Differentialdiagnose der Schwellung im Kieferwinkelbereich

Pathologische Fraktur bei Osteomyelitis des Unterkiefers

226521-flexible-1900

Ein 35-jähriger, allgemeinmedizinisch gesunder Patient mit bekanntem Nikotinabusus stellte sich mit Zahnschmerzen im linken Unterkieferbereich bei seinem Hauszahnarzt vor. Hier wurde klinisch und radiologisch der kariöse, avitale Zahn 37 mit einer periapikalen Parodontitis auffällig (Abbildung 1). Der Zahn wurde trepaniert und eine orale Antibiose wurde verordnet. Im weiteren Verlauf verstärkten sich die Schmerzen, hinzu kamen Fieber und Abgeschlagenheit. Im Bereich der linken Unterlippe trat eine Hypästhesie auf. Bei klinischem Bild eines paramandibulären Abszesses wurde der schuldige Zahn extrahiert, woraufhin sich unmittelbar Pus aus der Alveole entleerte. Auf eine begleitende Antibiose wurde verzichtet, die Extraktionswunde wurde lokal mit Einlagenwechsel nachbehandelt.

Vier Wochen später verspürte der Patient beim Verzehr eines Kaubonbons ein Knackgeräusch im linken Kieferwinkelbereich, einhergehend mit einer Störung der Okklusion. Nach mandibulo-maxillärer Ruhigstellung und Einleitung einer intravenösen Antibiose durch den konsultierten niedergelassenen MKG-Chirurgen, wurde der Patient mit der Verdachtsdiagnose einer pathologischen Fraktur bei chronischer Osteomyelitis im linken Kieferwinkelbereich zur Weiterbehandlung an die eigene Klinik überwiesen (Abbildung 2). Zu diesem Zeitpunkt war bei der klinischen Inspektion extraoral eine geringe, druckdolente Schwellung im Bereich des linken Kieferwinkels erkennbar. Intraoral zeigte sich in regio 37 eine geschlossene Schleimhautdecke ohne Fistel oder Eiteraustritt (Abbildung 3). Im Ausbreitungsgebebiet des N. alveolaris inferior links konnte eine Sensibilitätsstörung dokumentiert werden.

Die intravenöse Antibiose mit Amoxicillin/Clavulansäure wurde fortgeführt. Zusätzlich wurden eine MRT sowie eine Skelettszintigraphie angefertigt (Abbildung 4). Die serologischen Entzündungsparameter waren zu diesem Zeitpunkt im Normbereich.

Nach antibiotischer Vorbehandlung erfolgte über einen extraoralen Zugang die Sequestrotomie im Bereich des linken Kieferwinkels. Der entstandene Defekt wurde mit Beckenkammspongiosa aufgefüllt; die Fraktur wurde mit einer Rekonstruktionsplatte stabilisiert (Abbildung 5). Das abschließende histopathologische Gutachten bestätigte eine chronische Osteomyelitis mit fibrosiertem Knochengewebe und Entzündungszellinfiltraten (Abbildung 6).

Diskussion

Bei der Osteomyelitis des Kieferknochens handelt es sich um einen akuten oder chronischen Entzündungsprozess des Markraums oder der kortikalen Oberflächen [Neville et al., 2009]. Ausgangspunkt ist klassischerweise eine bakterielle Mischinfektion odontogener Herkunft. Im eigenen Fall war es eine Karies, die unbehandelt über eine Pulpitis und eine apikale Parodontitis zu einer lokalen Infektion des Knochens führte. Durch zusätzliche Traumatisierung, wie die im Fall erfolgte Zahnextraktion im Abszessstadium, wird die bakterielle Invasion in den medullären Knochenraum erleichtert [Al Nawas und Kämmerer, 2009]. Daneben können auch infizierte Zysten oder Kieferfrakturen zu einer Osteomyelitis führen. In seltenen Fällen ist eine hämatogene Aussaat die Ursache. Begünstigt wird die Entstehung einer Kieferosteomyelitis durch eine mangelnde Vaskularisation des Knochens und eine damit verringerte Immunabwehr. Der Nikotinabusus des eigenen Patienten, möglicherweise unmittelbar nach der Zahnextraktion, kann genauso wie etwa ein Diabetes mellitus oder chronischer Alkoholismus eine entscheidende Rolle bei der Pathogenese spielen. Pathophysiologisch kommt es zur Ödem- und Pusbildung im Markraum. Osteoklasten werden stimuliert, durch den erhöhten intraossären Druck wird die Ischämie verstärkt, was letztendlich zu einer Knochennekrose mit Sequesterbildung führt. Mit dieser, dann als sekundär chronische Osteomyelitis bezeichneten Form wurde unser Patient vorstellig. Sie stellt die häufigste Form der Osteomyelitis des Kieferknochens dar und tritt überwiegend im Unterkiefer als Folge einer nicht adäquat therapierten akuten Osteomyelitis auf [Marx, 1991]. Im akuten Stadium befand sich der Patient im Fallbericht zum Zeitpunkt der Zahnextraktion. Hier imponiert klinisch ein rascher Verlauf mit Fieber, Lymphknotenschwellungen, starken Schmerzen, lokaler Schwellung, Zahnlockerungen und marginalem Eiterabfluss. Ein Foetor ex ore aufgrund der Besiedlung mit anaeroben, pyogenen Bakterien ist häufig. Bereits in dieser Phase wurde beim eigenen Patienten eine Hypästhesie im Ausbreitungsgebiet des N. alveolaris inferior auffällig, was als Vincent-Symptom bezeichnet wird [Vincent, 1896; Baltensperger and Eyrich, 2009].

Bei der chronischen Osteomyelitis können die Symptome in abgeschwächter Form denen der akuten Entzündung ähneln, jedoch sind symptomfreie Krankheitsphasen möglich. Hinzu kommen neben einer Sequesterbildung oftmals intra- und extraorale Fisteln. Als schwerwiegende Komplikation kann – wie im Fallbericht geschehen – eine pathologische Fraktur auftreten [Kushner and Alpert, 2004].

Röntgenologisch zeigt sich bei zunehmender Chronifizierung ein Nebeneinander von osteolytischen und sklerosierenden Arealen, klassischerweise mit Ausbildung eines Sequesters. Als weitere bildgebende Untersuchungen können eine DVT, eine CT, eine MRT oder eine Knochenszintigraphie zur Darstellung der Entzündungsaktivität und der Befundausdehnung hinzugezogen werden.

Differentialdiagnostisch sind bei unklaren osteolytischen Prozessen benigne (fibröse Dysplasie, ossifizierendes Fibrom) und maligne (Osteosarkom, Chondrosarkom, Ewing-Sarkom) Erkrankungen in Erwägung zu ziehen [Al Nawas und Kämmerer, 2009]. Neben der klinischen und bildgebenden Diagnostik ist hier die histopathologische Untersuchung ausschlaggebend.

Für die Therapie der Kieferosteomyelitis ist die korrekte Diagnose des Stadiums essentiell. In der akuten Phase stellt die Inzision und Drainage von Abszedierungen in Kombination mit einer Breitspektrumantibiose die Therapie der Wahl dar. Bei stattgefundener Chronifizierung ist dagegen ein breitflächiges Debridement oftmals unumgänglich. Wie im eigenen Fall geschehen, muss dann der nekrotische Knochen reseziert werden. Zur Sicherstellung einer ausreichend hoch dosierten lokalen Antibiose kann eine mit Antibiotika beschickte PMMAKette eingelegt werden [Ehrenfeld und Winter, 1999]. Bei ausgedehnten Sequestern im Unterkieferbereich ist nicht selten eine Kontinuitätsresektion mit primärer oder sekundärer Osteoplastik und stabiler Osteosynthese notwendig. Die systemische Antibiotikagabe sollte auch nach operativer Therapie für vier bis sechs Wochen fortgeführt werden. Eine zusätzliche Behandlungsoption zur antibiotischen und chirurgischen Therapie der chronischen Osteomyelitis stellt die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) dar, die zu einer Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks im osteomyelitischen Knochen führt. Die erhöhte Gewebeoxygenierung hat einerseits einen toxischen Effekt auf anaerobe Bakterien, andererseits soll dadurch die Angiogenese stimuliert und somit die Verfügbarkeit der Antibiotika erhöht werden [Handschel at al., 2007]. Der tatsächliche Nutzen der HBO ist derzeit jedoch noch nicht abschließend geklärt. Zudem scheint eine Behandlungsdauer von mindestens acht Wochen erforderlich zu sein.

Von der beschriebenen, bakteriell assoziierten, akuten und sekundär chronischen Osteomyelitis ist die primär chronische Osteomyelitis abzugrenzen. Hierbei handelt es sich um eine seltene, nicht-eitrige chronische Knochenentzündung unklarer Ätiologie. Als weitere Sonderformen existieren Kieferosteomyelitiden, ausgelöst etwa durch eine Bestrahlung oder durch die Einnahme von Bisphosphonaten, Kortikosteroiden oder auch antineoplastischen Substanzen [Al Nawas und Kämmerer, 2009].

Dr. Dr. Tobias EttlDr. Dr. Martin GosauProf. Dr. Dr. Torsten E. ReichertKlinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- undGesichtschirurgieUniversität RegensburgFranz-Josef-Strauß-Allee 1193053 RegensburgMartin.gosau@klinik.uni-regensburg.de

Dr. Fabian EderInstitut für PathologieUniversität RegensburgFranz-Josef-Strauß-Allee 1193053 Regensburg

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.