Unterwegs bei Special Smiles

Berührungsängste sind ganz schnell vergessen

Susanne Theisen
Das Gesundheitsprogramm Healthy Athletes erreichte bei den Special-Olympics-Weltspielen in Berlin Rekordzahlen. Über 4.500 Athletinnen und Athleten nutzten die Gelegenheit, sich in bis zu sieben medizinischen Disziplinen untersuchen und beraten zu lassen. Auch im zahnmedizinischen Bereich, Special Smiles, war der Andrang groß.

Klar, die benutze ich ganz oft. Zu Hause, auf der Arbeit – ich habe immer welche dabei“, antwortet der junge Basketballer aus Puerto Rico auf die Frage, ob er Zahnseide kenne. Entsprechend gut ist seine Mundgesundheit und das zahnmedizinische Screening in der schmalen Untersuchungsbox im Special-Smiles-Bereich macht er unbefangen mit. Der Tischtennisspielerin aus Hongkong, die nach ihm an der Reihe ist, fällt es schwerer, auf dem Behandlungsstuhl Platz zu nehmen. Mit gekräuselter Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen schaut sie in die Runde. Sie scheint Angst zu haben.

„Ist alles okay?“, fragt ihre Betreuerin. Die junge Frau schüttelt den Kopf und antwortet etwas auf Kantonesisch. Die Betreuerin übersetzt es für das zahnärztliche Team ins Englische: „Ihr fehlt ihre Mutter, die sie normalerweise zum Zahnarzt begleitet. Außerdem findet sie die Geräusche, die die Geräte machen, schrecklich.“ Zahnarzt Torsten Kotyra, der das Screening mit seiner ZFA Lena Augustin leitet, kann die Athletin schnell beruhigen: „Ich will heute nur in den Mund schauen. Sonst passiert nichts. Keine Geräte. Wollen wir starten?“ Die junge Frau öffnet den Mund und Kotyra kann den DMFT-Index erheben. Die Ergebnisse trägt Augustin via Tablet in ein digitales Formular ein. Im Rahmen des Screenings wird außerdem abgefragt, ob die Athletinnen und Athleten bei ihrer Familie oder in einer Wohneinrichtung leben, wie oft sie die Zähne putzen, ob sie eine elektrische oder eine Handzahnbürste benutzen und wann die letzte zahnärztliche Untersuchung stattgefunden hat. Diese statistischen Daten sollen Aufschluss über die zahnmedizinische Versorgung von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen geben und als wichtige Grundlage im gesundheitspolitischen Diskurs herangezogen werden können.

Schnell steht fest: Auch die Zähne der Hongkongerin sind in einem guten Zustand. Zum Abschluss überreicht Kotyra ihr eine Medaille und dankt ihr, dass sie teilgenommen hat. Die Sportlerin bedankt sich ebenfalls und steht auf – nun mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich bin stolz auf meine gesunden Zähne“, sagt sie noch schnell, verbeugt sich kurz und läuft dann zu ihrem wartenden Team.

Healthy Athletes in Zahlen

Diese Ergebnisse erzielte das Special-Olympics-Gesundheitsprogramm:

  • insgesamt 4.520 teilnehmende Athletinnen und Athleten

  • 15.353 Screenings in allen sieben Disziplinen

  • 2.425 Athletinnen und Athleten aus 160 Ländern bei Special Smiles

  • 322 Teilnehmende erhielten eine Empfehlung für eine dringend notwendige zahnmedizinische Weiterbehandlung im Heimatland

  • 30 Athletinnen und Athleten wurden wegen einer akuten zahnmedizinischen Notsituation (zum Beispiel Abszess, Zahnfraktur) in Berliner Praxen behandelt

  • 2.000 Volunteers aus 50 Ländern waren bei Healthy Athletes im Einsatz, davon 70 Zahnärzte und Zahnärztinnen und 204 Zahnmedizinstudierende

Crashkurs in Kommunikation

Am Eingang zu Special Smiles, das zusammen mit den sechs anderen medizinischen Disziplinen im hochmodernen CityCube auf dem Berliner Messegelände untergebracht ist, registriert sich gerade eine große Gruppe von Athletinnen aus Bangladesch. Sie müssen einen Moment warten, bevor sie zur ersten Station, dem Zahnputzbrunnen der LAG Berlin, weitergehen können. Dort sind alle Plätze mit Sportlerinnen und Sportlern belegt. Es ist eine bunte Mischung: Uruguay, Germany, Argentina, Australia, Poland ist auf den verschiedenfarbigen Trikots zu lesen. Gemeinsam putzen sie unter Anleitung von zwei ehrenamtlichen Helferinnen ihre Zähne. Danach geht es in den Kariestunnel und von dort aus an einen der insgesamt zehn Untersuchungsplätze, die sich an den grauen Betonwänden aneinanderreihen.

An jeder Box ist auf einem Blatt Papier vermerkt, welche Sprachen vom Team gesprochen werden. Zahnmedizinstudent René Piekarski aus Witten/Herdecke kann hier seine Polnischkenntnisse zum Einsatz bringen. Der 27-Jährige engagiert sich zum ersten Mal bei Special Smiles und ist für insgesamt vier Tage auf dem Berliner Messegelände im Einsatz. „Heute ist mein letzter Tag“, stellt er mit Bedauern fest. „Ich konnte einiges von dem einsetzen, was ich an der Uni gelernt habe, in Witten/Herdecke gibt es ja einen Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin.“ Trotz seiner Vorkenntnisse sei Special Smiles ein Crashkurs in Sachen Kommunikation mit Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen für ihn gewesen. „Dabei habe ich vor allen Dingen gelernt, dass es gut ist, auf mein Bauchgefühl zu hören. Aus dem Bauch heraus kommt für mich die Leichtigkeit, die einen die Berührungsängste vergessen lassen.“

Auch Dr. Taylor Velasquez hat heute seinen letzten Tag bei Special Smiles. Für den 32-jährigen Zahnarzt geht es zurück nach Mesa im US-Bundesstaat Arizona, wo er an der Arizona School of Dentistry and Oral Health lehrt. Für Velasquez sind die Weltspiele in Berlin keine Premiere. Er engagiert sich seit seinem 18. Lebensjahr für Special Olympics. „Ich habe zwei jüngere Brüder, die autistisch sind, einer von ihnen tritt bei Special-Olympics-Wettkämpfen an“, erzählt er. Für seine Entscheidung, Zahnmedizin zu studieren, sei der Autismus seiner Brüder ausschlaggebend gewesen: „Beide hassten es, zum Zahnarzt zu gehen, als sie jünger waren. Sie konnten die Geräusche der Behandlungsgeräte nicht ausstehen und mochten es nicht, angefasst zu werden und so verletzlich zu sein.“ Aus den Erfahrungen seiner Brüder hat Velasquez viel über die Behandlung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gelernt. Sein Tipp: „Man sollte zunächst herausfinden, welche Art der Kommunikation funktioniert: Viel oder wenig sprechen? Sind Termine am Morgen oder am Nachmittag besser? Es kann sein, dass man erst nach einigen Terminen zum eigentlichen Behandeln kommt. Wenn man eine Praxis führt, kann das aus betriebswirtschaftlicher Sicht frustrierend sein.“

Unzählige Gänsehautmomente

Events wie Special Olympics sind aus Sicht des US-Zahnarztes ein guter Startpunkt, um Berührungsängste mit Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen abzubauen. Darüber hinaus seien die Veranstaltungen eine unheimliche persönliche Bereicherung: „Ich konnte hier jeden Tag sehen, dass alle Volunteers Freude aus ihrem Engagement ziehen.“ Auch aufseiten der Athletinnen und Athleten sei die Stimmung gut gewesen. „Während meines Einsatzes hier habe ich niemanden erlebt, der ängstlich zum Screening gekommen ist.“ Unterschiedliche Berichte habe er hingegen darüber gehört, welche Erfahrungen die Athletinnen und Athleten in ihren Heimatländern gemacht hätten. Für viele sei eine regelmäßige zahnmedizinische Betreuung zu Hause leider nicht möglich. Dementsprechend habe er auch Menschen mit einer sehr schlechten Mundgesundheit gesehen.

Taylor Velasquez packt seine Instru­mente zusammen und dreht eine letzte Runde durch den Special-­Smiles-Bereich. Besonders herzlich fällt die Verabschiedung von Luise Winter aus. Die angestellte Zahnärztin arbeitet seit 2020 einen Tag pro Woche für Healthy Athletes in Sachsen. Bei den Weltspielen koordiniert die 26-Jährige aus Dresden als Key Volunteer alle Freiwilligen bei Special Smiles und hat dafür ihren Sommerurlaub investiert — was sie nicht bereut. „Der Kontakt mit den Athletinnen und Athleten ist einfach inspirierend. Was sie leisten, wie sie für ihre Belange einstehen und welches Selbstvertrauen sie durch Special Olympics entwickeln, beeindruckt mich immer wieder“, erzählt sie begeistert. „Es klingt vielleicht kitschig, aber ich erlebe hier Gänsehautmomente am laufenden Band.“

Die Kollegin das sagen zu hören, freut Dr. Christoph Hils, Clinical Director Special Smiles. „Mir ist es sehr wichtig, dass nicht nur die Sportlerinnen und Sportler glücklich hier rausgehen, sondern auch die Kolleginnen und die Kollegen“, erklärt er. Viele, die zum ersten Mal dabei sind, kämen zunächst mit einem mulmigen Gefühl, weil sie nicht wüssten, was sie erwartet. „Aber nach den Tagen hier ist diese Angst verschwunden.“

Mutiger Neuanfang

Nach einer ruhigen Phase während der Mittagszeit füllt sich der Healthy-Athletes-Bereich am Nachmittag wieder. An den Untersuchungsplätzen bei Special Smiles herrscht reger Andrang. Etwas abseits vom Zahnputzbrunnen unterhält sich Luise Winter mit einer Bekannten, Vanessa Giesenberg. Die 37-jährige Bremerin ist schon oft als Radfahrerin bei Special Olympics angetreten, bei den Weltspielen in Berlin ist sie jedoch als Reporterin in der inklusiven Redaktion im Einsatz. Dass sie so entspannt im Special-Smiles-Bereich steht, hätte sie vor einem Jahr nicht für möglich gehalten. Aufgrund schlechter Erfahrungen als Patientin hatte sie um den zahnmedizinischen Bereich immer einen großen Bogen gemacht – und erklärt dann warum. „Ich wurde während einer Behandlung einmal festgehalten“, erzählt sie. „Ich hatte Angst. Ich habe gezittert und geschwitzt. Ich wollte einfach nur schnell raus. Danach war ich traurig und enttäuscht, weil es nicht geklappt hat. Und auch ein bisschen sauer. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Zahnärztinnen und Zahnärzte unsere Bedürfnisse kennen und wissen, wie man mit uns umgeht und wo die Grenzen sind.“

Ihre Angst überwand Giesenberg schließlich 2022 bei den Nationalen Spielen von Special Olympics Deutschland in Berlin. „Zusammen mit meiner Betreuerin konnte Luise mich überreden in den Special-Smiles-Bereich zu kommen. Alle waren so freundlich und mir wurde alles erklärt, auch in Leichter Sprache, was bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ganz wichtig ist“, erinnert sie sich. Nach dieser positiven Erfahrung suchte sie sich mit Erfolg eine neue Zahnärztin. Ihr vertraut sie und konnte so die Sanierung ihres Gebisses angehen — denn schöne Zähne wünschte sich die Bremerin schon lange. „Ende des Jahres bin ich damit durch und dann geht das Leben neu los. Dann kann ich wieder richtig gute, feste Sachen essen. Ich habe mehr Lebensfreude, ich kann lächeln.“ Um das zu feiern, plant sie schon jetzt eine „Zahn-Party“. Als sie davon erzählt, bricht aus ihr heraus, was man nur als Freude pur beschreiben kann. Sie hüpft auf dem grauen Teppich im Special-Smiles-Bereich auf und ab, strahlt und klatscht in die Hände, während hinter ihr am Eingang die nächsten Athletinnen und Athleten begrüßt werden.

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