Erlebnisbericht Hilfseinsatz auf den Kapverden

Gegenüber Zahnsteinentfernung nicht abgeneigt

Gretel Evers-Lang
Erinnern Sie sich noch an Ihren allerersten Hilfseinsatz? Wie neu und aufregend alles war. Als Sie sich noch wundern konnten und wie Sie improvisieren mussten. Dr. Gretel Evers-Lang aus dem bayerischen Karlstein hat diese Wunder-Momente bei Ihrem Hilfseinsatz auf den Kapverden protokolliert: offene Bisse durch Daumenlutschen, kreolisches Bier zum Feierabend und grußlose Patienten.

04. Mai 2019. Ich bin auf dem Weg nach Praia, der Hauptstadt der Insel Santiago, wo ich zwei Wochen lang für die Organisation Zahnärzte ohne Grenzen in der ambulanten Klinik Centro de Saude, Achada Grade Tráz arbeiten werde. Mein erstes Ziel: ankommen. Ich steige in Lissabon um, der Flieger landet um 23:00 in Praia. Wird Nelo, der Fahrer, den mir die Vermieterin meiner Unterkunft vermittelt hat, da sein?

Ich bin einer der ersten in der Einreisekontrolle, es klappt schnell und reibungslos, eine halbe Stunde noch, dann habe ich auch meinen Koffer, 23 Kilogramm zahnärztliches Verbrauchsmaterial. Meine Kleidung ist im Handgepäck.

Nelo ist da, ein junger Farbiger mit strahlenden Augen. Das Taxi ist auffallend sauber, ebenso die kurze Einfahrt in die etwa 120.000 Einwohner zählende Hauptstadt. Die Fahrt zum Platô, dem ehemaligen portugiesischen Zentrum und Schmuckstück der Hauptstadt, dauert nur wenige Minuten. 15 Euro Fahrpreis waren vereinbart, ein stolzer Preis für eine so kurze Strecke, denke ich, revidiere aber meine Meinung, als Nelo meinen schweren Koffer in den vierten Stock hinaufträgt.

Am Sonntag erkunde ich das Platô, das Ereignis des Tages scheint der Kirchgang zu sein. Die Menschen strömen in großer Zahl in jedwedes Gotteshaus. Der überwiegende Teil der Bevölkerung ist römisch-katholisch, in friedlichem Nebeneinander mit zahlreichen Freikirchen.

Am Nachmittag verabrede ich mich mit meinem zahnärztlichen Kollegen aus Wesel, Dr. Dr. Jens Joachim Paarsch, der ebenfalls seinen allerersten Einsatz haben wird. Er empfiehlt das kreolische Bier, Strela, das stets gut gekühlt und in kleinen Flaschen à 250 ml für etwa 1,20 Euro in jeder Gastwirtschaft angeboten wird. Strela wird unser Feierabend-Ritus.

Am nächsten Morgen soll es losgehen – Spannung, Neugier, als der angekündigte Fahrer nach einer Stunde immer noch nicht da ist, auch Ungeduld. Er findet meine Unterkunft nicht. Wir verabreden uns an einem prominenten Platz.

Anschließend lerne ich Elisabeth kennen, sie ist die Kontaktperson des kapverdischen Gesundheitsministeriums, selbst Zahnärztin, und wird uns in den kommenden zwei Wochen begleiten und mit Übersetzungen unterstützen. Elisabeth ist Anfang dreißig und arbeitet für gewöhnlich in einer staatlichen Zahnarztpraxis. Ihr dortiges Behandlungsspektrum ist beschränkt auf Extraktionen. Zusätzlich, so erfahren wir später, ist sie auch in einer privaten Zahnarztpraxis tätig.

Zahnmedizin – not included

Das Gesundheitssystem umfasst medizinische Versorgung im lebensnotwendigen Rahmen, die zahnmedizinische Versorgung ist nicht inbegriffen, in privaten Zahnarztpraxen jedoch gegen Bezahlung erhältlich. Nach einer kurzen Fahrt über ausgedörrtes Gelände und an halb fertigen Bauten vorbei sind wir am Klinikgelände angelangt. Unter einer Überdachung sitzen auf Holzbänken zahlreiche Menschen, ebenfalls in den Gängen der Klinik. So wird es auch an allen folgenden Tagen sein. Einige von ihnen werden zu uns wollen, andere suchen die Klinik auf, um Unterstützung in der Säuglingspflege zu erhalten, Blutdruck oder Blutzucker kontrollieren zu lassen.

Man schließt uns einen kleinen Raum im Erdgeschoss auf, im ersten Augenblick ist er etwas unübersichtlich. Mehrere große Kartons stehen da, ebenfalls fünf Metallkoffer, die sich im Nachhinein als die mobilen Behandlungseinheiten herausstellen. Auch gibt es zwei große Taschen, in denen sich die „Behandlungsstühle“ befinden. Wir sehen auch vier fahrbare Gestelle mit jeweils zwei großen Glasflaschen. Wie wir später feststellen, handelt es sich hier um die Absauganlagen.

Zunächst beginnen wir, die Behandlungseinheiten aufzubauen. Leider müssen wir bereits am ersten Tag feststellen, dass von den fünf vorhandenen Behandlungseinheitskoffern lediglich einer gebrauchsfähig ist, und dies auch nur unzureichend.

Die Behandlungskoffer aus chinesischer Produktion sind prinzipiell gut ausgestattet mit einer Multifunktionsspritze (Wasser und Luft), einem Ansatz für eine Turbine („Bohrer“), einer Absaugmöglichkeit, die jedoch nur einen 1-Liter-Vorratsbehälter vorhält und daher nicht verwendet werden soll, einer Blaulichtlampe (zur Aushärtung von im Mund eingebrachten Kunststoffen), einem Ultraschallgerät zur Zahnsteinentfernung und einem Ansatz, auf dem ein Mikromotor befestigt werden kann zum Aufstecken eines blauen Winkelstücks (zum niedrigtourigeren Bohren).

Fünf Behandlungseinheiten, eine gebrauchsfähig

Auf unsere Nachfrage, ob jemand die Einheiten in Gang bringen könne, erfahren wir, dass es für alle Inseln einen einzigen Techniker gibt, der sei nun aber gerade auf einer anderen Insel. Glücklicherweise erscheint er am nächsten Tag, um die einzige einigermaßen funktionierende Einheit in Augenschein zu nehmen. Wir haben mehrere blaue Winkelstücke, jedoch nur eine funktionierende Turbine. Die zweite vorhandene macht ein – sagen wir mal – ungesundes Geräusch bei der Betätigung. So müssen wir heute und auch in den folgenden Tagen mit nur einem Behandlungsstuhl und nur einer funktionierenden Einheit zurechtkommen.

Im Nachgang bitten wir Elisabeth, den Techniker in der Zeit unserer Abwesenheit anreisen zu lassen, damit er die übrigen vier Einheiten zum Laufen bringen kann. Von den vier Absaugeinheiten ist auch nur eine verwendbar, dies auch nicht in der von uns gewohnten Stärke.

Endlich kann es losgehen! Tag für Tag behandeln wir zwischen 15 und 25 Menschen, nach welcher Systematik sie einbestellt werden, ist uns nicht bekannt. Jeder Patient kommt herein mit einem Zettel, auf dem sein Name und sein Alter verzeichnet sind. Auf der anderen Seite des Blattes ist ein Zahnschema, das wir ausfüllen, ebenso ein Bereich, in den wir eintragen, welche Behandlungen vorgenommen wurden und ob der Patient wiederkommen soll.

Das Behandlungsspektrum umfasst Füllungen, Zahnsteinentfernung, Frontzahnaufbauten, in überwiegender Anzahl jedoch Extraktionen. Die Menschen kommen vorwiegend mit dem Wunsch nach ästhetischer Rehabilitierung, das heißt, wenn Frontzähne durch Karies schwarz verfärbt sind, äußern Sie den Wunsch nach Reinigung, meinen damit jedoch die Ausreinigung der dunkel verfärbten Kavität. Einer Zahnsteinentfernung gegenüber sind sie nicht abgeneigt. Massive Parodontitiden (Zahnfleischentzündungen) sehen wir kaum, dafür aber zahlreiche zerstörte Wechselgebisse (bei Kindern und Jugendlichen mit sowohl schon bleibenden als auch noch Milchzähnen) mit eingebrochenen Stützzonen (keine Kaukontakte mehr, weil der gegenüberliegende Zahn fehlt oder zerstört ist), auch auffallend viele frontal offene Bisse (Schneidezähne kommen zum Abbeißen nicht zusammen, häufigste Ursache: Daumenlutschen).

Jetzt weiß ich, warum ich eine Stirnlampe mitgenommen habe

Sehr kleine Kinder werden uns nicht vorgestellt, das jüngste Kind, das wir sehen, ist fünf, der älteste Patient 82 Jahre alt. Überwiegend werden wir von Frauen und Kindern aufgesucht. Häufig besteht der Wunsch nach Extraktion, auch wenn Füllungen möglich sind. Wir nutzen, sofern möglich, die Gelegenheit, bei Extraktion auch kleine Füllungen an nicht so stark geschädigten Zähnen vorzunehmen, um weiterem Verfall vorzubeugen. Sehr nützlich erweisen sich die von uns beiden mitgebrachten Stirnlampen, da die Lichtverhältnisse beschränkt sind.

Etwas irritierend für uns ist der Umstand, dass die Mehrzahl der Patienten grußlos das Behandlungszimmer verlässt. Wir erfahren, dass es nicht üblich sei, sich zu bedanken. Auch stellen wir fest, dass die Patienten häufig zwar den Wunsch nach Behandlung haben, jedoch große Angst bekommen, sobald eine Anästhesie vorbereitet wird. Für viele, die sich bei uns vorstellen, ist es der erste Zahnarztbesuch. Dies sieht man an den zahlreichen abgebrochenen Zahnstümpfen beziehungsweise Wurzelresten. In solchen Momenten ist Elisabeth ein Segen, sie redet beruhigend auf die Patienten ein und motiviert Sie, mitzumachen, und den Mund offen zu halten

Am ersten Behandlungstag arbeiten wir bis 17:30, da aus dem nahegelegenen SOS-Kinderdorf eine Gruppe zur Behandlung gekommen ist, die seit den Morgenstunden ausharrt. Wir behandeln alle anwesenden Kinder. Als wir die Klinik verlassen, sind wir die letzten. Auf unsere Nachfrage nach Sterilisationsmöglichkeiten wird uns ein großer Stahltopf gebracht, den wir in den Tagen unseres Einsatzes mit dem Klinikbusfahrer zu einem Krankenhaus fahren und dort am darauffolgenden Morgen wieder mit frisch gereinigten Instrumenten abholen.

Gleich zu Beginn der zweiten Woche begrüßt uns die Klinikleiterin und fragt nach, ob alles in Ordnung sei. Wir bedauern, unter etwas einfacheren Bedingungen arbeiten zu müssen (schlecht funktionierende Absauganlage, nur eine intakte Behandlungseinheit) und bekommen den unmissverständlichen Hinweis, andere Teams hätten „sehr gut“ mit den vorliegenden Bedingungen zurechtkommen können.

Inzwischen haben wir eine in der Mission tätige brasilianische Zahnärztin kennengelernt, die im Auftrag einer christlichen Glaubensgemeinschaft in derselben Klinik ein kleines Behandlungszimmer im ersten Stock betreibt. Auch verfügt sie über die Möglichkeit, chirurgische Instrumente einzuschweißen. Bei Ihr müssen Patienten einen kleinen Obolus für die Behandlung entrichten, kein Vergleich jedoch mit den üblichen Zahlungen in den privaten Zahnarztpraxen, die, wie wir hören, bei 30 Euro für die Untersuchung und 100 Euro für die Zahnsteinentfernung liegen. Andere Behandlungen sind noch teurer. Verifizieren können wir diese Angaben nicht, jedoch decken sich die Aussagen aller von uns Befragten.

Ein Stahltopf als Steri

Leider kann auch die Brasilianerin nur Extraktionen durchführen, weil an ihrem Behandlungsstuhl eine Steckverbindung kaputt sei. Dies wird als Schicksal akzeptiert, zumal auch der zu uns beorderte Techniker unseren Vorschlag, einmal nach dem Stuhl der Kollegin zu sehen, überhört.

Der vorletzte Behandlungstag bricht an, Zeit, die gesammelten Eindrücke zusammenzufassen und die gesamte Behandlungssituation erneut zu bewerten. Man gewöhnt sich an das Arbeiten in gebückter Haltung, auch die Temperatur ist nun kein Problem mehr.

Heute war wieder eine Gruppe aus dem nahe Praia gelegenen SOS-Kinderdorf da. Wir stellen fest, dass durchweg allen Kindern mit sehr viel Zuwendung und Verständnis begegnet wird. Kinder haben einen hohen Stellenwert in Cabo Verde. Mütter fragen nach der Behandlung nach, ob sie stillen dürfen, Kinder werden zur Behandlung immer mit ins Behandlungszimmer begleitet, die kalten Händchen werden während der Behandlung gehalten, die Kinder liebevoll zur Mitarbeit motiviert. Ist das erste Misstrauen überwunden, lassen sich die meisten sehr gut behandeln.

Wir verstehen, dass bei der wenig verfügbaren zahnmedizinischen Behandlung Extraktion oft die Therapie der Wahl ist – dies sieht man an den schon im späten Teenager-Alter stark reduzierten Gebissen. Wir kapitulieren vor dem allgegenwärtigen Angebot von billigen Süßigkeiten, feilgeboten an kleinen Ständen überall auf den Straßen, besonders gerne vor den Schulen, und bemühen uns dennoch, viele Zähne zu erhalten. Am Ende bleibt die Frage, wie vielen wir wirklich geholfen haben. Wenn sie wiederkommen und von anderen Teams betreut werden können, kann unser Weg nachhaltig und erfolgreich sein. Wir sollten nicht nachlassen, uns weiterhin zu bemühen.

Letzter Behandlungstag. Wir sind überrascht, dass nicht wenige von den weiter zu behandelnden Patienten wiedergekommen sind. So wird auch dieser Tag arbeitsreich und länger als die vorhergehenden. Schön ist, die unter schwierigen Bedingungen von uns in der vergangenen Woche durchgeführten Füllungen, größtenteils mit Überkappung (nervschonende Maßnahme bei besonders tief kariös veränderten Zähnen), nachkontrollieren zu können. Bei Nahtentfernung stellen wir fest, dass das Heilpotenzial des Gewebes enorm ist. Alle Wunden sind reizlos verheilt. Die behandelten Zähne sind überwiegend beschwerdefrei. Auch haben wir den Eindruck, dass die Patienten uns heute mit mehr Vertrauen begegnen als noch zu Beginn.

Am letzten Tag unseres Aufenthalts steht ein Schulbesuch auf dem Plan. Zunächst sortieren und reinigen wir noch einmal alle Arbeitsmaterialien und prüfen, was fehlt, damit das nächste Team ohne Verzögerung beginnen kann. Dann bringt ein Taxi uns und unsere Begleitung vom Gesundheitsministerium zu einer Grundschule.

 Im Gepäck haben wir eine große Menge Zahnbürsten zum Verschenken. Elisabeth, die Zahnärztin vom Gesundheitsministerium, erklärt uns, dass Zahnbürsten hier Luxusartikel sind, erhältlich zum Preis von 300 kapverdischen Escudos. Dies entspricht etwa knapp drei Euro. (Das Durchschnittseinkommen in Kapverde liegt bei 250 Euro/Monat, die meisten, so höre ich, verdienen nicht mehr als 110 Euro/Monat.) Die Kinder erwarten uns froh gelaunt und lauschen Elisabeths Erläuterungen zur Mundhygiene und zum Zahnbürstengebrauch mit großen Augen und Ohren. Nach etwa einer halben Stunde Putztechnikunterweisung, anschaulich am großen Modell demonstriert, und dem Verteilen von Zahnbürsten ist der Schulbesuch auch schon vorbei. Wir verabschieden uns.

Dr. Gretel Evers-Lang
praxis.lang@t-online.de

Bitte um Unterstützung

Kollege Paarsch und ich möchten die Behandlungsbedingungen vor Ort optimieren und in diesem Zusammenhang mit weiteren Organisationen zusammenarbeiten, Spenden würden helfen:

Förderverein Rotary Alzenau e. V.
IBAN: DE43 7955 0000 0240 0307 83
BIC: BYLADEM1ASA
Sparkasse Aschaffenburg-Alzenau
Verwendungszweck: DWLF Kapverden Evers-Lang

Dr. Gretel Evers-Lang

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