Behindertenzahnheilkunde

Inklusion ist mehr als Barrierefreiheit

Heftarchiv Zahnmedizin
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Im zweiten Teil der zm-Reihe zur Behandlung von Patienten mit geistiger und/oder mehrfacher Behinderung wird der Umgang mit dieser für den Zahnarzt besonderen Patientengruppe erläutert.

Die baulichen Aspekte von Barrierefreiheit sind schon vielfach beschrieben worden. Unter anderen hat auch die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) praxistaugliche Hinweise zusammengestellt [Check- liste Barrierearme Praxis, KZBV]. Menschen mit Behinderung reagieren häufig sehr sensibel auf „atmosphärische Störungen“. Werden Zahnarztbesuche gut vorbereitet, können diese angstfrei für den Patienten und ohne Stress und Hektik für die Begleitperson und das zahnmedizinische Praxisteam ablaufen. Wartezeiten verunsichern viele Patienten mit geistiger Behinderung und werden auch von deren Begleitpersonen, die sich während der Wartezeit um ihre Klienten kümmern müssen, als anstrengend empfunden [Schäfer-Walkmann, Traub, Häussermann, Walkmann; 2015]. Meist ist es besser, den Zahnarztbesuch dem Patienten erst am Tag des Besuchs anzukündigen, um unnötige Unruhe und Schlafstörungen zu vermeiden.

Es dürfen keine Nichtsätze, etwa „Es wird nicht weh tun.“, verwendet werden. Der Besuch beim Zahnarzt muss als etwas Selbstverständliches und Unspektakuläres vermittelt werden. Ist eine Behandlung in Lokal-anästhesie geplant, sollte der Patient schon vorher gegessen haben. Nicht zur gewohnten Uhrzeit essen zu dürfen, ist für manche geistig behinderten Patienten schlimmer als die zahnärztliche Behandlung an sich. Ängste, insbesondere in unbekannter Umgebung, können Abwehr auslösen. Eine vertraute Person kann durch Nähe, Körperkontakt und Zuspruch Ruhe und Sicherheit vermitteln. Auch ein Kuscheltier oder ein wichtiger persönlicher Gegenstand kann helfen.

Hintergrundinformationen über Zusatzanamnesebogen abfragen

Alle Beteiligten sollten bemüht sein, eine freundliche, angstfreie Atmosphäre aufzubauen. Einen Flyer mit Informationen für Angehörige und Betreuende, der in Zusammenarbeit mit Angehörigenvertretern ausgearbeitet wurde, stellt die Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg zumDownloadzur Verfügung. Vor dem Erstkontakt empfiehlt es sich, durch einen Zusatzanamnesebogen wichtige Hintergrundinformationen abzufragen, die über die medizinischen Belange hinausgehen: Bestehen über die geistige Behinderung hinaus noch andere Beeinträchtigungen zum Beispiel Körperbehinderung oder Sinnesbehinderung? Was ist der Grund des Besuchs? Handelt es sich um einen Vorsorgetermin, der zum gegenseitigen Kennenlernen genutzt werden kann oder besteht Behandlungsbedarf und damit auch Handlungsdruck?

So ist die Art der Unterbringung ein wichtiger Hinweis auf den Umfang der häuslichen Betreuung. Wichtig zu wissen ist, wer zum Beispiel für Terminabsprachen der richtige Ansprechpartner und wie dieser zu erreichen ist. Ansprechpartner können Angehörige, Wohngruppenleiter oder Mitarbeiter des ambulant betreuten Wohnens sein.

Darüber hinaus werden, sofern eine Betreuung eingerichtet wurde, die Kontaktdaten des rechtlichen Betreuers abgefragt. Insbesondere die Telefonnummer (für Aufklärungsgespräche) und die Fax-Nummer (für Aufklärungsbögen, die zu unterzeichnen sind) sollten in den Patientenstammdaten hinterlegt werden. Neben der Art und der Ursache der Behinderung ist es schon im Vorfeld hilfreich zu wissen, ob es sich um einen Rollstuhlfahrer handelt und ob dieser in einen zahnärztlichen Stuhl umgelagert werden kann. Wird der Patient überwiegend per Magensonde ernährt, besteht ein erhöhtes Aspirationsrisiko. Die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit kann durch einen kurzen psychosozialen Kurzbefund erhoben werden. Verständigung und sprachliches Verständnis, emotionale Stimmungslage, Problemverhalten, Durchführung der Zahnpflege, Verlauf bisheriger Zahnarztbesuche und -behandlungen et cetera. Ein Beispiel eines solchen Zusatzanamnesebogens für Patienten mit Behinderung hat die Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg entwickelt und zumDownloadbereitgestellt.

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Einschätzung des Patienten nach Kooperationsstufen

In der Praxis hat es sich bewährt, jedem Neupatienten mit geistiger Behinderung eine Kooperationsstufe zuzuordnen. Die Stufen ergeben sich aus dem Verlauf der Erstsitzung und können ohne zusätzlichen Zeitaufwand erhoben werden. Gemeinsam mit einem üblichen Anamnesebogen, der kopierten Medikamentenliste und gegebenenfalls vorhandenen Allergie- oder Herzpässen, dem Zusatzanamnesebogen und der Kooperationsstufe kann ein Patient in Bezug auf zahnärztliche Behandlungen gut beschrieben werden, was für eine langfristige zahnärztliche Betreuung sehr hilfreich ist. Die Zuordnung in eine Kooperationsstufe erfolgt nach folgendem Schema:

  • Setzt sich der Patient auf den Behandlungsstuhl?

  • Öffnet der Patient den Mund und lässt ihn auch offen?

  • Lässt der Patient eine visuelle Untersuchung mit dem Spiegel zu?

  • Lässt der Patient eine Untersuchung mit der zahnärztlichen Sonde zu?

  • Lässt der Patient eine Politur mit dem rotierenden Bürstchen beziehungsweise Gummikelch zu?

  • Lässt der Patient das Zahnsteinentfernungsgerät samt großem Sauger zu?

Ist eine Zahnsteinentfernung mittels ZEG und großem Sauger möglich, kann davon ausgegangen werden, dass auch andere zahnärztliche Eingriffe problemlos durchführbar sind und der Patient voll kooperativ ist.  Als bedingt kooperativ kann man Patienten bezeichnen, die noch eine Politur mit rotierenden Bürstchen oder Gummikelchen tolerieren, sich aber dem Sauger beziehungsweise dem ZEG-Gerät verweigern. Diese Patientengruppe lässt sich in der Regel mit etwas pädagogischem Geschick gut in ein Prophylaxeprogramm einbinden. Als unkooperativ beziehungsweise einer zahnärztlichen Behandlung nicht zugänglich werden Patienten eingestuft, die sich nicht oder nur visuell untersuchen lassen. Unberücksichtigt bleiben bei dieser groben Klassifizierung spezielle Besonderheiten wie zum Beispiel Spritzenphobien, extreme Würgereize, ein besonderes Problemverhalten et cetera, die gesondert dokumentiert werden. Großen Einfluss auf die Kooperationsbereitschaft haben auch die Begleitpersonen beziehungsweise die Beziehung zwischen Patient und seiner Begleitung. Hilfreich ist, den Verlauf einer Behandlung und etwaige Besonderheiten (zum Beispiel „mag keine Watterollen“) festzuhalten. Die Einträge erleichtern ein zielführendes Vorgehen beim nächsten Termin.

Spezielle Sprechzeiten schaffen Routine

Würde man den Inklusionsgedanken konsequent in der Praxis umsetzen wollen, so dürften auch keine speziellen Sprechzeiten für Patienten mit Behinderung eingerichtet werden. Doch viele Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen mit Problemverhalten lassen sich nicht in ein starres Terminsystem pressen. Für Begleitpersonen ist es stressfreier, wenn sie wissen, es werden in diesem Zeitfenster ausschließlich Patienten mit geistiger Behinderung in der Praxis behandelt. So müssen unruhige Patienten nicht ständig gemaßregelt werden, wenn sie laut sind, sie dürfen auch in der Praxis umherlaufen und müssen nicht auf ihrem Stuhl im Wartezimmer ausharren. Eine entspannte Atmosphäre wirkt sich enorm positiv auf die Behandlungsbereitschaft aus. Während der speziellen Sprechzeiten können auch ganze Wohngruppen aus Behindertenwohneinrichtungen einbestellt werden. Dies ist für die Wohnheime eine Erleichterung, da weniger Betreuungspersonal eingesetzt werden muss, als wenn die Bewohner einzeln zum Zahnarzt begleitet werden müssen.

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Möglichst einfach und nonverbal kommunizieren

Nach Auswertung des Anamnesebogens wird eine gemeinsame Form der Kommu- nikation gesucht. Da Menschen mit einer geistigen Behinderung Situationen eher emotional geprägt erleben, ist die nonverbale Kommunikation von wohl wichtigster Bedeutung. Ein freundliches Gesicht am Empfang und ein lächelnder Zahnarzt bewirken mehr als lange Gespräche. Dem Praxisteam sollte bewusst sein, dass häufig eine große Diskrepanz zwischen kalendarischem, körperlichem, geistigem und sozialem Lebensalter besteht. Ein 50-jähriger Mann erscheint zum Zahnarztbesuch mit einem Teddybär im Arm. Trotzdem darf er nicht wie ein dreijähriger Junge behandelt werden. Man sollte in einer einfachen beziehungsweise leichten Sprache formulieren. Kennzeichen der leichten Sprache sind unter anderem kurze Sätze mit einfachem Satzbau und mit nur einer Aussage pro Satz. Es werden einfache und gebräuchliche Worte verwendet.

Leichte Sprache ist nicht zu verwechseln mit Kindersprache. In der Behindertenpädagogik gibt es verschiedene Konzepte der unterstützten Kommunikation. Für Menschen, die sich nicht oder nur bedingt in Lautsprache ausdrücken können, finden zum Beispiel häufig „Talker“ Verwendung. Das sind Tablet-Rechner, auf deren Bildschirm Symbole und Bilder erscheinen. Bei Berührung „spricht“ der Rechner die entsprechend hinterlegten Worte oder Sätze. Körperkontakt, wie zum Beispiel die Hand des Zahnarztes auf die Schulter des Patienten legen, kann häufig eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen und beruhigend wirken. Manche Menschen mit Behinderung mögen allerdings keinen Körperkontakt, so dass dies auch das Gegenteil bewirken kann. Hier ist äußerst sensibles und aufmerksames Vorgehen notwendig. Auch wenn kein oder nur wenig Sprachverständnis vorhanden ist, sollte mit dem Patienten mit ruhiger Stimme gesprochen werden. Und grundsätzlich gilt, dass Lob der bessere Verstärker ist als Tadel.

Worte im Patientengespräch mit Bedacht verwenden

In Gesprächen mit Angehörigen und Betreuenden sollte auf die Wortwahl geachtet werden. Angehörige und Betreuende spüren schnell, über welches Hintergrundwissen und über welche Erfahrung der Zahnarzt verfügt und welche innere Haltung der Zahnarzt seinen Patienten mit Behinderung entgegenbringt. So sollte nicht mehr von „Insassen“ in Heimen, sondern von „Bewohnern“ gesprochen werden. Die Bezeichnung „Behinderte“ wird durch „Menschen mit Behinderung“ oder zunehmend „Menschen mit Beeinträchtigung“ ersetzt. Den Betreuenden gegenüber spricht man von „Klienten“.

Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung werden nicht geduzt, außer man kennt sich schon lange beziehungsweise der Patient wünscht von sich aus, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Der juristische Begriff „Vormund“ wird nur noch in bestimmten Fällen bei Minderjährigen verwendet. Erwachsene haben einen „rechtlichen Betreuer“. Menschen mit Down-Syndrom sind keine „Mongoloiden“. Auch Bezeichnungen wie „Spastiker“ oder „Epileptiker“ sind nicht mehr gebräuchlich, sondern „Menschen mit (infantiler) Cerebralparese“ beziehungsweise „Menschen mit Epilepsie“.

Die meisten Menschen mit geistiger Behinderung sind mobil und können sich problemlos auf den Behandlungsstuhl setzen. Viele haben allerdings Angst vor dem Absenken der Rückenlehne. Manchmal gelingt es, durch etappenweises Herablassen die Angst zu nehmen. Ob man Rollstuhlfahrer umlagert, ist abhängig von der notwendigen Behandlung und dem Gewicht des Patienten. Es gibt einige Tricks, die man sich von den Begleitpersonen zeigen lassen kann, wie wirbelsäulenschonend umgelagert werden kann. Patienten mit extremen Skoliosen (häufig bei Patienten mit Cerebralparesen) sollten besser im individuell angefertigten Pflegerollstuhl belassen werden. Möchte man auf einen zahnärztlichen Behandlungsstuhl umlagern, sollten diese Patienten durch Kissen gut gestützt werden, um Druckschmerzen zu vermeiden.

Dr. Guido ElsäßerReferent für Behindertenzahnheilkunde der Landeszahnärztekammer Baden-WürttembergSchlossberg 3571394 Kerneninfo@dr-guido-elsaesser.de

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