telekom-Konzern Quest. Er beichtete Falschbuchungen in Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar.

Noch bevor das Enronitis-Virus ausbrach und in seiner typischen Wirkweise entdeckt wurde, grassierte diese Krankheit längst auch in Deutschland. Nur sah man hier nur Ausnahmefälle oder Einzelsymptome, leider noch keine Seuche. Einige markante Beispiele:

• Die Deutsche Telekom startete ihre fast tragikomische Börsenkarriere mit einem Riesenbetrug im Gepäck: Immobilien, die mit drei Milliarden Mark überbewertet waren, damit ein künstlich überhöhter Buchwert beim Aktienkurs eine hohe Erstnotiz rechtfertigen konnte. Die Bonner Staatsanwaltschaft ermittelt.

• Die Gebrüder Haffa als Gründer und Großaktionäre der Münchner Medienfirma EM.TV provozierten eine inzwischen zugelassene Anklage „wegen Kursbetrugs“ und einer „unrichtigen Darstellung der Unternehmensverhältnisse“. Als die Aktien bei 100 Euro pendelten und der windige Lizenzhändler an der Börse mehr wert war als etwa die Deutsche Lufthansa, machten sich die Gebrüder durch Aktienverkäufe reich. Heute pendelt der gefallene Engel vom Neuen Markt, der das Signal zum Verfall dieses Marktsegmentes für neue, innovative Aktiengesellschaften gab, bei einem Euro.

• Trotz einer beherzten Initiative von Bundeskanzler Gerhard Schröder war der Baukonzern Philipp Holzmann nicht zu retten. Staatsanwälte ermitteln jetzt wegen des Verdachts der Bilanzfälschung gegen die ehemaligen Vorstände wie auch gegen den Wirtschaftsprüfer KPMG.

• Die börsennotierte Bankgesellschaft Berlin, weitgehend im Besitz des Landes Berlin, verschleierte in ihren Bilanzen jahrelang wahnwitzige Mietgarantien. Um die Bank vor der Pleite zu retten, übernahm zur Abdeckung dieser Garantien die ohnehin finanziell ausgeblutete Bundeshauptstadt eine dicke Milliardenbürgschaft. Es laufen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und Schadenersatzforderungen gegenüber Vorständen und Aufsichtsräten.

• Klaus Lederer hatte als Vorstandschef der börsennotierten Babcock Borsig AG die HDWWerft als lukrative Konzerntochter an einen US-Investor (der damit womöglich an die hoch innovative U-Boot-Technologie der Werft kommen will) verkauft und sich dabei als neuer Vorstand von HDW gleich mit. Babcock verarmte durch diesen Deal bis an den Rand der Pleite. Die Babcock-Aktionäre mussten bluten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Lederer wegen des Verdachts der Untreue.

• Auch der börsennotierte und im DAX beheimatete Finanzdienstleister MLP geriet in die Fänge der Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf: „Unrichtige Darstellung der Verhältnisse der Kapitalgesellschaft in Jahresabschlüssen“. Ein Nebenskandal, der eigentlich auch den Gesetzgeber beschäftigen müsste: Der DWS-Fondsmanager Henning Gebhardt empfahl in aller Öffentlichkeit die am Aktienmarkt stark zerfledderte MLP trotz der laufenden Ermittlungen als „attraktives Investment“. Prompt schoss der MLP-Kurs in die Höhe. Was die breite Öffentlichkeit jedoch nicht wusste: Gebhardt managt den Aktienfonds „DWS Strategie Deutschland“, der als sogenannter Label-Fonds primär für die Kunden von MLP aufgelegt wurde. Und: DWS ist die Fondstochter der Deutschen Bank, die womöglich durch eine herbeigeredete Verteuerung der MLP-Aktie verhindern möchte, dass ein ausländischer Mitbewerber den lukrativen Finanzdienstleister preiswert schluckt.

• Unentdeckt vom hochangesehenen Wirtschaftsprüfer KPMG konnte das Telematik-Unternehmen Comroad AG am Neuen (deutschen) Markt Höchstkurse erklimmen, obwohl fast die kompletten Umsätze der Jahre 2000 und 2001 erfunden, also gefälscht waren. Großaktionär und Comroad-Gründer Bodo Schnabel, in Untersuchungshaft, erwartet samt seiner Aufsichtsrätin und Ehefrau Ingrid in Kürze seinen Strafprozess.

Gegenmaßnahmen

Die Amerikaner sind die ersten, die ihren ohnehin schon stark ausgebauten Anlegerschutz weiter verschärfen. Ab dem 14. August 2002 müssen alle Vorstandsvorsitzenden und Finanzvorstände von US-Unternehmen, die mehr als 1,2 Milliarden USDollar im Jahr umsetzen, einen Eid auf die Vollständigkeit und Richtigkeit ihrer Bilanzen schwören. Wer in dieser eidesstattlichen Erklärung lügt, riskiert 20 Jahre Gefängnis und eine Geldbuße von bis zu fünf Millionen Dollar. Allerdings enthält der Eid ein juristisch offenbar nicht zu vermeidendes Schlupfloch. Denn die eidesstattliche Versicherung wird nach „bestem Wissen und Gewissen“ abgegeben.

In der betrieblichen Praxis jedoch, so tröstet sich die US-Börsenwelt, wäre ein Finanzchef untragbar, wenn sich unter seiner Regie eine Bilanz als manipuliert erweisen würde. Der Mann wäre wohl für den Rest seines Berufslebens als unerwünscht abgestempelt. Das Gleiche dürfte auch für einen Firmenchef gelten, der sich von seinem Finanz-Steuermann nach der neuen Regelung hinters Licht führen lässt. Wall Street reagierte auf das neue Gesetz gleich am Tag seiner Einführung mit großem Jubel. Je mehr Unternehmen den Eid leisteten, um so stärker stiegen die Aktien-Indizes. Mit dem Schlag der Schlussglocke nachmittags um 16 Uhr stand der Dow Jones Index mit gut drei Prozent und die Technologie-Börse Nasdaq gar mit über fünf Prozent im Plus.

Gesetzespaket

Hier zu Lande konnte man leider nicht so schnell und so konsequent handeln. Doch unabhängig von den bevorstehenden Wahlen stimmen beide politischen Lager darin überein, dass alsbald etwas geschehen muss. Sie sind sich über das in Arbeit befindliche Gesetzespaket zum Anlegerschutz sogar – welch ein Wunder – weitgehend einig. Geplant sind die folgenden Maßnahmen.

Haftstrafen:Nicht erst geplanter Vorsatz, sondern bereits „grobe Fahrlässigkeit“ sollen für die Verurteilung reichen, wenn AG-Akteure (etwa Vorstände und/oder Aufsichtsräte) den betroffenen Aktionären einen Schaden zufügen. Auch eine Erhöhung des Strafmaßes ist vorgesehen. Unter diesen verschärften gesetzlichen Bedingungen hätten die Strafverfolgten im Mannesmann-Vodafone-Skandal (unter anderem Ex-Vorstandschef Klaus Esser sowie die Aufsichtsräte Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, oder Klaus Zwickel, Vorsitzender der IG-Metall, wohl stark verminderte Chancen, wegen ihrer klammheimlich beschlossenen, großzügigen Verteilung von Abfindungen aus der Mannesmann-Kasse ungeschoren davon zu kommen.

Schadenersatz:Betroffene Aktionäre können nach einer vermuteten Kurs- oder Bilanzmanipulation künftig leichter auf Schadenersatz klagen. Vorstände und Aufsichtsräte sollen dann mit ihrem privaten Vermögen haften. Anstehende Klagen werden demnächst im Bundesanzeiger veröffentlicht, so dass sich Kleinaktionäre an Sammelklagen beteiligen können. Will ein Einzelaktionär vor Gericht ziehen, muss er nicht mehr, wie früher, mindestens fünf Prozent des Grundkapitals besitzen, sondern nur noch ein Prozent, wenigstens aber ein Investment von 100 000 Euro halten.

Wirtschaftsprüfer:Die neu formierte Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BAfin) bekommt – analog zur amerikanischen Börsenpolizei Securities and Exchange Commission (SEC) – erweiterte Kompetenzen und mehr Personal. Die BAfin soll künftig den vom Unternehmen bestimmten Wirtschaftsprüfer genehmigen müssen. Damit soll verhindert werden, dass dieser gleichzeitig den Jahresabschluss prüft und im gleichen Unternehmen als Berater engagiert ist, was derzeit in rund zwei Drittel aller Dax-100-Unternehmen der Fall ist. Vielfach kassieren die Beratungstöchter der Wirtschaftsprüfer weitaus mehr Honorar als die Wirtschaftsprüfer selbst. Um das Beratungs-Mandat nicht zu verlieren, so zeigte sich bereits in der Praxis, nahmen es die Wirtschaftsprüfer beim Testieren der Bilanz nicht so genau. Die Richter über die Bilanz waren gleichsam käuflich, wie der Fall Enron zeigte.

Sonderprüfungen:Besteht Verdacht auf Bilanz-Manipulationen, darf die staatliche Finanzaufsicht BAfin auf Kosten des betroffenen Unternehmens Sonderprüfungen anordnen. Aktionäre oder Aktionärsvereinigungen benötigen nicht mehr den Beschluss einer Hauptversammlung. Sie bekommen bei begründetem Verdacht einen Rechtsanspruch auf Sonderprüfungen.

Offenlegung der Entlohnung:Bislang musste der Geschäftsbericht einer Aktiengesellschaft nur die Summe der Vorstandsgehälter angeben. Künftig soll, wie in den USA immer schon üblich, die Entlohnung jedes einzelnen Vorstandsmitglieds genannt werden. Dazu zählen auch die Aktienoptionen, die die Vorstände entweder lukrativ verkaufen oder zu Discountkonditionen in die Aktien ihres Unternehmens umwandeln können. Die Bedingungen, unter denen die Optionen wirksam werden, sollen verschärft und stärker an den Unternehmenserfolg gekoppelt werden.

Gesunkene Moral

Wie tief die Moral der Unternehmensführer gesunken ist, weiß inzwischen auch die amtierende Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, die vor einer Verschärfung der Strafgesetze für Wirtschaftsbetrüger nicht zurückschreckt. Sie beklagt: „Früher haben viele Leute über die Kontrollwut des Staates gewettert. Jetzt rufen sie zum Teil selbst nach härteren Gesetzen. Denn sie haben erkannt: Solche Manipulationen sind keine Kavaliersdelikte.“

Der langjährige Autor unserer Rubrik „Finanzen“ ist gerne bereit, unter der Telefon-Nr. 089/64 28 91 50

Fragen zu seinen Berichten zu beantwortenDr. Joachim KirchmannHarthauser Straße 2581545 München

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.