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Strukturierte Untersuchung der Mundhöhle

Ein Blick, der Leben retten kann

Andrea Maria Schmidt-Westhausen
2017 erkrankten in Deutschland über 14.000 Menschen neu an einem Krebs in Mundhöhle und Rachen. Bei Frauen wurde etwa jede vierte bis fünfte Erkrankung, bei Männern nur jede siebte in einem frühen Stadium (0/I) diagnostiziert. Entsprechend niedrig sind die Fünfjahresüberlebensraten. Bei der Früherkennung der meist aggressiven Tumoren kann die Inspektion der Mundschleimhäute im Rahmen der zahnärztlichen Kontrolluntersuchung eine entscheidende Rolle spielen.

Nur durch die systematische Inspektion der Mundhöhle in Form eines Algorithmus ist gewährleistet, dass die Veränderung, die bei der vorherigen Untersuchung noch nicht vorhanden war und heute als Präkanzerose eingestuft werden muss, auch erkannt wird und es nicht zum sogenannten doctor‘s delay kommt – der Verzögerung einer notwendigen Weiterbehandlung, verursacht durch eine Zahnärztin oder einen Zahnarzt. Selbst bei jahrelanger Berufserfahrung ist es zuverlässiger, die hier dargestellte Systematik anzuwenden.

Von außen nach innen

Es empfiehlt sich aus praktischen Gründen, den Patienten „von außen“ (äußere Haut, periorale Umgebung) „nach innen“ (Mundschleimhaut) zu untersuchen. Dabei sollte eine Untersuchungsroutine entwickelt werden, deren Ablauf nicht verändert wird.

Die Überlebensraten

Trotz neuer Behandlungsmethoden wie Strahlen- und Chemotherapie ist es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen, die Fünfjahresüberlebensrate bei Mund- und Rachenkrebs deutlich anzuheben. In diesem Zeitraum stirbt nach wie vor durchschnittlich die Hälfte der erkrankten Patienten – 37 Prozent der Frauen und 53 Prozent der Männer [RKI, 2021]. Ist ein Tumor kleiner als zwei Zentimeter, überleben durchschnittlich mehr als 60 Prozent in diesen ersten fünf Jahren. Unabhängig von der Tumorgröße sinkt die Fünfjahresüberlebensrate auf unter 20 Prozent, wenn bei der Erstdiagnose lokale Metastasen gefunden werden. Die Hälfte aller Patienten, bei denen ein Karzinom der Mundhöhle diagnostiziert wird, weist bereits befallene lokoregionäre Lymphknoten sowie Fernmetastasen auf [Markopoulos, 2012].

Die Untersuchung wird bei guter Ausleuchtung mit zwei Spiegeln durchgeführt. Bei der Verwendung nur eines Spiegels zum Aufspannen der Wangenmukosa besteht die Gefahr, dass insbesondere Veränderungen im retroangulären Bereich verdeckt werden. Herausnehmbarer Zahnersatz muss vor der Untersuchung entfernt werden, denn nur so können Druckstellen, Ulzerationen oder Stomatitiden auf der normalerweise bedeckten Schleimhaut erkannt werden. Eine Gazelage oder ein Gazetupfer dient als Hilfsmittel zum Fixieren der herausgestreckten Zunge, um eine gute Übersicht auch im Bereich der Radix linguae (Zungenwurzel) zu haben. Neben der Inspektion darf die Palpation von Speicheldrüsen, Mundboden und Zungengrund nicht vergessen werden. Veränderungen sollten ebenfalls palpiert werden, selbst wenn dies im Einzelfall für den Patienten unangenehm ist.

Schritte I-IV (Abb. 1-4)

Untersuchung der Lippen

Als Erstes werden die Lippen bei geschlossenem und leicht geöffnetem Mund (Farbe, Textur, Oberfläche), die dazugehörigen Anteile des Vestibulums und die Frenula untersucht. Hierzu wird die Lippe entweder mit den Fingern oder zwei Spiegeln etwas nach außen gespannt. So kann die Umschlagfalte gut überblickt werden. Die Lippen werden palpiert, um eventuelle Schwellungen oder Verhärtungen (wie zum Beispiel bei der Cheilitis granulomatosa) diagnostizieren zu können.

Abb. 1: Lippenrotgrenze und benachbarte Haut bei geschlossenen Lippen | Charité Universitätsmedizin Berlin

 

Abb. 2: Lippenrot und benachbarte Haut bei leicht geöffnetem Mund | Charité Universitätsmedizin Berlin

 

Abb. 3: Oberlippenmukosa und Sulkus bei abgehaltener Oberlippe | Charité Universitätsmedizin Berlin

 

Abb. 4: Unterlippenmukosa und Sulkus bei abgehaltener Unterlippe | Charité Universitätsmedizin Berlin

Schritt V (Abb. 5):

Untersuchung der Wangen

Kommissuren, Wangenmukosa und Vestibulum des Ober- und des Unterkiefers werden mit zwei Spiegeln, die als Retraktoren dienen, bei weit geöffnetem Mund untersucht. Dabei sollte auf Farbe, Textur, Beweglichkeit und Pigmentierung geachtet werden. Ein häufiger Fehler bei der Untersuchung der Wangenmukosa ist, diese mit nur einem Spiegel durchzuführen, so dass dieser unweigerlich den retroangulären Bereich verdeckt und damit eine weißliche Veränderung, die eine orale, potenziell maligne Veränderung sein könnte, übersehen wird. Bei der Untersuchung der Mundwinkel ist auf Rhagaden (Synonym: Cheilitis angularis), die auf eine mykotische Infektion hindeuten können, zu achten.

Abb. 5: Kommissuren, Wangenschleimhaut und Sulkus des Ober- und des Unterkiefers bei weit geöffnetem Mund, zwei Mundspiegel dienen als Retraktoren | Charité Universitätsmedizin Berlin

Schritt VI-VIII (Abb. 6-8):

Untersuchung der Alveolarfortsätze

Weiter werden die Alveolarkämme von allen Seiten (bukkal, oral, frontal) untersucht. Nachdem bereits zu Beginn der intraoralen Untersuchung alle abnehmbaren Rekonstruktionen entfernt wurden, hat man freie Sicht auf die Mukosa und die noch vorhandenen Zähne. Im Unterkiefer kann die Zunge mit einem Spiegel etwas zur Seite geschoben werden, während ein zweiter die Wange etwas nach außen drückt. Für die Untersuchung des Oberkiefers hilft es, den Patienten zu bitten, den Kopf in den Nacken zu legen. Durch zusätzliches Abhalten der Wange wird ein guter Überblick geschaffen.

Abb. 6: Alveolarfortsatz von bukkal | Charité Universitätsmedizin Berlin

Abb. 7: Alveolarfortsatz von lingual | Charité Universitätsmedizin Berlin

 

Abb. 8: Alveolarfortsatz von frontal | Charité Universitätsmedizin Berlin

Schritt IX-XI (Abb. 9-11):

Untersuchung der Zunge

Die Zunge kann am besten beurteilt werden, wenn sie mit einem Gazetupfer etwas aus der Mundhöhle herausgezogen wird. Dabei werden Beläge, Schwellungen, Ulzerationen, Größenveränderungen und Abweichungen der Farbe und Textur registriert (die vier F: Form, Farbe, Funktion, Festigkeit). Zur Beurteilung der Zungenränder wird die Zunge zu den Mundwinkeln gezogen, so dass die gegenüberliegende Zungenseite ins Blickfeld gelangt. Es kommt vor, dass im dorso-lateralen Anteil des Zungenrückens die dort lokalisierten Papillae foliatae als Tumoren fehlinterpretiert werden. Daher sind grundlegende Kenntnisse der klinisch normalen Mundhöhlenverhältnisse für das Auffinden von Mundhöhlenerkrankungen Voraussetzung. Es folgt die Inspektion der ventralen Seite der Zunge einschließlich Zungenbändchen.

Abb. 9: Zungenrücken, durch Untersucher gehalten | Charité Universitätsmedizin Berlin

Abb. 10a: Zunge seitlich, durch den Untersucher geführt | Charité Universitätsmedizin Berlin

 

Abb. 10b: Die Papillae foliatae im dorso-lateralen Anteil des Zungenrückens werden hin und wieder als Tumoren fehlinterpretiert. | Charité Universitätsmedizin Berlin

Abb. 11: Zunge ventral | Charité Universitätsmedizin Berlin

Schritt XII (Abb. 12):

Untersuchung des Mundbodens

Um den Mundboden zu inspizieren, soll der Patient mit der Zungenspitze den Gaumen berühren. Im Anschluss kann die Zunge mit einem Gazetupfer zur Seite gezogen werden, damit auch der Sulcus glossoalveolaris beurteilbar wird. Zusätzlich empfiehlt sich eine bimanuelle Palpation des Mundbodens, um tiefer liegende Veränderungen zu erkennen. Dabei werden die Weichgewebe gleichzeitig sowohl von außen als auch von innen palpiert.