Studie aus Witten/Herdecke und Marburg

Wie Menschen mit geistiger Behinderung den Arztbesuch erleben

Auf welche Hürden stoßen Menschen mit geistiger Behinderung beim Arztbesuch, welche Hilfen erfahren sie? Zusammen mit der Ärztekammer Nordrhein haben Forscher aus Witten/Herdecke und Marburg sie selber, aber auch begleitende Angehörige und behandelnde Mediziner befragt.

In die Querschnittstudie wurden Erwachsene mit geistiger Behinderung aus drei Werkstätten in NRW aufgenommen. Im Fokus stand der Zugang zur ambulanten Versorgung aus Sicht der Betroffenen, ihrer Angehörigen und ihrer Hausärzte. Dazu wurden drei Fragebögen entwickelt, einer für jede Perspektive. Die Datenerhebung erfolgte von Februar bis Dezember 2016. Bei einer Teilnahmerate von 19,3 Prozent lagen von allen befragten 940 Presonen mit geistiger Behinderung am Ende 136 Fragebögen vor, dazu 176 von ihren Angehörigen. Die Probanden waren im Mittel 40 Jahre alt und zu gut 60 Prozent männlich. Über 40 Prozent wohnten bei Angehörigen, 30 Prozent im Heim und 15 Prozent im Betreuten Wohnen.

Ihre Beschwerden teilen geistig Behinderte demnach meist ihren Angehörigen mit, die sie der Befragung zufolge oft zum Arzt begleiten – meist in Worten, zu einem Prozent in Gebärdensprache. Doch auch Gesten und Blicke sind Ausdrucksmittel, ebenso Körperreaktionen oder Lautieren. Barrieren sind eher organisatorischer als räumlicher Natur. Die Behandlungssituation ist teilweise durch Ängste, Unruhe oder auch das Nichtzulassen von Untersuchungen erschwert. Dabei unterscheidet sich die Sicht der Probanden kaum von der ihrer Angehörigen.

Stark nachgefragt, aber selten vorhanden: Hilfen in Leichter Sprache

Über 30 Prozent der Angehörigen bemängeln, dass die Praxen nie oder selten Informationsmaterial in Leichter Sprache auslegen. Die Hausärzte bestätigen die geringe Rolle solcher Hilfen: Solches Material gibt es der Studie zufolge nur in 7,3 Prozent der Praxen, noch dazu werden vorhandene Vermittlungshilfen in Wort und Bild selten eingesetzt. Denn in der Behandlungssituation fühlen sich 90 Prozent der Ärzte sicher und 65 Prozent meinen, Äußerungen und Anliegen der Patienten immer zu verstehen. 95 Prozent sehen auch bei ihren Mitarbeitenden gute Kenntnisse im Umgang.

Fast 35 Prozent der Angehörigen gaben an, dass sie bei ihrem letzten Praxisbesuch noch am selben Tag einen Termin erhielten, knapp 24 Prozent binnen einer Woche und 20 Prozent in einem Monat. Für 13 Prozent ist diese Wartezeit zu lang. 40 Prozent hatten keine oder höchstens 15 Minuten Wartezeit, bei 23 Prozent waren es mehr als 30 Minuten. Im letzten Jahr mussten 18 Prozent der Angehörigen einen Arzttermin kurzfristig absagen, meist wegen einer Terminkollision, aufgrund der schlechten gesundheitlichen Verfassung des Patienten oder weil eine eine Begleitperson fehlte.

Insgesamt sind fast 80 Prozent der befragten Probanden mit ihren Ärzten zufrieden und mehr als die Hälfte verstehen, was sie ihnen sagen, weitere 35 Prozent zumindest teilweise. Gut aufgehoben fühlen sich fast drei Viertel. Nach dem Arztbesuch geht es 70 Prozent besser, genauso viele halten sich auch an die Vereinbarungen.

Die größte Angst haben die Patienten beim Frauenarzt

Aus Sicht der Angehörigen treten Schwierigkeiten im Verlauf der Behandlung beim Facharzt am häufigsten bei Frauenärzten (22 Prozent), Zahnärzten (19 Prozent) und Augenärzten (18 Prozent) auf. In der Regel wegen Verständigungsproblemen, Ängsten und Unruhe der Patienten. Am meisten Angst haben die Patienten beim Frauenarzt: Fast 12 Prozent verweigern die Untersuchungen, auch Schmerzen und fehlendes Vertrauen werden als Probleme benannt. Über alle Facharztgruppen hinweg werden 5 bis 10 Prozent der Untersuchungen aufgrund von Schwierigkeiten nicht durchgeführt.

Den Angehörigen zufolge werden Patienten am ausführlichsten beim Hausarzt (76 Prozent) und Zahnarzt (74 Prozent), seltener beim Orthopäden (58 Prozent) und Augenarzt (62 Prozent) beraten. Insgesamt beurteilen sechs von zehn die ambulante Versorgung als sehr gut oder völlig ausreichend. Für besonders gut halten sie die Terminabsprachen, die Offenheit im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung und die Beratung. Die verfügbare Zeit der Ärzte, die Qualität der Diagnostik und die Wartezeit findet nur ein Viertel besonders gut.

Ein Drittel der Angehörigen war jedoch im letzten Jahr mit der ambulanten medizinischen Versorgung unzufrieden, insbesondere mit der Praxiswartezeit und der Zeit für das Arztgespräch. Sie fühlten sich nicht ernst genommen oder sie erlebten Mitarbeiter als unhöflich und respektlos oder sie hielten die Wartezeit bis zum Termin für zu lang. Über 16 Prozent aller Angehörigen wollten sich darüber beschweren, was aber nur 7 auch taten.

Die meisten Ärzte sehen den Mehraufwand nicht adäquat vergütet

Die Vorsorgemaßnahmen der gesetzlichen Krankenkassen zur Krebsfrüherkennung sind bei acht von zehn Angehörigen bekannt. Präventive und gesundheitsförderliche Angebote kennen nur rund 60 Prozent. Schwierigkeiten, erfahrene Mediziner zu finden, geben sieben von zehn Angehörigen an. Auf der anderen Seite halten knapp 93 Prozent der Ärzte den Gesundheits-Check-up ab 35 Jahren und fast 73 Prozent auch Präventionskurse für die Patientengruppe für sinnvoll, aber nur 49 Prozent informieren sie über diese Kurse. Gut 70 Prozent beschreiben ihre Praxisräumlichkeiten als barrierefrei und 54 Prozent als technisch eingerichtet auf die besonderen Untersuchungsanforderungen, 64 Prozent bieten Hausbesuche an.

Für 58 Prozent der Hausärzte ist die Untersuchung von Menschen mit geistiger Behinderung eine große zeitliche Belastung. Fast sieben von zehn geben an, wöchentlich oder täglich berufliche Kontakte zu diesen Patienten zu haben. Mehr als ein Viertel hat sich spezifisch weitergebildet. Den Mehraufwand für die Behandlung beziffern über 50 Prozent mit bis zu einem Viertel, weitere fast 30 Prozent mit bis zur Hälfte und 18 Prozent sogar noch höher. 95 Prozent sieht das in der Vergütung nicht adäquat berücksichtigt.

Fazit: Angehörige sind wichtige Vermittler!

Die Erhebung zeigt den Autoren zufolge, wie wichtig Angehörige in ihrer Vermittlerfunktion sind. Als große Hilfe sticht der Wunsch hervor, kompetente Mediziner leichter zu finden oder sogar in Versorgungszentren zu erreichen.

Beim Praxisbesuch sind den Ergebnissen zufolge räumliche Barrieren weniger das Problem, da die Mobilität im Unterschied zu Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen selten eingeschränkt ist. Eine Herausforderung für die Patienten seien eher Ängste vor dem Arztbesuch, für Angehörige Abstimmungen der Termine mit dem Job und für beide die Wartezeit in der Praxis. Dabei sei insbesondere die mit der Wartezeit verbundene Erfahrung ein kritisches Moment. Belastend werde die teils ängstliche Anspannung der Patienten vor Untersuchungen erlebt, aber auch die Situation im Wartezimmer.

Zu beachten sei, dass ein Drittel der Angehörigen in den letzten 12 Monaten kritische Erfahrungen in Praxen gemacht hat, für 16 Prozent waren diese so störend, dass sie eine Beschwerde in Betracht zogen. Dass nur ein kleiner Teil sich dann auch tatsächlich beschwert hat, zeigt den Autoren zufolge, wie schwer es fällt, solche Erfahrungen anzusprechen. „Eine für Kritik offene Haltung in Praxen oder gar ein aktives Erfragen, was Patienten kritisch auffällt, könnte hilfreich sein, dies zu verbessern", bilanzieren die Autoren.

Bei der medizinischen Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung ist es den Autoren zufolge sehr wichtig, sowohl deren Bedürfnisse und Anforderungen als auch ihre Angehörigen aktiv einzubeziehen. Das gelte schon für die Terminvereinbarung und die Praxiswartezeiten. Auch die medizinischen Besonderheiten und eine gute Beziehung der Ärzte zu den Patienten und Angehörigen während der Untersuchung seien von großer Bedeutung, weshalb Fortbildungen gefördert werden sollten. Als praktische Hilfen sollten Listen mit Praxen erfahrener Behandelnder verfügbar sein. Zudem wäre eine wohnortnahe interdisziplinäre und interprofessionelle Versorgungsmöglichkeit und für spezielle Bedarfe auch der Ausbau erreichbarer Versorgungszentren (MZEB) wünschenswert.

Wellkamp R, de Cruppé W, Schwalen S, Geraedts M. Menschen mit geistiger Behinderung (MmgB) in der ambulanten medizinischen Versorgung: Barrieren beim Zugang und im Untersuchungsablauf [People with intellectual disabilities (ID) in outpatient medical care: barriers to access and treatment process]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2023 Feb;66(2):184-198. German. doi: 10.1007/s00103-023-03655-x. Epub 2023 Jan 16. PMID: 36645472; PMCID: PMC9892072.

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