Von der Theorie in die Praxis

Die Kariesprophylaxe-Leitlinie und ihre Empfehlungen

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Elmar Hellwig
Für die Kariesprophylaxe gibt es seit Ende letzten Jahres eine S2k-Leitlinie mit sieben grundlegenden Empfehlungen. Die Autoren erklären, wie diese in der Praxis umzusetzen sind.

Der Hintergrund:

Die Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung veröffentlichte Ende 2016 unter Mitwirkung von 14 weiteren Fachgesellschaften die erste medizinische Leitlinie zur Kariesprävention für bleibende Zähne. Sie bietet wissenschaftlich gesicherte Handlungsempfehlungen für Zahnärzte und Patienten. Auch Erzieher, Lehrer und Eltern sollen die Empfehlungen beherzigen und weitergeben.

Die Empfehlungen der Leitlinie betreffen sowohl Maßnahmen, die vom Patienten selbst durchgeführt werden sollen, als auch Maßnahmen, die in der Praxis in Abstimmung mit dem Zahnarzt umgesetzt werden. Dem Zahnarzt und seinem Team kommen dabei eine Schlüsselrolle zu. Instruktion und Motivation sind die Grundlagen für eine korrekte Durchführung der häuslichen Prävention. Zudem erfolgt in der Praxis die Abschätzung, wann zusätzliche professionelle Hilfe erforderlich ist

Bei der Erstellung der Empfehlungen wurden die wichtigsten kariespräventiven Interventionen berücksichtigt. Nach Sichtung und Auswertung der international vorliegenden Forschungsergebnisse aus klinischen Studien kristallisierten sich sieben grundlegende Empfehlungen heraus, die sich auf die mechanische sowie chemische Biofilmbeeinflussung, die Wirksamkeit von Prophylaxe-Programmen, die Fluoridierungsmaßnahmen, den Einfluss der Ernährung, die Speichelstimulation mit Kaugummi insbesondere nach Mahlzeiten und die Versiegelung von kariesgefährdeten Fissuren beziehen, wobei diese Aufzählung nicht als Rangfolge zu verstehen ist.

Die Leitlinie richtet sich an die Allgemeinbevölkerung, gibt jedoch keine speziellen Empfehlungen für Kinder im Vorschulalter und für Gruppen mit erhöhtem Kariesrisiko, wie zum Beispiel Patienten nach Strahlentherapie oder Personen mit eingeschränkter Bewegungsfähigkeit.

Die Umsetzung:

Zur praktischen Umsetzung lassen sich die sieben Empfehlungen am besten folgendermaßen gruppieren: a) Drei sollte jeder Patient täglich selbst in Eigenregie befolgen, b) vier können nach Rücksprache mit dem Zahnarzt, vom Zahnarzt beziehungsweise seinem Team direkt in der Praxis durchgeführt werden (Tabelle 1).

Tabelle 1:

7 grundlegende Empfehlungen zur Kariesprophylaxe bei bleibenden Zähnen

Drei Empfehlungen zur täglichen Umsetzung durch den Patienten

1. Mechanische Biofilmreduzierung und Fluoridierung: zweimal täglich Zähneputzen

Mindestens zweimal tägliches Zähneputzen mit einer fluoridhaltigen Zahnpasta schützt besser vor Karies als einmal tägliches Putzen. Wie sauber die Zähne dabei werden, hängt dabei vor allem von der Zahnputzdauer ab und davon, ob alle Areale in der Mundhöhle erreicht werden.

Nach zwei Minuten Putzen sind 41 Prozent der Plaque entfernt, während eine Minute nur 27 Prozent der Plaque reduziert (auch eine Verlängerung der Putz-Zeit über drei Minuten hinaus bringt keine weitere Verbesserung) - ein gutes Argument, um Patienten von mindestens zweiminütigem Putzen zu überzeugen. Außerdem werden Speisereste entfernt, die möglicherweise kariogenen Keimen als Substrat zur Verfügung stehen würden.

Für die Entfernung des bakteriellen Biofilms eignen sich manuelle und elektrische Zahnbürsten gleichermaßen, wobei in einer systematischen Übersichtsarbeit die elektrische Zahnbürste etwas besser beurteilt wurde, allerdings mit unklarer klinischer Signifikanz.

Zahnseide und Zahnzwischenraumbürsten werden oft empfohlen, weil sie die Interdentalräume erreichen und Plaque somit effektiver entfernen als die Zahnbürste allein. Zwar gibt es keinen Beweis aus klinischen Studien, dass diese Hilfsmittel allein, wenn sie im häuslichen Alltag angewendet werden, das Risiko für Approximalkaries vermindern. Eine gute Biofilmentfernung mit Zahnbürste und Fluoridanwendung überdeckt hier aber möglicherweise den karieshemmenden Effekt der Zahnseide.

Da Fluorid so wichtig für die Gesunderhaltung der bleibenden Zähne ist, sollte nicht nur die Zahncreme Fluorid enthalten, sondern auch im Haushalt grundsätzlich fluoridhaltiges Speisesalz verwendet werden.

2. Ernährung: Möglichst wenig Zucker

Studien bestätigen überzeugend den Zusammenhang zwischen Karies und der Menge sowie der Häufigkeit des Konsums von zuckerhaltigen Mahlzeiten oder Getränken. Zur Vorbeugung der Kariesentstehung sollte Patienten deshalb empfohlen werden, Zucker und zuckerhaltige Mahlzeiten (Haupt- und Zwischenmahlzeiten) und Getränke grundsätzlich in Maßen zu konsumieren und Speisen und Getränke ohne freie Zucker zu bevorzugen.

Als freie Zucker gelten alle Zucker, die durch Hersteller oder Verbraucher Nahrungsmitteln zugesetzt werden sowie die Zucker, die natürlich in Honig, Fruchtsäften, Sirup etc. vorhanden sind. Sowohl die Gesamtmenge der täglichen Zuckeraufnahme als auch die Anzahl zuckerhaltiger Mahlzeiten einschließlich zuckerhaltiger Getränke pro Tag sollten dabei möglichst gering gehalten werden.

Trotz unzureichender Studienlage ist es biologisch plausibel, dass das Kariesrisiko sinkt, wenn Zucker in Nahrungsmitteln durch Zuckeraustauschstoffe oder Süßstoffe ersetzt wird. Zuckeraustauschstoffe (Polyole) wie zum Beispiel Xylit sowie Süßstoffe wie auch Cyclamat und Aspartam wirken nicht kariogen, weil orale Mikroorganismen sie nicht oder kaum zu Säuren verstoffwechseln können.

3. Speichelstimulation mit zuckerfreiem Kaugummi

Speichel wirkt in mehrfacher Hinsicht protektiv auf die Entstehung und Progression von Karies. Die Stimulierung des Speichelflusses nach Mahlzeiten verstärkt die Spülfunktion (Clearance), unterstützt damit die Reinigung der Mundhöhle von Nahrungsbestandteilen und fördert die Pufferung von Säuren und wirkt remineralisierend auf den Zahnschmelz.

Diese Effekte sind umso ausgeprägter, je mehr Speichel produziert wird. Ausreichend viel Speichel, etwa 0,5 bis 1 Liter pro Tag, gilt somit als ein Grundpfeiler der Mundgesundheit. Deshalb ist es biologisch plausibel, dass allein die mechanische Kauaktion durch die nachfolgende Steigerung des Speichelflusses die Inzidenz und Progression von Karies verringern kann.

Das Kauen von zuckerfreiem Kaugummi erhöht sowohl den Speichelfluss als auch den pH-Wert des Speichels und kann die Plaquebildung und Konzentrationen von Mutans-Streptokokken und Laktobazillen im Speichel senken. Systematische Übersichtsarbeiten zum Thema kommen zu dem Schluss, dass es objektiv gute bis sehr gute Nachweise gibt, dass zuckerfreie Kaugummis antikariogen wirken und deshalb Patienten zur Prophylaxe empfohlen werden können.

Zurückzuführen sei dies auf die Speichelstimulation, insbesondere nach den Mahlzeiten, sowie eventuell die fehlende Verstoffwechslung der in den Kaugummis enthaltenen Polyole durch die Bakterien zu Säuren.

Vier Empfehlungen zur Kariesprävention in der Praxis beziehungsweise in Abstimmung mit dem Zahnarzt

1. Prophylaxeprogramme

Besonders Patienten mit erhöhtem Kariesrisiko profitieren von strukturierten Prophylaxeprogrammen: Der Zahnarzt kann verschiedene Maßnahmen kombinieren und dadurch das Kariesrisiko senken. Ein solches Gesamtkonzept kann Karies in allen Altersgruppen deutlich reduzieren. Dies zeigen sorgfältig durchgeführte klinische Studien.

Prophylaxeprogramme beinhalten oft verschiedene Module aus Information, Motivation, Instruktion, professionelle Zahnreinigungen sowie diverse Fluoridapplikationen. Die meisten Programme, bei denen auch Fluoridierungsmaßnahmen durchgeführt wurden, bewirkten eine Kariesreduktion von 30 bis 70 Prozent, wobei sich nicht genau definieren lässt, auf welcher Einzelmaßnahme dieser Effekt beruht. Es ist also in jedem Fall vorteilhaft, den Patienten in der Praxis Prophylaxeprogramme anzubieten und sie - unter Verweis auf die Zahlen - zur Teilnahme zu animieren.

2. Weitere Fluoridierungsmaßnahmen: Lacke, Gele, Spüllösungen

Die Anwendung fluoridhaltiger Präparate ist ein wichtiger Bestandteil einer effektiven Kariesprophylaxe. Als Standardmaßnahme wird die mindestens zweimal tägliche Anwendung fluoridhaltiger Zahnpasten mit mindestens 1000 ppm Fluorid empfohlen. Diese sollte Kindern ab dem Durchbruch der ersten bleibenden Zähne (etwa mit sechs Jahren), Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen empfohlen werden, lautet die einheitliche Schlussfolgerung von Fachgesellschaften und systematischen Übersichtsarbeiten.

Fluoridhaltige Mundspüllösungen eignen sich besonders für Schulkinder mit erhöhtem Kariesrisiko und für Jugendliche, die kieferorthopädisch behandelt werden. Für Patienten mit erhöhter Kariesaktivität sind fluoridhaltige Lacke oder Gele empfehlenswert. Lacke sollten professionell vom Zahnarzt oder dem Praxispersonal aufgetragen werden, Gele kann der Patient selbst einbürsten. Zur Prävention der Wurzelkaries kann zusätzlich die Anwendung einer hochkonzentrierten Fluorid-Zahnpasta sinnvoll sein.

3. Chemische Biofilmbeeinflussung: 1% CHX-Lack bei durchbrechenden Zähnen

Um das Wachstum kariogener Bakterien zu hemmen, kommen verschiedene chemische Verbindungen in Spüllösungen, Gelen und Lacken zum Einsatz. Derartige Präparate verringern zwar die Anzahl kariogener Mikroorganismen im Speichel, die Datenlage zur kariesreduzierenden Wirkung ist allerdings schwach oder widersprüchlich.

Insbesondere Patienten, die Karies mit Fluoridpräparaten vorbeugen, profitieren nicht zusätzlich von chemischen Plaque-Inhibitoren, wenn keine weiteren Risikofaktoren vorliegen. Bei durchbrechenden bleibenden Zähnen oder im freiliegenden Wurzelbereich zeigen Chlorhexidin-Lacke mit mindestens 1-prozentigem CHX jedoch einen kariesreduzierenden Effekt. Daher können sie Patienten in diesen Fällen zusätzlich zur Kariesprävention empfohlen bzw. bei ihnen angewendet werden.

4. Fissurenversiegelungen: bei stark kariesgefährdeten Fissuren

Bei Kindern und Jugendlichen sind Fissuren und Grübchen durchbrechender beziehungsweise gerade durchgebrochener Molaren stark kariesgefährdet, da sie für die Zahnbürste schwer zugänglich sind. In den Jahren 2003 bis 2013 sind mehrere systematische Reviews zum Thema "Versiegelung von Grübchen und Fissuren" publiziert worden, so auch eine systematische Übersichtsarbeit der Cochrane Collaboration aus dem Jahr 2013.

Endpunkt der insgesamt 34 in diese Arbeit einbezogenen Studien war der Anstieg der Anzahl kariöser Läsionen auf den Okklusalflächen bei Prämolaren und Molaren. Dabei stellte sich heraus, dass Kinder und Jugendliche, bei denen die Kauflächen der Molaren versiegelt wurden, weniger Karies entwickelten als solche, bei denen keine Versiegler angewendet wurden.

Eine Untersuchung, die sich über neun Jahre erstreckte, konnte zeigen, dass nur 27 Prozent der versiegelten Molaren Karies entwickelten, während dies bei 77 Prozent der unversiegelten Molaren der Fall war. Eine Fissurenversiegelung ist demnach bei Kindern und Jugendlichen eine empfehlenswerte Maßnahme, um Karies der Okklusalflächen zu verhindern. Idealerweise erfolgt sie im Rahmen eines umfassenden Prophylaxeprogramms, wie oben beschrieben. Im Einzelfall können auch stark kariesgefährdete Fissuren und Grübchen von Prämolaren und Frontzähnen vom Zahnarzt versiegelt werden.

Ausblick

Karies ist multikausal bedingt, hat also nicht nur eine zugrundeliegende Ursache. Und sie betrifft nahezu alle Menschen im Laufe ihres Lebens. Bei einer Leitlinie zur Prävention dieser Erkrankung gilt es deshalb, aus dem großen Fundus an evidenzbasierten Studien die verschiedenen ursächlichen Faktoren herauszufiltern und in möglichst wenige effiziente und einfach zu befolgende Handlungsempfehlungen münden zu lassen.

Damit haben Zahnärzte und Zahnärztinnen gemeinsam mit ihrem Praxisteam eine optimale Ausgangssituation: Jeder Patientenbesuch kann genutzt werden, um die vier Empfehlungen zur Abstimmung in der Praxis individuell auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen beziehungsweise direkt umzusetzen, und dem Patienten die anderen drei zur eigenständigen Umsetzung nahezubringen - ganz im Sinne einer präventionsorientierten Zahnheilkunde.

Die grundlegenden Empfehlungen, welche sich aus der Leitlinie ergeben, können natürlich durch weitere, individuell ausgerichtete Maßnahmen ergänzt werden.

Prof. Dr. Elmar HellwigProf. Dr. Nadine SchlüterKlinik für Zahnerhaltungskunde und ParodontologieUniversitätsklinikum FreiburgHugstetter Straße 5579106 Freiburg E-mail:

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