Leitartikel

Alternative Fakten

Jürgen Fedderwitz

Sie haben gerade eine Paro-Fortbildung gebucht? Stornieren Sie! Wollten Sie gar jetzt im Februar zum Chicago Midwinter Meeting und sich das Symposium über „Perio-Systemic Inflammation Reducing Strategies“ leisten? Fahren Sie lieber an die Niagara-Fälle, sofern Mr. Trump Sie ins Land lässt. Und kommen Sie bloß nicht auf den Gedanken, in neue Paro-Behandlungsgeräte zu investieren. Rausgeschmissenes Geld! Sie lesen das Journal of Clinical Periodontology – an fünfter Stelle von 83 fachspezifischen Zeitschriften mit seinem Impact Factor von 3,688? Zeitverschwendung!

Denn: Einmal Kratzen reicht. Damit richten Sie zumindest keinen Schaden an! Im Ernst: Dieser Tage hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) seinen Vorbericht über die „Systematische Behandlung von Parodontopathien“ vorgelegt. Seitdem ist die Paro-Welt in Deutschland aus den Fugen geraten. Das IQWiG hatte vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) einen Fragenkatalog zur Parodontalbehandlung erhalten und abzuarbeiten. In seinem nun vorliegenden Vorbericht hat es das Ergebnis der Nutzenbewertung eindeutig niedergeschrieben: „Zusammenfassend lässt sich für die GMT (das IQWiG-Kürzel für geschlossene mechanische Therapie) im Vergleich zu keiner parodontitisspezifischen Behandlung ein Anhaltspunkt für einen Nutzen ableiten, wohingegen für zusätzlich zur GMT angewendete Maßnahmen mit Ausnahme des ITOHEP-Verfahrens kein höherer Nutzen oder Schaden im Vergleich zur alleinigen GMT gefunden wurde.“ (Das ITOHEP-Verfahren ist ein individuell angepasstes Mundhygiene-Schulungsprogramm.)

Für uns Praktiker übersetzt heißt das: Die geschlossene mechanische Therapie, also in der GKV die Leistungen BEMA P200 und P201, sind womöglich nutzbringend. Zumindest gibt es Anhaltspunkte dafür. Mehr nicht. Alles andere ist nutzlos, aber gottlob nicht schädlich. Nur reden musst Du können! Das ist moderne PAR-Therapie gemäß IQWiG: Einmal kratzen und öfter (bei Vollmond) besprechen! Sind all die Behandlungskonzepte, die die Wissenschaft in der Parodontologie auf der Basis fachlicher Erkenntnisse weltweit entwickelt hat, nun in Deutschland Makulatur? Sie sind weltweit anerkannt und etabliert.

Im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen der Zahnmedizin und der Medizin wurde gerade in der Parodontologie Grundlagenforschung betrieben. Es wurden Erkenntnisse gesammelt und Daten erhoben, die die Wirksamkeit der Therapieverfahren im Versorgungsalltag belegen. Konnten wir bei unseren Patienten so viele Zähne erhalten, weil wir nur aus Daffke gekratzt haben? Es sind ja nicht nur wir parodontologisch interessierten Zahnärztinnen und Zahnärzte, nicht nur die Deutsche Gesellschaft für Parodontologie (DG Paro), die sich für dumm verkauft fühlen müssen. Da ist die European Federation of Periodontology (EFP), ein Verbund von 29 europäischen nationalen Fachgesellschaften, „devoted to promoting research, education and awareness of peridontal science and practice“. Deren nationale Repräsentanten, die bisher ihre Erkenntnisse und Erfahrungen regelmäßig abgeglichen haben, sollten zukünftig lieber wettangeln als über „Anhaltspunkte“ zu diskutieren. Die American Academy of Periodontology (AAP), gegründet 1914, hat nach IQWiG-Kriterien in den letzten hundert Jahren wohl nur fachlichen Bullshit erarbeitet. Fakt ist: „Dabei gibt es wenige Bereiche in der Zahnmedizin, die so gut wissenschaftlich abgesichert sind wie die parodontale Therapie“, bestätigt die DG Paro in ihrer ersten Stellungnahme.

Was also hat das IQWiG zu seinem Fazit geritten? Es ist die althergebrachte Methodik. Die Hauptaufgabe des Instituts ist die Nutzenbewertung von Arzneimitteln. Und stur überträgt es die Instrumente auf die Bewertung klinischer Studien (lesen Sie unsere Titelgeschichte ab Seite 32) – mit der oben genannten Konsequenz: Der Großteil der Parodontaltherapie ist nutzlos!

Interessant ist in diesem Zusammenhang, was das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG), das sich mehr mit wissenschaftlich aufbereiteter Qualitätssicherung beschäftigen soll, dieser Tage in seinem Entwurf eines Methodenpapiers veröffentlichte: „Ein einzelnes Institut kann trotz fachlicher und methodischer Expertise seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht über die Gesamtheit medizinischen Wissens, klinischer Erfahrung, Erfahrung aus Patientenperspektive und weiterer Spezialkenntnisse verfügen. Zudem kann dieses Wissen [...] nur teilweise durch Recherchen generiert werden.“

Zu den alternativen Fakten des IQWiG sollte der GBA mal eine Zweitmeinung einholen ...

Alle Artikel zum IQWIG-Vorbericht „Parodontitistherapie“

Immenser Ressourcenverbrauch bei fraglichem Nutzen

„Meine Meinung zum IQWiG-Vorbericht? Die Wörter, die mir spontan in den Sinn kommen, dürfen Sie gar nicht drucken, so wütend bin ich!“ Nicht nur aus den Büroräumen der Unikliniken hört man derzeit solche Ausrufe.

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Das ist eine Gefahr für die Zahnmedizin

Der Auftrag ist klar umrissen: Das IQWiG soll die systematische Behandlung der Parodontopathien überprüfen. Das Institut legt los, sucht und findet 6.004 wissenschaftliche Arbeiten. 573 davon sind potenziell relevant. Doch nur 43 Publikationen zu 35 Studien genügen seinen strengen Kriterien. Das hat Folgen. Warum? Weil mangels Evidenz der Parodontitistherapie der Nutzen abgesprochen wird.

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Fallschirme können keinen Nutzen haben ...

Die Kritik am „heiligen Evidenz-Gral“ des IQWiG ist gar nicht so neu. Bereits vor Jahren hatte das renommierte British Medical Journal auf die Konzeptgrenzen hingewiesen. Nähern wir uns dem kritisierten Sachverhalt – glossierend. Denn Sie müssen es glauben: Fallschirme können keinen Nutzen haben.

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Die Zahnmedizin steckt in der Evidenzfalle

Die ersten Reaktionen reichten von ungläubigem Entsetzen über Kopfschütteln bis zum Türenknallen. Der IQWiG-Vorbericht, der einen Großteil der Parodontaltherapie quasi über Nacht für nutzlos erklärte, hat ohne jeden Zweifel für Unmut gesorgt. Die Zahnärzteschaft will sich damit nicht geschlagen geben. Im Gegenteil.

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„Nice Change“

Bereits im vergangenen Jahr hat Prof. Dr. Dr. Martin Kunkel (Bochum) in seiner Publikation „A change in the NICE guidelines on antibiotic prophylaxis“, veröffentlicht im British Dental Journal, ausgeführt, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Empfehlungen auf formal höchstem Evidenzniveau erarbeitet werden. In „Der MKG-Chirurg“ findet sich ein aktueller Kommentar, der hier mit freundlicher Genehmigung des Verlags nachgedruckt wird.

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Dr. Jürgen Fedderwitz

Dr. Fedderwitz war von 2005 bis 2013 Vorsitzender des Vorstands der KZBV und anschließend bis Ende April 2017 stellvertretender Vorsitzender des Vorstands.

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