Gastkommentar

Sozialpolitik auf dem deutschen Holzweg

Im Wahlkampf hat Horst Seehofer einen Fehlstart hingelegt. Während der Kanzlerkandidat die Sozialbeiträge auf vierzig Prozent drücken will, setzt der abgeklärte Sozialkompetenzler im Team Stoiber auf das Gegenteil und wird vermutlich Recht behalten.

Martin Eberspächer
Leiter der Abteilung Wirtschaft und Soziales, Bayerischer Rundfunk

Deutschland vor der Wahl: Im Inland ist außer dem Baubedarf nach Hochwasserschäden kein Impuls für den Aufschwung auszumachen. Mitten im Sommer werden vier Millionen Arbeitslose gezählt. Der Wirtschaftsminister hofft allein auf den Export. Doch Bilanz- und Börsenskandale in den USA, die Finanzkrise in Lateinamerika und eine andauernde Konfrontation im Nahen Osten lassen positive Perspektiven nicht aufkommen. Während Kandidat Stoiber gegen das steuerflüchtige Großkapital wettert, kämpft Bundeskanzler Schröder gegen eine fiktive fünfte Kolonne in der Wirtschaft. Wie im vergangenen Jahr der 11. September, so sollen im Katastrophensommer die Fluten alles entschuldigen, was sowieso schlecht gelaufen wäre – vom Blauen Brief bis zur Roten Laterne in der EU. Ein Wechsel der Regierung ist den Umfragen zufolge greifbar nahe, doch große Hoffnung auf den immer wieder propagierten Aufschwung in der Wirtschaft verbindet sich damit nicht.

3,5 Millionen Arbeitslose – mit diesem Ziel war Schröder angetreten. Nach zwischenzeitlichen Teilerfolgen fiel er fast auf das Niveau vom Beginn seiner Amtszeit zurück. Nun durfte Peter Hartz originelle Vorschläge präsentieren, deren Umsetzung entweder an den Tarifpartnern und der Sozialbürokratie scheitern wird – oder am möglichen Nachfolger Edmund Stoiber.

Wie Schröder vor vier Jahren, so verspricht Stoiber den Abbau der Sozialbeiträge. Peinlich, dass Parteifreund Horst Seehofer gleichzeitig höhere Beiträge für die Rente in Aussicht stellt. Nach seiner Krankheitspause will der aufrechte Ingolstädter den Senioren noch einen Nachschlag gönnen.

Obendrein wächst das Loch in der Rentenkasse schon wegen schlechter Konjunktur und womöglich durch Stoibers Verzicht auf die letzte Stufe der Ökosteuer. Wenn Seehofer seinen Rentenscheck einlösen will, ist ein Beitragssatz von über 20 Prozent in Sicht.

Zudem geht der Sozialkompetenzler im Team Stoiber davon aus, dass die Beiträge der Krankenkassen noch um ein halbes Prozent steigen werden, und das ist auch wegen der steigenden Arbeitslosenzahlen realistisch. Stoibers Ziel „3 x 40“ wird bei den Sozialbeiträgen von Seehofer untergraben und beim Steuersatz vom Hochwasser unterspült. Die Union setzt auf den Wirtschaftswundermann Lothar Späth, der alles richten und Manna vom Himmel regnen lassen soll. Schau’n mer mal, ob Späth überhaupt am Kabinettstisch mit der FDP Platz nehmen darf.

Egal wie die Wahl ausgeht, Horst Seehofer lädt Ulla Schmidt zum Oktoberfest ein – aber nicht ins Bierzelt, sondern zu einer Achterbahnfahrt. Das hat der Charmeur bei einem gesundheitspolitischen Streitgespräch der Süddeutschen Zeitung versprochen. Bei der launigen Lektüre erfährt der Leser, dass beide für Strukturreformen eintreten wollen, Seehofer aber mehr Freiheit für Versicherte verspricht. Er will Budgets aufheben, aber am Solidarprinzip festhalten. Und obwohl Seehofer ihre Politik für falsch hält, sei „Frau Schmidt als Person durchaus geeignet, mit ihr einen Kaffee zu trinken“.

Schmidt oder Seehofer? – Eine starke Alternative ist das nicht. Gescheitert sind beide – unter anderem an den Interessen der Pharmaindustrie und der Länder, die jede durchgreifende Reform in den Krankenhäusern blockiert haben. Seehofer wurde zur tragischen Figur, nachdem er 1995 verkündet hatte, die Selbstbeteiligung der Versicherten sei ausgereizt. Zwei Jahre später hat er die Zuzahlungen trotzdem massiv erhöht und damit – so die Legende – zum Ende der Regierung Kohl beigetragen. Ein zweites Mal will er den Wählerschreck nicht spielen. Der abgeklärte Ingolstädter kennt die Holzwege der deutschen Gesundheits- und Sozialpolitik. 25 Jahre nach dem ersten Anlauf zur Kostendämpfung durch Herbert Ehrenberg hat die Politik kapituliert. Gültig bleibt Seehofers zeitlose Erkenntnis: „Die vom Staat gesetzten Regeln zur Kostendämpfung wirken längstens zwölf Monate.“

Nach der Reform ist also immer vor der Reform. Dass ein Idealzustand niemals erreichbar sein wird, das sagen die Politiker ihren Wählern aber lieber nicht. Denn sonst könnten sie keine neuen Jahrhundertwerke versprechen.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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