Palliativmedizin

Was sich die Sterbenden von den Lebenden wünschen

Ein hier zu Lande vielfach tabuisiert behandeltes Thema ist in den Vereinigten Staaten bereits offen diskutierbar: die aktive Sterbehilfe. Seit 1997 im US-Bundesstaat Oregon der „Death with Dignity Act“ Gesetzeskraft erlangte, konnte während fünf Jahren Erfahrung mit dem „assistierten Suizid“ gesammelt werden, wie es dort heißt. Die Motive der Sterbewilligen, die nun in einer wissenschaftlichen Erhebung eruiert wurden, sind teilweise überraschend. Sie können im Licht der Phänomenologie des „Familienstellens“ jedoch leichter verstanden werden.

Die seit 1997 im US-Bundesstaat Oregon geltende Rechtslage erlaubt es einem Arzt, unter bestimmten Kautelen Sterbewilligen ein tödliches Medikament zu verschreiben, das ein als menschenwürdig empfundenes Sterben erleichtert. Nicht nur in den USA wurden immer wieder die Erfahrungen mit diesem Pioniergesetz analysiert. Meistens wurden die Ärzte über die Gründe für den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe befragt. Nun hat das renommierte New England Journal of Medicine in einem Grundsatzartikel diese Motive nochmals präzisieren können. Es stützt sich dabei auf eine Erhebung bei dem betreuenden Personal in Sterbehospizen.

Wunsch nach günstigen Umständen dominiert

Die nun publizierte Untersuchung (N. Engl. J. Med., Band 347, S. 582-8) basiert auf einer schriftlichen Befragung des Pflegepersonals der insgesamt 52 Sterbehospize, die Patienten aus Oregon auf Basis der staatlichen Krankenversicherung aufnehmen. Von den 545 angefragten Pflegekräften antworteten 397 auf die detaillierten Fragen, die vor allem die Motivation der betroffenen Patienten erheben sollten.

Insgesamt waren in den fünf Jahren 82 Patienten aus den erhobenen Hospizen durch assistierten Suizid aus dem Leben geschieden. Es handelte sich vor allem um terminale Tumorpatienten (83 Prozent), so dass das relativ niedrige Lebensalter von 63,6 (± 11,5) Jahren nicht verwundert.

Die Motive wurden nach der Häufigkeit ihrer Nennung in den aktuellen Gesprächen mit den Patienten während der Entscheidungsphase sowie nach der Dringlichkeit erfragt. Die Dringlichkeit in der Einschätzung der Pflegepersonen wurde in einem Score zwischen fünf (sehr dringliches Motiv) und eins (offensichtlich nicht so entscheidend) bewertet. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die geäußerten Motive.

Vergleicht man die Patienten, welchen ein assistierter Suizid gewährt wurde mit den anderen Patienten in den Hospizen, so fällt wiederum auf, dass nur zwei Motive für die Bitte um einen solchen letzten Dienst dominieren (Abb. 1):

• die Sorge, die Kontrolle über die Umstände des Sterbens zu verlieren sowie

• die Sorge, nicht mehr unabhängig von anderen selbst die Umstände des Sterbens bestimmen zu können, also die eigene Unabhängigkeit zu verlieren.

Es ist interessant, dass weder die Kostensituation noch die Belastung der pflegenden Angehörigen eine erhebliche Rolle bei der Entscheidung für einen assistierten Suizid zu spielen scheint. Selbst dort, wo die Patienten auch derartige Gründe angaben, verneinten in der Regel die ebenfalls befragten Angehörigen eine objektive Notlage.

Ebenfalls überraschend war in der Befragung, dass nach den Auskünften der Pflegepersonen und auch – bei früheren Befragungen – der behandelnden Ärzte der Anteil von depressiv belasteten Patienten mit knapp einem Fünftel relativ gering war. Auch scheint nach Angaben der Pflegepersonen diese psychische Belastung für diese Entscheidung kaum eine Rolle gespielt zu haben, wie die Tabelle zeigt.

Mit dem Leben fertig werden

Der Wunsch, den eigenen unumgänglichen Tod in Würde und Selbstbestimmtheit erleben zu können, ist bei den meisten Menschen sicherlich vorhanden. In allen bekannten Befragungen erscheint dieser fast instinktiv bestimmende Wunsch nach einem „guten Tod“, bei dem natürlich auch die Furcht vor unerträglichen körperlichen Leiden mitschwingt.

Dieser Wunsch ist sicherlich unmittelbar verständlich. Wie wichtig es jedoch ist, den Sterbenden in ihrem letzten Wunsch nach einem guten Tod möglichst effektiv behilflich zu sein, wird aus einem ganz anderen Zusammenhang ersichtlich. Seit Jahren machen nämlich systemisch arbeitende Psychotherapeuten mit dem so genannten Familienstellen erstaunliche Erfahrungen, wenn es darum geht, dass sich Stellvertreter von bereits verstorbenen Familienmitglie-dern über die Schwierigkeiten äußern, ihren „Seelenfrieden“ zu finden und damit in der Sprache der modernen Thanatologie den Sterbeprozess zu beenden. Hier erkennt man die Bedeutung einer letzten Aufarbeitung von belastenden und schuldhaften Ereignissen des vergehenden Lebens, auf die nicht zuletzt Dr. Hunter Beaumont auf der 13. Internationalen Konferenz für Humanistische Medizin Anfang November in Garmisch-Partenkirchen hingewiesen hat.

Menschen, die – etwa durch Unfälle, Gewaltereignisse oder unsägliche körperliche Schmerzen – nicht mehr in der Lage sind, diese letzte Bewältigung ihres Lebens zu leisten, können später für andere Familienmitglieder eine – in den meisten Fällen nicht begreifliche – Belastung werden, etwa durch unbewusste Identifikation mit den Problemen der unglücklich Verstorbenen. Auch wenn die weitgehend materialistisch geprägte Wahrnehmung des heutigen westlich geprägten Menschen kaum einen Zugang zu solchen Prozessen finden kann, muss man nach den Ergebnissen und den Erfolgen des Familienstellens doch davon ausgehen, dass sie eine Art „andere“ Wirklichkeit der geistigen Existenz des Menschen abbilden, was hier allerdings nicht weiter vertieft werden kann*.

Fazit

Das Sterben gehört zum Leben und damit zur modernen Medizin. Betrachtet man die Gründe, warum Patienten, die in Sterbehospizen eine möglichst optimale palliativmedizinische Versorgung erhalten, dennoch um einen assistierten Suizid nachsuchen, so findet man den Wunsch nach Selbstbestimmtheit und Würde als dominierendes Motiv. Hier können die Angehörigen, aber auch andere Betreuungspersonen einen wichtigen Dienst zur Humanisierung des Sterbens und zur Erleichterung des Lebens – zumindest der folgenden Generationen – leisten.

* Für eine Einarbeitung in die Erfahrungsweltdes Familienstellens sei die aphoristische Ausgabespäter Texte von Bert Hellinger, demNestor des Familienstellens, zur Lektüreempfohlen: Hellinger, B.: Entlassen werdenwir vollendet. Kösel, München, 2001.

\n

Geäußertes Motiv

Häufigkeit

Dringlichkeit

\n

Wunsch, die Umstände des Sterbens kontrollieren zu können

77

5,0 (5,0-5,0)

\n

Bereitschaft zu sterben

73

5,0 (4,0-5,0)

\n

Wunsch, zu Hause zu sterben

69

5,0 (3,0-5,0)

\n

Eindruck, eine Fortsetzung des Lebens sei unsinnig

66

5,0 (3,0-5,0)

\n

Verlust der Selbständigkeit oder die Sorge um diesen Verlust

75

4,0 (4,0-5,0)

\n

Geringe Lebensqualität oder Sorge um deren Verlust

75

4,0 (4,0-5,0)

\n

Verlust der Lebenswürde oder Sorge um diesen Verlust

73

4,0 (3,75-5,0)

\n

Schmerzen oder Furcht vor einer Verschlimmerung der Schmerzen

75

4,0 (3,0-5,0)

\n

Unfähigkeit, für sich zu sorgen oder Furcht vor diesem Verlust

70

4,0 (3,0-5,0)

\n

Eindruck einer unerträglichen Belastung des Lebens

71

4,0 (3,0-5,0)

\n

Unfähigkeit, noch etwas Erfreuliches zu tun

67

4,0 (3,0-5,0)

\n

Eindruck, alle Lebensziele erreicht zu haben

63

3,0 (2,0-5,0)

\n

Erschöpfung oder Furcht davor

67

3,0 (2,0-5,0)

\n

Atemnot oder Furcht vor einer Verschlimmerung derselben

69

3,0 (1,0-5,0)

\n

Inkontinenz oder Furcht davor

65

3,0 (1,0-4,5)

\n

Verwirrtheit oder Furcht davor

67

3,0 (1,0-4,0)

\n

Erlebnis eines schwierigen Sterbevorganges bei anderen

44

4,0 (3,75-5,0)

\n

Probleme bei der Finanzierung eines weiteren Aufenthaltes

60

2,0 (1,0-3,0)

\n

Depressivität oder andere psychiatrische Erkrankungen

59

2,0 (1,0-3,0)

\n

Übelkeit oder Furcht vor einer Verschlimmerung derselben

67

2,0 (1,0-3,0)

\n

Zu geringe soziale Unterstützung

65

1,0 (1,0-2,0)

\n

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