BKK-Artikel: „Zahngesundheit: Trends und Konsequenzen bis 2020“ von Rüdiger Saekel

Grobe handwerkliche Fehler

Sehr ausführlich beschäftigte sich der ehemalige Ministerialrat im Bundesgesundheitsministerium, Rüdiger Saekel, mit der epidemiologischen Datenlage zur Mundgesundheit in Deutschland. Doch die sich daraus ergebenden Prognosen, die er in der Zeitschrift „Die BKK“ veröffentlichte, sind wissenschaftlich schwer haltbar. Dies kritisieren Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, und Prof. Dr. Thomas Kerschbaum, Universität Köln, in der folgenden Stellungnahme zum BKK-Artikel.

Der von Saekel verfasste Artikel „Zahngesundheit: Trends und Konsequenzen bis 2020“ ist in der Auseinandersetzung mit dem Gutachten der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Protethik (DGZPW) zum zukünftigen prothetischen Versorgungsbedarf der Bevölkerung entstanden. Der Autor stellt zunächst profund und in ausführlicher Form die aktuelle epidemiologische Datenlage hinsichtlich der Karies- und Parodontalmorbidität in Deutschland dar. Ausgehend vom derzeitigen Mundgesundheitszustand der deutschen Bevölkerung skizziert er Prognosen, die notwendigerweise nur auf Annahmen basieren können, da sie in die Zukunft gerichtet sind. Wie alle Studien, die sich mit der zukünftigen Bedarfsermittlung von zahnärztlichen Leistungen befassen, hängen deren prognostizierte Resultate im wesentlichen von der Berücksichtigung möglicher Einflussvariablen (Präventionserfolge, Inanspruchnahmeverhalten, Entwicklung des Entgeltsystems, Demographie etc.) ab.

Deutlicher Kariesrückgang

Zurecht verweist Saekel zu Beginn auf die Ursachen des Kariesrückganges in Deutschland. Auf Grund der Vielfältigkeit der Kausalität zieht der Autor den völlig richtigen Schluss, diese Aktivitäten auch in Zukunft in vollem Umfange beizubehalten. Im Zusammenhang mit dem caries decline zeigt er auf, dass auch sozial benachteiligte Schichten von den Erfolgen der Kariesprophylaxe profitieren. Leider wird hierbei der Faktor „Migration“ nicht berücksichtigt, wobei gerade diese Problematik zukünftig eine Veränderung der Kariesmorbidität in Deutschland vermuten lässt. Diesbezügliche Effekte werden in anderen europäischen Regionen, wie beispielsweise in England oder in der Schweiz (Carballo, Divino, Darmi 1997, Magri, Marthaler 2001) beobachtet.

Soziologisch schwer aufrecht zu erhalten ist auch Saekels Feststellung, dass präventive Verhaltensweisen, die in der frühen Jugend eingeübt worden sind, auch im Erwachsenenalter beibehalten werden. In seinem Artikel beachtet der Autor nicht, dass gerade die junge Erwachsenenphase durch zahlreiche Entwicklungen beeinflusst wird, die orale Gesundheitsgewinne aus dem Kindesund Jugendalter verringern können.

Erwartungen der Patienten

Saekel spricht in der Folge auch auf die Unterschiede zahnärztlicher Zahnersatztherapie in Ost und West an. Dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass die „spezifische prothetische Behandlungsstrategie in Ostdeutschland“ in nicht unerheblichem Maße von der Erwartungshaltung des Patienten beeinflusst wird. Und diese wird auch durch die Höhe der zu erwartenden Kostenbeteiligung definiert. Die Folge: Die sozioökonomischen Verhältnisse in Ostdeutschland werden zur Ursache dafür, dass Patienten vorwiegend einfachere und kostengünstigere Lösungen präferieren. Einfachere Zahnersatzmaßnahmen führen allerdings dazu, dass erhebliche Schädigungen an oralen Strukturen entstehen können, die letztendlich auch zu Zahnverlust führen.

In seinem Artikel kritisiert nun der Autor, dass Möglichkeiten der Zahnerhaltung in Deutschland noch nicht ausreichend genutzt werden. Er beruft sich dabei auf das Gutachten des Sachverständigenrates (SVR) zur Über-, Unter- und Fehlversorgung. Für die im Kern richtige Feststellung gibt es allerdings nachvollziehbare Erklärungen, die auch im SVR-Gutachten thematisiert werden: Ein wesentlicher Grund sind die mangelhaften Anreize im Vergütungssystem im Bereich der Zahnerhaltungstherapie. Insbesondere die viel zu niedrige Vergütung für die Wurzelkanalbehandlung im Hinblick auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt ist auffällig. Darüber hinaus fehlen auch präventive Anreize für den Patienten.

Im Zusammenhang mit der Therapie von Parodontopathien wird in dem Zeitschriften-Beitrag weiterhin kritisiert, dass zu früh Zähne extrahiert werden. Auch hier gilt: Die Mitarbeit des Patienten ist entscheidend für den Erfolg und Misserfolg einer Parodontalbehandlung. Gerade die Parodontalbehandlung setzt voraus, dass der Patient im Rahmen der Initialtherapie, aber vor allem auch beim Recall, positive Mitarbeit zeigt. Sofern dies auch nach vorheriger Motivation durch den Patienten nicht gegeben ist, muss eine ungünstige Prognose bis hin zur Zahnentfernung angesetzt werden. Hinzu kommt, dass die Wissenschaft genetische Einflüsse bei dieser Erkrankungsgruppe heute zunehmend wichtiger einschätzt (Michalowicz 1994).

Saekels Feststellung, dass Zähne auch im höheren Alter in der Regel durch Karies und weniger durch Erkrankungen des Zahnhalteapparates verloren gehen, stützt sich lediglich auf wenige, nicht auf repräsentativen Statistiken beruhende Literaturangaben (Glockmann und Köhler 1999; Reich, 1993). Nach den bevölkerungsrepräsentativen Studien des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) sind die Parodontalerkrankungen, insbesondere die schweren Formen, in den letzten Jahren leider unverändert. Sie liegen bei den Erwachsenen (Taschentiefe > 6mm) bei 14,1 Prozent und bei den Senioren bei 24,4 Prozent der Bevölkerung.

Prophylaxe-Erfolge

In seinen prognostischen Einschätzungen nimmt Saekel – im Gegensatz zu seinen anfänglich geäußerten Vermutungen – an, dass sich mit zunehmendem Zeitablauf Prophylaxeerfolge abschwächen, was konsequenterweise für eine Zunahme sekundärund tertiärpräventiver Therapiestrategien im Erwachsenen- und Seniorenalter spräche. Der bedeutende Einfluss der demographischen Entwicklung der Bevölkerung nach Altersschichtung und Bevölkerungsumfang für Trendaussagen zum Behandlungsbedarf wird von Saekel jedoch völlig unterschätzt. Dies ist ein schwerer handwerklicher Fehler, ganz abgesehen von der Tatsache, dass der Autor eine klare Modellbildung mit wissenschaftlichen Annahmen – wie im DGZPW-Gutachten – gar nicht erst versucht. Die jetzt 35-Jährigen, die im Jahre 2000 die breiteste Stelle der Bevölkerungspyramide bildeten, werden in 20 Jahren 55 Jahre alt sein. Sie befinden sich damit bereits in der Phase der höchsten Progressionsrate der Zahnverlustkurve. Saekel postuliert in seinen Berechnungen, dass in der Altersgruppe der 55-bis 64-Jährigen innerhalb von zehn Jahren statistisch kein einziger Zahn verlorengeht – eine wohl kaum ernsthaft diskutierbare Position.

Generell gilt: Für Prognosen ist nicht nur die nachwachsende Bevölkerung von Interesse, sondern vor allem auch die zunehmend älter werdende Bevölkerung, die letztendlich den zahnärztlichen Behandlungsbedarf auslöst. Dieser Bedarf ist zugegebenermaßen auf Grund verschiedener Entwicklungen zukünftig schwer einzuschätzen. Im DGZPW-Gutachten wurden daher fünf fundierte Varianten auf der Basis der DMS-Daten mit anerkannten wissenschaftlichen Methoden berechnet. Greift man die wahrscheinlichste Variante heraus, so ist im Jahre 2020 Zahnersatzbedarf vorhanden, der noch über dem Volumen des Jahres 2000 liegt. Voraussetzung für diese Annahme ist, dass „kontrollorientiertes Verhalten“ von den Bundesbürgern betrieben wird. Von Saekels ursprünglicher Prognose (1999), dass der Prothetikbedarf anfangs dieses Jahrtausends auf „ein Viertel“ sinkt, bleibt also auch bei dieser optimistischen Variante wenig übrig. Saekels aktuelle Prognose (2002) revidiert diese Aussage erneut beträchtlich: In der Altersgruppe der jungen Erwachsenen sieht er einen Rückgang der fehlenden Zähne um den Faktor 16 (!), bei den älteren Erwachsenen aber „nur“ noch um den Faktor 2,2. Und das, obwohl Saekel annimmt, dass über eine Dekade kein einziger Zahn verloren geht.

Erhaltung oraler Strukturen

Wichtigstes zukünftiges Anliegen der zahnärztlichen Prothetik bleibt die Erhaltung oraler Strukturen – ein ausgeprägt präventionsorientierter Ansatz. Klare Empfehlungen zur Versorgungsnotwendigkeit von Zahnlücken können auf evidenzbasierten Kriterien aufgebaut werden. Der Gesundheitsnutzen von Zahnersatz wird im DGZPW-Gutachten an vielen Stellen thematisiert und belegt. Saekels These, auch die prothetische Versorgung in Deutschland sei stark durch Über- und Unterversorgung geprägt, wird konkret auf der Basis epidemiologischer Daten dargelegt und als nicht haltbar ausgewiesen.

Präventionsorientiert

Bedingt durch die intensiven Bemühungen der deutschen Zahnärzteschaft zur Neubeschreibung einer präventionsorientierten Zahnheilkunde und der sich daraus ergebenden öffentlichen Diskussion hat sich im einschlägigen Umfeld der Gesundheitspolitik die Einsicht durchgesetzt, dass die Diagnostik und die primär-, sekundär- beziehungsweise tertiärpräventiven Interventionen zur Erhaltung aller oralen Strukturen von ausschlaggebender Bedeutung sind. Dabei liegt bei dem von der Zahnärzteschaft vorgestellten Modellprojekt einer präventionsorientierten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der qualitätssichernde Aspekt insbesondere in der Systematik des Interventionszyklus von der Basisdiagnostik bis zur präventiven Langzeitbetreuung (vgl. Weitkamp und Ziller 2002). Mit diesen Grundlagen in der Gesundheitspolitik und bei der gesetzlichen Krankenversicherung sollte man sich auseinandersetzen.

Zusammenfassung:

Saekel setzt sich profund und umfassend mit der epidemiologischen Datenlage auseinander. Er streicht den Erfolg in der Zahnheilkunde als beispielhaft bei der Bekämpfung von Krankheiten heraus. Sein Beitrag unterstreicht die Komplexität der Thematik und zeigt, wie unsicher langfristige Projektionen zur Bedarfsermittlung zahnärztlicher Leistungen sind. Damit bietet er eine Diskussionsgrundlage und Anregung für weitere Untersuchungen auf diesem Gebiet. Er unterschätzt jedoch bei seinen Prognosen erheblich den demographischen Faktor und setzt sich nicht mit der wissenschaftlichen Neubeschreibung einer Zahn-, Mundund Kieferheilkunde auseinander. So kommt er – wie zu erwarten – zum Ergebnis der einfachen Formel zur kostenneutralen Umstrukturierung des zahnärztlichen Bewertungsmaßstabes, ohne sich mit gegenläufigen Meinungen auseinanderzusetzen. om/BZÄK

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