Somatoforme Störungen in der Zahnheilkunde

Diskrepanz zwischen Befund und Befinden

Heftarchiv Zahnmedizin
Immer wieder betreten Patienten die zahnärztliche Praxis und klagen über Beschwerden, für die kein hinreichendes organmidizinisches Korrelat zu finden ist. Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit dieser Diskrepanz zwischen Befund und Befinden, mit der der Zahnarzt nicht selten konfrontiert wird und zeigt Lösungswege auf.

Somatoforme Störungen sind nach ICD-10 charakterisiert durch „wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholt negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Sind aber irgendwelche körperlichen Symptome vorhanden, dann erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome oder das Leiden und die innerliche Beteiligung der Patienten. Auch wenn Beginn und Fortdauer der Symptome eine enge Beziehung zu unangenehmen Lebensereignissen, Schwierigkeiten oder Konflikten aufweisen, widersetzt sich der Patient gewöhnlich den Versuchen, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu diskutieren; sogar bei offensichtlich depressiven oder Angstsymptomen kann es sich so verhalten. Das zu erreichende Verständnis für die körperliche oder psychische Verursachung der Symptome ist häufig für Patient und Arzt enttäuschend” (ICD-10, zweite korrigierte und bearbeitete Auflage 1993, Seite 183).

Beschwerdepatienten ohne Befund

Patienten, die sich mit unterschiedlichen Beschwerden im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich vorstellen, für die nach sorgfältiger zahnärztlicher Diagnostik und angemessener Differentialdiagnostik kein oder kein hinreichend erklärender somatischer Befund zu sichern ist, sind auch in zahnärztlichen Praxen und Kliniken keine Seltenheit. Auf die angemessene zahnärztliche und ergänzende Differentialdiagnostik, die häufig multidisziplinär erfolgen muss (wie Diagnostik von Okklusionsstörungen, Allergiediagnostik entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft) kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden (siehe dazu Staehle 2000a und b).

Typische Beschwerden in der Zahnheilkunde, bei denen differentialdiagnostisch eine somatoforme Störung in Erwägung gezogen werden muss, sind chronische orofaziale Schmerzzustände („craniomandibuläre Dysfunktion”), Zungen- oder Mundbrennen (synonym: „Burning-Mouth-Syndrom”, Glossodynie), „Prothesenunverträglichkeit”, „Amalgamunverträglichkeit” oder „Unverträglichkeit” sonstiger Dentalmaterialien, nicht objektivierbare Klagen über Mundgeruch und mehr. Zum Teil werden Beschwerden vorgebracht, die nicht primär im zahnärztlichen Bereich lokalisiert sind, sondern Allgemeinsymptome oder Beschwerden im Bereich anderer Organsysteme, die die Patienten selbst auf „Amalgamunverträglichkeit”, „Unverträglichkeit” sonstiger Dentalmaterialien oder „Multiple Chemikalienunverträglichkeit” (Multiple Chemical Sensitivity, MCS) zurückführen. Bis zu 89 Prozent der Patienten, die selbst angaben, an einer „Amalgamkrankheit” zu leiden, im Vergleich mit nur sechs Prozent einer matched-pairs-Kontrollgruppe litten unter psychogenen Erkrankungen, mit einem hohen Prozentsatz somatoformer Störungen (Bagedahl-Strindlund et al. 1997; Osborne und Albino, 1999), aber auch Angststörungen und depressive Störungen waren vertreten (Malt et al. 1997). In einer Gruppe von 50 Patienten, die ihre Beschwerden bei negativem Haut-Patch-Test auf Amalgam zurückführten, hatten 74 Prozent auch Symptome einer „craniomandibulären Dysfunktion” im Vergleich zu 24 Prozent einer Kontrollgruppe (Bratel et al. 1997). Diese Patienten wenden sich an Zahnärzte mit Ansinnen wie zum Beispiel immer wieder neue Prothesen anzufertigen, die verdächtigten Dentalmaterialien oder auch ganze Zähne zu entfernen, eine „Entgiftung” durchzuführen, eventuell sogar den Kiefer „auszufräsen”, um „Rückstände” zu entfernen und mehr. Wird den Patientenwünschen nachgegeben, ist die Gefahr der iatrogenen Schädigung groß (siehe dazu auch die Stellungnahme der DGZMK 2000). Typisch ist die Diskrepanz zwischen Befund und Befinden, die Fluktuation und Unbeeinflussbarkeit der Beschwerden durch sonst verlässlich wirksame Maßnahmen, die Überzeugung von der körperlichen Ursache der Beschwerden und das Festhalten daran, die hohe affektive Beteiligung und ängstliche Beschäftigung mit der vermeintlichen organischen Erkrankung (Müller-Fahlbusch 1992; Marxkors und Wolowski 1999). Neben häufig wechselnden Körperbeschwerden verschiedener Organsysteme sind oligosymptomatische Verlaufsformen möglich. Die unterschiedliche Ursachenzuschreibung von Arzt und Patient führt zu Belastungen der Arzt-Patient-Beziehung. Häufig kommt es zu wiederholten Arztwechseln und Inanspruchnahme im komplementärmedizinischen Bereich. Die Beschwerden treten in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auf, jedoch sind diese Zusammenhänge den Patienten in der Regel nicht zugänglich und offenbaren sich auch dem Diagnostiker nicht immer im Erstgespräch. Es gibt eine häufige Komorbidität mit depressiven Störungen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen. Die erweiterte Anamnese gibt nicht selten Hinweise auf eine belastete Biografie, wobei sowohl allgemeine Belastungsfaktoren (wie niedriger sozioökonomischer Status, Verlust wichtiger Bezugspersonen und mehr) als auch körperliche und sexuelle Traumatisierungen in der Vorgeschichte möglich sind. In der Ausformung der Somatoformen Störungen spielen historische und soziokulturelle Faktoren eine Rolle. Obwohl Amalgam in der Zahnheilkunde seit Jahrzehnten eingesetzt wird, befürchten heute 25 Prozent der Bevölkerung durch Dentalmaterialien, etwa Amalgam, ausgeprägte Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erleiden, weitere 40 Prozent befürchten zumindest eine geringe Schädigung (Bailer et al. 2000). Diese Ängste stehen in einem Missverhältnis zu wissenschaftlichen Befunden, wonach Amalgamträger zwar eine höhere Quecksilberbelastung als amalgamfreie Personen aufweisen, eine durch Amalgam verursachte chronische Quecksilbervergiftung nach aktuellem Wissenstand beim Menschen mit allgemein anerkannten Methoden jedoch nicht nachgewiesen werden konnte (Übersicht bei Staehle 2000a).

Fallbeispiel:

Aus der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Münster wurde der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie eine 66-jährige Patientin konsiliarisch vorgestellt, die über folgende aktuelle Beschwerden klagte: Ihre Prothese passe nicht, schleudere im Mund hin und her und ziehe den ganzen Körper mit, was sie in der Untersuchungssituation demonstrierte. Sie könne den Kopf nicht mehr halten, leide unter Kiefer-, Kopf- und Genickschmerzen. Keine Behandlung und keine Medikation helfe. Aufgrund dieser Beschwerden leide sie zusätzlich unter Appetitlosigkeit, habe Gewicht verloren, sei hoffnungslos und verzweifelt, habe auch schon an Suizid gedacht, was sie jedoch ihrer Familie nicht antun wolle. Der behandelnde Kollege aus der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie teilte mit, dass zwar ein atrophischer Kiefer mit Problemen der Prothesenanpassung vorliege, jedoch kein organisches Schmerzkorrelat und kein zahnärztlicher Befund, der die sehr weitgehende Beeinträchtigung erklären könne.

Zur Vorgeschichte berichtete die Patientin, dass 1993 „Entzündungen” zur Extraktion aller – bis dahin weitgehend gesunden – Zähne des Oberkiefers geführt haben. Fünf in Folge angefertigte Prothesen hätten nicht „gehalten”. Auch der Versuch einer auf vier Implantaten aufgebauten prothetischen Versorgung 1998 scheiterte aufgrund der zunehmenden Schmerzsymptomatik und der Angabe, ihr Kopf habe „unter dem Zug der Klammer nach links geschnackt”. Die Implantate wurden 1999 auf Drängen der Patientin wieder entfernt. In Folge kam es zu einer weiteren Beschwerdezunahme, zunehmender Depressivität und Suizidgedanken, weswegen vom Hausarzt eine stationäre psychiatrische Behandlung initiiert wurde, die die Patientin jedoch nach zwei Wochen abbrach. Im weiteren Verlauf stellte sich die Patientin ambulant bei mehreren Zahnärzten, Kieferchirurgen und in mehreren Zahnkliniken vor, zuletzt im Münsteraner Zentrum.

Die erweiterte biografische Anamnese ergab folgende Belastungsfaktoren: Im Alter von etwa eineinhalb Jahren wurde die Patientin durch einen mehrmonatigen Klinikaufenthalt zur Entfernung eines Feuermales im Gesicht von ihrer Familie getrennt, „rooming in” war damals noch nicht üblich. Als Schulkind fühlte sie sich durch die Narben entstellt, was sie durch erhöhte Leistungsbereitschaft zu kompensieren versuchte. Während der Kriegsjahre erlebte sie im Ruhrgebiet schwere Fliegerangriffe und ausgedehnte Zerstörungen mit und hatte als zirka achtbis zehnjähriges Mädchen große Angst. Mit 20 Jahren heiratete sie und entwickelte eine sehr enge Bindung zu ihrem Ehemann, der sie mit ihrer vermeintlichen Entstellung (die in der Untersuchungssituation kaum auffiel) akzeptierte. „Ich hatte einen phantastischen, wundervollen Mann, mit ihm 20 Jahre den Himmel auf Erden. Wir waren wie siamesische Zwillinge, keinen Tag getrennt.” 1993 starb der Ehemann an einem metastasierten Prostatakarzinom, kurz danach begann die oben geschilderte Symptomatik. Auffallend war, dass die Patientin ihren Verlust kaum thematisierte, auch keinen Trauerprozess durchlaufen hatte, sondern sich in Aktivitäten (Versorgung der Enkelkinder, später dann zahlreiche Arztbesuche) stürzte und den Ehemann „bis heute überall sitzen” sieht.

Wir stellten die Diagnosen einer Anhaltenden Somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) und einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10: F32.1). Beim Versuch, mit der Patientin ein psychosomatisches Krankheitsverständnis zu erarbeiten und sie in eine stationäre psychosomatische Behandlung zu vermitteln, brach sie den Kontakt leider nach zwei Terminen ab, um weitere Hilfe auf zahnärztlichem Gebiet zu suchen. Diese Falldarstellung ist bezüglich Beschwerdeschilderung, Behandlungsverlauf, Entwicklung der Arzt-Patient-Beziehung und erweiterter Anamnese für diese Störungsgruppe typisch.

Somatoforme Störungen: Einteilung

Nach ICD-10 werden die Somatoformen Störungen unterteilt in:

1.

Die Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0) ist charakterisiert durch multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die sich auf jedes Körperteil und jedes Organsystem beziehen können. Häufig gibt es eine lange medizinische Vorgeschichte, einen chronisch fluktuierenden Verlauf mit Störung sozialer, interpersonaler und familiärer Zusammenhänge. Die Störung ist bei Frauen häufiger, beginnt meist im frühen Erwachsenenalter.

2.

Bei der Undifferenzierten Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.1) liegen ebenfalls zahlreiche, unterschiedliche und hartnäckige körperliche Beschwerden vor, das vollständige und typische Bild der Somatisierungsstörung ist jedoch nicht erfüllt.

3.

Bei der Hypochondrischen Störung (ICD-10: F45.2) ist das vorherrschende Kennzeichen die ängstliche beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen Erkrankungen zu leiden, manifestiert durch anhaltende körperliche Beschwerden oder ständige Beschäftigung mit der eigenen körperlichen Erscheinung.

4.

Die Somatoformen Autonomen Funktionsstörungen (ICD-10: F45.3) beziehen sich auf somatisch nicht erklärbare Symptome der vegetativ innervierten Organsysteme.

5.

Bei der Anhaltenden Somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) steht ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz im Vordergrund, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann.

Diagnostik und Therapie Somatoformer Störungen

Für

die Diagnostik und Therapie Somatoformer Störungen in der Primärversorgung hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich Medizinischen Fachgesellschaften im Internet eine Leitlinie veröffentlicht, die leicht gekürzt in den Textkästen 1 bis 3 wiedergegeben wird (AWMF 2000). Die AWMF-Leitlinie formuliert ausdrücklich: „Der angemessene Umgang mit Patienten mit Somatoformen Störungen erfordert Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung”, die heute als liquidierbare Zusatzqualifikation zwar für Allgemeinmediziner und zahlreiche ärztliche Fachgebiete, jedoch noch nicht für die Zahnheilkunde existiert.

Dr. med. Gudrun Schneider

Univ.-Prof. Dr. med. Gereon Heuft

Klinik und Poliklinik für Psychosomatik

und Psychotherapie,

Universitätsklinikum Münster

Domagkstr. 22

48129 Münster

E-Mail:

schneig@medsnt01.uni-muenster.de

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