Dysgnathiechirurgie 2.0

Digital zur perfekten Okklusion

Der Einsatz moderner digitaler Technologien eröffnet neue Möglichkeiten in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, insbesondere im Bereich der plastischen Gesichts- und Schädelchirurgie (computer-aided surgery). Viele dieser digitalen Entwicklungen stammen aus der Zahnmedizin. Der Zahnarzt und der Kieferorthopäde sollten diese neuen Möglichkeiten kennen, da sie in der interdisziplinären Zusammenarbeit bei solchen Patienten in der Regel beteiligt sind. Drei klinische Beispiele.

Ziel des Einsatzes digitaler Techniken ist es, die Anzahl der Operationen zu verringern, die OP-Dauer zu verkürzen [Nilsson et al., 2020], eine bessere Kontrolle über das Behandlungsergebnis zu bekommen sowie das anvisierte OP-Ergebnis dem Patienten besser zu kommunizieren (visualisieren). Digitale Planungen und Umsetzungen finden heute schon sehr oft in der Kieferorthopädie, der Implantologie, der Prothetik und der Dysgnathiechirurgie Verwendung, haben aber auch immense Vorteile in der Kraniofazialchirurgie einfacher Schädelfehlbildungen und sind von besonderer Bedeutung bei den seltenen komplexen syndromalen Schädel- und Gesichtsfehlbildungen [Meyer, 2020].

Zwei besondere Aspekte unterscheiden die „einfache Dysgnathie“ von der dysgnathen Situation bei schweren syndromalen Schädelfehlbildungen. Zum einen sind die Kieferverhältnisse bei schweren Fehlbildungen in einem Ausmaß dysgnath, dass nur mittels distraktions-osteogenetischer Maßnahmen eine Regelokklusion zu erreichen ist, zum anderen sind die Weichteilverhältnisse im Gesichts- und Schädelbereich defizitär, so dass zusätzliche Weichteilaugmentationsmaßnahmen durchgeführt werden müssen.

Durch die enge Interaktion von zahnmedizinischen Aspekten (als Wichtigstes die Herstellung einer Regelokklusion) und der gleichzeitigen Generierung einer funktionellen und ästhetischen Gesichts- und Schädelform erfolgt der Workflow ähnlich anderen zahnärztlichen Vorgehensweisen [Joda et al., 2017; de Riu et al., 2018]. „Workflow“ bezeichnet dabei die konsekutive Nutzung verschiedener digitaler Werkzeuge zur zahnärztlichen und kiefer- beziehungsweise gesichtschirurgischen Diagnostik und Planung von Behandlungen sowie zur klinischen Umsetzung (Abbildung 1).

Die Durchführung solch komplexer Therapien basiert zum einen auf dem Einsatz digitaler Datengenerierung mittels Intraoralscanner, DVT und CT-Technologie sowie optischen Gesichtsscannern, zum anderen auf der digitalen (virtuellen) Planung von Operationsschritten bei immer besser werdenden Matching-Algorithmen. Die virtuellen OP-Ergebnisse verbessern die Kommunikation mit dem Patienten und dessen Einbindung in die Behandlungsstrategie durch die Möglichkeit der Visualisierung der geplanten Behandlungsergebnisse. Im Regelfall werden die OP-Osteotomie- und Positionierungshilfen, die Osteosyntheseplatten und Knochenaugmentationsmaterialien erst zur Herstellung freigegeben, wenn der Patient der ihm visualisierten Planung zustimmt. Die Herstellung von patientenspezifischen Implantaten (PSIs) und OP-Schablonen ermöglicht im Sinne der guided surgery dann die präzise Umsetzung von Kiefer-, Gesichts- und Schädelknochenverlagerungen. Zudem sind in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte im Bereich der Herstellung (Einsatz von 3-D-Druckern [Lin et al., 2018]) von gewebeverträglichen Knochenaugmentationsmaterialien gemacht worden. Anhand von drei klinischen Beispielen sollen die neuen Möglichkeiten in verschiedenen Komplexitäten dargestellt werden.

1. Klassische Dysgnathiechirurgie

Die computergestützte Dysgnathiechirurgie (CAS) besteht aus der virtuellen Planungsphase (CAD-Phase), der Umsetzung der virtuellen Planung mittels Schablonen und patientenspezifischer Implantate (PSI-Implantate, CAM-Phase) und letztlich der Bewertung des Operationserfolgs mittels Matching von präoperativer Planung und erreichtem OP-Ergebnis.

 Bei einer Patientin mit maxillärer Retrognathie, mandibulärer Prognathie und offenem Biss (Abbildung 2a links) wurde durch einen bimaxillären Eingriff eine Regelokklusion bei optimierter Gesichtsästhetik hergestellt. Methodisch wurden initial zum Erreichen dieses Ziels ein Intraoralscan der präoperativ kieferorthopädisch ausgeformten Zahnbögen sowie ein DVT des Gesichtsschädels durchgeführt. Nach dem Matching der Zahnbögen mit dem DVT-Datensatz im zweiten Schritt erfolgte die virtuelle Planung der Kieferverlagerungen (Abbildung 2b) durch den Chirurgen. Für die Positionierung der Kiefer wurden Osteotomie- und Bohrschablonen gedruckt sowie die Osteosyntheseplatten hergestellt (Abbildung 2c), ein Stereolithografiemodell dient der visuell-operativen Übersicht. Als zusätzliche intraoperative Kontrolle der Genauigkeit der OK-Verlagerung wurde ein Zwischensplint gedruckt. Die Unterkieferpositionierung erfolgte mit dem gedruckten Endsplint nach virtueller Einstellung des Unterkiefers in seine Endposition.

Die Umsetzung erfolgte intraoperativ unter Verkürzung der OP-Zeit (Abbildung 2d). Der Vergleich zwischen dem erreichten OP-Ergebnis (Abbildung 2e) und der Planung verdeutlich das Matching beider Datensätze (Abbildung 2f). Die postoperativen Bilder (Abbildung 2a rechts) zeigen die optimierte Okklusion sowie das harmonisierte Gesichtsprofil am Ende der Behandlung. Generell profitieren die Patienten neben den exakt vorhersehbaren optimierten Ergebnissen von einer deutlich reduzierten Belastung durch die Operation. Die notwendigen Knochenschnitte können exakt eingebracht werden, die Verlagerung der Kiefer ist sehr genau berechnet.

2. Kraniofazialchirurgie (Fronto-orbito-nasales Advancement)

Bei einem acht Monate alten Patienten mit extremem Plagiocephalus bei Morbus Crouzon (Abbildung 3a) war ein zweites fronto-orbito-nasales Advancement zur Korrektur der Schädelform notwendig. Die Planung und Umsetzung erfolgte hier in ähnlicher Weise. Nach Durchführung einer Computertomografie des Schädels erfolgte die virtuelle Planung der Osteotomielinien sowie des Versatzes der Schädelknochen (Abbildung 3b). Die Frontalknochen sowie die naso-orbitale Spange wurden in dem Ausmaß versetzt geplant, dass die Normposition der Knochen erreicht wurde. Auch hier wurden anschließend Positionierungsschablonen und Osteosyntheseplatten hergestellt.

Intraoperativ lassen sich die Knochen einfach in die geplante Position verlagern und dort mit den präfabrizierten Osteosyntheseplatten fixieren (Abbildung 3c). Das Matching des postoperativen Kontroll-CTs mit der virtuellen Planung zeigt auch hier die präzise Umsetzung (Abbildung 3d). Durch ein solches Verfahren kann neben der besseren Positionierungsmöglichkeit der Knochen auch im Vorfeld die Vergrößerung des Gehirnschädel- und Orbitavolumens determiniert werden.

3. Kraniofazialchirurgie bei Apert-Syndrom

Komplexe Gesichts- und Schädelfehlbildungen (insbesondere syndromale Craniosynostosen wie das Apert- und das Crouzon-Syndrom) sind selten, beeinträchtigen jedoch die Lebensqualität der betroffenen Patienten sehr. Diese Patienten besitzen dabei häufig komplexe dysgnathe Kieferverhältnisse mit schweren Okklusionsstörungen sowie ausgeprägte Veränderungen der „normalen“ Gesichtsphysiognomie. Die Folge sind schwere Funktionsstörungen des stomatognathen Systems, der Augen- und der Atmungsfunktionen. Patienten mit schweren Syndromerkrankungen erleben häufig bis zu 20 Operationen in ihrer Kindheit und Jugend. Die Reduktion der Anzahl von Operationen spielt von daher eine große Rolle.

Bei einem 17-jährigen Patienten mit Apert-Syndrom sollte eine komplexe Okklusions-, Kiefer- und Gesichtsrekonstruktion erfolgen. Ziel war es, eine Regelokklusion bei bestmöglicher Gesichtsästhetik zu erreichen. Die Behandlungsstrategie bestand in einer Oberkieferdistraktion mit gleichzeitiger Augmentation der defizitären Orbita- und Nasalbereiche zur Behandlung des Exophthalmus und der eingesunkenen Nasenwurzel sowie der Augmentation des Stirnbereichs zur Verbesserung der Gesichtsästhetik (Abbildung 4a). In einer vier Wochen später erfolgenden zweiten Operation (zum Wechsel von den Distraktoren auf Osteosyntheseplatten) sollte zudem eine Unterkieferschwenkung zur finalen Einstellung der Okklusion erfolgen.

In einer ersten virtuellen Planung erfolgte die Positionierung der beiden Kiefer in die Endposition. Aufgrund des errechneten Ausmaßes der notwendigen Oberkieferverlagerung wurde geplant, die Oberkieferverlagerung in der ersten Operation zusammen mit der Knochenaugmentation als Kieferdistraktion (eine langsame Vorverlagerung des Oberkiefers über zwei Wochen) durchzuführen. Für diesen Vorgang erfolgte die Bestimmung des Distraktionsvektors sowie die Positionierung der Distraktionsplatten. Der Datensatz des in seine Endposition distrahierten Oberkiefers wurde nun verwendet, um in einer zweiten virtuellen Planung die Knochenaugmentation zu planen. Dafür wurde ein altersentsprechender Normschädel der virtuellen Distraktionsplanung überlagert und die Knochenaugmentate wurden definiert (Abbildung 4b). Nach Freigabe der Gesamtplanung durch den Patienten erfolgte die Herstellung der OP-Schablonen und der Knochenaufbauimplantate.

Intraoperativ wurden der Oberkiefer in der Le-Fort-I-Ebene osteotomiert, die Distraktoren beidseits angebracht und dann die Knochenaufbauimplantate (ein Implantat im Stirnbereich sowie jeweils zwei im medialen und im lateralen Orbitabereich) eingebracht. Nach Applikation der Distraktoren zeigte sich am Ende der Operation entsprechend der Planung noch ein Versatz zwischen den weiter vorstehenden caudalen Bereichen der infra-orbitalen Implantate und dem cranialen Oberkiefer (Abbildung 4c). Anschließend erfolgte die 14-tägige Distraktion des Oberkiefers in seine geplante vordere Endposition. Vier Wochen nach Stabilisierung des Regeneratgewebes erfolgte dann die Entfernung des Distraktors und die Verplattung des Oberkiefers sowie die operative Schwenkung des Unterkiefers. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich dann eine genaue Passung zwischen cranialem Oberkiefer und den caudalen Anteilen der periorbitalen Knochenaugmentate (Abbildung 4c). Das postoperative Erscheinungsbild und die postoperativ erreichte Okklusion sind deutlich harmonisiert und normalisiert (Abbildung 4d). Das Matching zeigte eine gute Übereinstimmung von virtueller Planung und chirurgischer Umsetzung (Abbildung 4e).

Ausblick

Eine besondere Limitation und gleichzeitige Voraussetzung für diese Art der Chirurgie ist jedoch die Erfahrung in der klassischen Dysgnathie- und Kraniofazialchirurgie. Während am Rechner grundsätzlich alle Bewegungen möglich sind, kann die intraoperative Umsetzung deutlich schwieriger sein. Dies betrifft unter anderem die chirurgischen Zugangswege und Osteotomien, die Bewegung von Knochen, insbesondere jedoch auch den chirurgischen Wundverschluss bei großen Augmentationen [Day et al., 2018].

Darüber hinaus steht die digitale Technik noch vor weiteren Herausforderungen: Derzeit können bei der 3-D-Gesichtsanalyse Knochen-, Weichteil- und dentale Referenzpunkte – also rein statische Messungen – integriert werden. Das Verhalten der Weichgewebe unter Spannung lässt sich jedoch nur schwer vorhersagen. Finite Elemente-Berechnungen des Verhaltens der mitbewegten Weichgewebe können schon heute genauere Aussagen treffen. Weitaus komplexer sieht es bei allen dynamischen Aspekten aus, beispielsweise der Simulation der Sichtbarkeit der Frontzähne und des Zahnfleisches beim entspannten Lächeln. Zudem ist, bezogen auf die dynamische Okklusion, die Integration des virtuellen Distraktors mit Inkorporation patientenindividueller Daten (Kondylenabstand, dreidimensionale Kondylenbahnkonfiguration) ein nächstes Ziel. Es bleibt abzuwarten, was der digitale Fortschritt in den nächsten Jahren für die Zahnmedizin [Schlenz et al., 2019], die Dysgnathiechirurgie und die plastisch-rekonstruktive Gesichts- und Kraniofazialchirurgie bringt.

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Ulrich Meyer

Kieferklinik Münster
Zentrum für Implantologie, Zentrum für Kiefergelenkserkrankungen, Zentrum für Kiefer-, Gesichts- und Schädelfehlbildungen
Schorlemerstr. 26, 48143 Münster

Dr. med. Bernd Hoffmann

Leitender Oberarzt

Klinik für Neurochirurgie, Clemenshospital Münster
Zertifiziertes Zentrum für Schädelbasischirugie der Gesellschaft für Schädelbasischirurgie (GSB-Chirurgie)
Duesbergweg 124, 48153 Münster

Prof. Dr. med. Uta Schick

Chefärztin

Klinik für Neurochirurgie, Clemenshospital Münster
Zertifiziertes Zentrum für Schädelbasischirugie der Gesellschaft für Schädelbasischirurgie (GSB-Chirurgie)
Duesbergweg 124, 48153 Münster

Literaturliste

1. Computer-Assisted Surgery: Applications in Dentistry and Oral and Maxillofacial Surgery. Landaeta-Quinones CG, Hernandez N, Zarroug NK. Dent Clin North Am. 2018 Jul;62(3):403-420.

2. Applications of Computer Technology in Complex Craniofacial Reconstruction. Day KM, Gabrick KS, Sargent LA. Plast Reconstr Surg Glob Open. 2018 Mar 6;6(3)

3. Computer-assisted single-stage cranioplasty. Murphy RJ, Wolfe KC, Liacouras PC, Grant GT, Gordon CR, Armand M. Annu Int Conf IEEE Eng Med Biol Soc. 2015 Aug;2015:4910-13

4. Time matters - Differences between computer-assisted surgery and conventional planning in cranio-maxillofacial surgery: A systematic review and meta-analysis. Nilsson J, Hindocha N, Thor A. J Craniomaxillofac Surg. 2020 Feb;48(2):132-140.

5. Fundamentals of Craniofacial Malformations. Meyer U (Ed.). Springer, 2020

6. The complete digital workflow in fixed prosthodontics: a systematic review. Joda T, Zarone F, Ferrari M. BMC Oral Health. 2017 Sep 19;17(1):124.

7. Accuracy of computer-assisted orthognathic surgery. De Riu G, Virdis PI, Meloni SM, Lumbau A, Vaira LA. J Craniomaxillofac Surg. 2018 Feb;46(2):293-298.

8. 3D printing in orthognathic surgery - A literature review. Lin HH, Lonic D, Lo LJ. J Formos Med Assoc. 2018 Jul;117(7):547-558.

9. Applications of Computer Technology in Complex Craniofacial Reconstruction. Day KM, Gabrick KS, Sargent LA. Plast Reconstr Surg Glob Open. 2018 Mar 6;6(3)

10. Clinical performance of computer-engineered complete dentures: a retrospective pilot study. Schlenz MA, Schmidt A, Wöstmann B, Rehmann P. Quintessence Int. 2019;50(9):706-711.

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Ulrich Meyer

Kieferklinik Münster
Zentrum für Implantologie,
Zentrum für Kiefergelenkserkrankungen,
Zentrum für Kiefer-, Gesichts- und
Schädelfehlbildungen
Schorlemerstr. 26, 48143 Münster

Dr. med. Bernd Hoffmann

Leitender Oberarzt
Klinik für Neurochirurgie, Clemenshospital Münster
Zertifiziertes Zentrum für Schädelbasis-chirugie der Gesellschaft für Schädelbasis-chirurgie (GSB-Chirurgie)
Duesbergweg 124, 48153 Münster

Prof. Dr. med. Uta Schick

Chefärztin
Klinik für Neurochirurgie, Clemenshospital Münster
Zertifiziertes Zentrum für Schädelbasis-chirugie der Gesellschaft für Schädelbasis-chirurgie (GSB-Chirurgie)
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