Zahnmedizin steckt in der Evidenzfalle
Der 257-Seiten starke Bericht des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zu Vor- und Nachteilen der Parodontaltherapie beginnt mit folgenden Worten: „Dieser Vorbericht ist eine vorläufige Nutzenbewertung. Er wird zur Anhörung gestellt und es können schriftliche Stellungnahmen eingereicht werden.“ Diese Frist endete am 21. Februar 2017. Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) war vorbereitet. Punkt 12:00 Uhr erreichte ihre 18-seitige Stellungnahme das Institut.
Die darin formulierte Kritik bezieht sich in erster Linie auf die Methodik des IQWiG, mit der die Studien zur Parodontaltherapie bewertet wurden (siehe auch Titelgeschichte zm 04/2017: „Das ist eine Gefahr für die Zahnmedizin“) – mit dem Ergebnis, das von 573 potenziell relevanten wissenschaftlichen Arbeiten nur 43 Publikationen zu 35 Studien den strengen Regeln des Institus genügten und für die Bewertung überhaupt infrage kamen. Denn – so argumentiert das IQWiG: keine Evidenz, keine Studien, kein nachweisbarer Nutzen einer Therpie.
Die KZBV erinnert in ihrer Stellungnahme deshalb an die Entwicklung der Evidenzpyramide – das „Efficiency Gap“, das die Diskrepanz zwischen der unter standardisierten Idealbedingungen erhobenen Effektivität eines Verfahrens und der unter Praxisbedingungen tatsächlich existierenden Effizienz herausstellt. Denn – so argumentiert die KZBV: Das Streben nach höchsten Evidenzniveaus ist das Eine. Kann dieses aber nicht erreicht werden, darf das nicht als fehlende Wirksamkeit eines Verfahrens fehlinterpretiert werden: „Eine wissenschaftliche Bewertung von Gesundheitstechnologien kommt ohne eine Evidenzhinterlegung aus klinischen Studien (noch) nicht aus“, schreibt die KZBV. „Wissen aus der Versorgung kann dieses bislang nicht ersetzen.“
‚bestmögliche‘ versus ‚bestverfügbare‘ Evidenz
Dann folgt das ‚Aber‘: Das Paradigma, dass nur die theoretisch „bestmögliche Evidenz“ als Basis für weitere Ableitungen herangezogen werden kann, teilt die KZBV mit dem IQWiG nicht: „Studien auf diesem Niveau sind für klinische Fragestellungen in kaum einem praktisch-operativen Fachbereich – wie der Zahnheilkunde – realisierbar. In der Konsequenz müsste allen entsprechenden Fachbereichen ein Nutzen abgesprochen werden“, sagt die KZBV in ihrer Stellungnahme. Aus diesem Grund verwende die evidenzbasierte Medizin auch den Begriff „bestverfügbare Evidenz“. „Es sei auch der forschenden zahnmedizinischen Community unterstellt, dass sie sich im Rahmen der bisherigen wissenschaftlichen Kriterien für klinische Studien und den ethischen Vorgaben um die Realisierung des bestmöglichen Studiendesigns bemüht“, sagt die KZBV.
In der Zahnmedizin werden außerdem zumeist Studien im Split-Mouth-Design durchgeführt, bei denen die Kontrolle und Intervention in einer Mundhöhle verglichen werden, führt sie in ihrer Stellungnahme aus: „Viele dieser relevanten und qualitativ hochwertigen Studien werden im Vorbericht jedoch mit dem Argument ausgeschlossen, dass die Abhängigkeit der erhobenen Daten unklar ist. Dies ist nicht nachvollziehbar, da gerade dieses Studiendesign interindividuelle Variabilitäten zum Beispiel durch unterschiedliches Putzverhalten ausschließt und somit Verzerrungen minimiert werden. Bekannte und unbekannte personengebundene Störgrößen werden quasi gleichmäßig auf ‚Interventions- und Kontrollgruppen‘ verteilt.“
Bundeszahnärztekammer bezieht ebenfalls Stellung
Nicht nur die KZBV hat ihre Kritikpunkte damit kenntlich gemacht. Auch die Bundeszahnärztekammer (BZÄK), die DG Paro, die DGZMK, einzelne KVen, Hochschulen und Praktiker haben zum Vorbericht des IQWiG ihre Stellungnahmen eingereicht. Die BZÄK äußert sich konkret zur „Fragestellung 4 – Strukturierte Nachsorge“ des Vorberichts. Ihre Kritik bezieht sich ebenfalls auf die Methodik: „Vom IQWiG wurden ausschließlich RCTs in die Nutzenbewertung eingeschlossen. Diese sollten eine Nachbeobachtungszeit von einem Jahr und mehr aufweisen, um einen mittelfristigen Stabilisierungseffekt der Parodontitisbehandlung bestimmen zu können.“ Aus Sicht der BZÄK lassen zwei methodische Aspekte ein RCT bezüglich dieser Fragestellung jedoch als ungeeignet erscheinen: Erstens sollte die Studiendauer angemessen zur Fragestellung festgelegt sein (zum Beispiel zehn Jahre und länger). Zweitens werden in RCTs, um eine hohe Ergebnissicherheit zu generieren, regelhaft Patienten möglichst ohne systemische Komorbiditäten und nicht älter als 65 Jahre eingeschlossen.
„Wir betonen ausdrücklich, dass eine prospektive randomisierte kontrollierte Studie von beliebiger Dauer zur Untersuchung und Beantwortung der Fragestellung 4 – Strukturierte Nachsorge – nicht geeignet ist“, sagt die BZÄK: „In bereits vorliegenden retrospektiven, methodisch gut angelegten, Studien wurde gezeigt, dass die Patienten mit Teilnahme an der Nachsorge weniger Zähne verlieren als Patienten, die nicht 3/4 oder nur unregelmäßig an der Nachsorge teilnehmen. In den ersten zehn Jahren nach Abschluss der aktiven Parodontitistherapie verloren Patienten durchschnittlich 2,7 Zähne, wenn sie nur unregelmäßig an der Nachsorge teilgenommen hatten. Bei regelmäßiger Teilnahme konnte diese Zahl auf 0,5 Zähne reduziert werden.“
Das Fazit der BZÄK: „Bezüglich der Untersuchung der strukturierten Nachsorge (Mundhygieneunterweisung, instrumentelle Reinigung in regelmäßigen Intervallen) hätte das IQWiG daher die bereits vorhandene Evidenz aus vorliegenden retrospektiven Kohortenstudien von adäquater Dauer berücksichtigen müssen.“
Die Stellungnahmen liegen nun beim IQWiG. Vonseiten des Instituts heißt es nun: „Die wissenschaftliche Erörterung unklarer Aspekte in den schriftlichen Stellungnahmen ist für das erste Quartal 2017 vorgesehen.“ Danach wird sich entscheiden, welche Stellungnahmen berücksichtigt werden – oder auch nicht. Der endgültige Bericht zur Nutzenbewertung der Parodontaltherapien wird dann für Ende des Jahres erwartet.