Interview mit Prof. Dr. Clarissa Kurscheid zum Reformstau im Gesundheitswesen

„Der Systemwandel hat nicht stattgefunden“

Susanne Theisen
Obwohl das deutsche Gesundheitssystem das zweitteuerste in Europa ist, hat sich die Lebenserwartung hierzulande im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern unterdurchschnittlich entwickelt. Zwischen dem Geld, das ins System fließt, und der Ergebnisqualität klafft eine große Lücke, sagt Gesundheitsökonomin Prof. Dr. Clarissa Kurscheid – und erklärt, was sich aus ihrer Sicht verändern muss.

Frau Prof. Dr. Kurscheid, wie bewerten Sie die aktuellen Reformbemühungen im Gesundheitswesen?

Prof. Dr. Clarissa Kurscheid: Ich drücke es mal so aus: Grundsätzlich dauert es circa ein Jahr vom Referentenentwurf eines Gesetzes bis zu seiner Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt. Angesichts der Tatsache, dass die aktuelle Legislaturperiode schon halb verstrichen ist, muss man sagen, dass bisher wenig passiert ist. De facto hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach – neben ein paar kleineren Gesetzen und Verordnungen – nur das Lieferengpassbekämpfungsgesetz, das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz, das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz und das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz in seiner Bilanz stehen. Der Systemwandel, der im Koalitionsvertrag vielversprechend angekündigt wurde, hat nicht stattgefunden. Ganz viele Themen sind nicht umgesetzt. Es hätte mehr passieren müssen.

Welche Gründe sehen Sie dafür?

Der Minister hat sich in der ersten Phase der Legislaturperiode sehr auf das Thema Corona-Pandemie kapriziert und die notwendigen strukturellen Veränderungen im Gesundheitswesen nicht parallel dazu vorangetrieben. Diese Zeit fehlt uns jetzt.

Was wäre aus Ihrer Sicht ein besseres Vorgehen gewesen?

Für eine gute Arbeitsgrundlage wäre es wichtig gewesen, Vertrauen unter den Akteurinnen und Akteuren im Gesundheitswesen zu schaffen und alle an einen Tisch zu bringen. Karl Lauterbach hat es vor allen Dingen versäumt, die Bundesländer mit ins Boot zu holen. Das gilt auch für den GKV-Spitzenverband und die ärztliche und die zahnärztliche Selbstverwaltung.

Wie meinen Sie das?

Seit Corona steht der ambulante Bereich stark unter Druck. Das wird von den Berufsverbänden immer wieder hervorgehoben. Ich würde aber die geschilderte Problemlage – mangelnde Vergütung oder Wartezeiten aufgrund mangelnder Ressourcen – infrage stellen. Wir haben genug Geld im System. Wesentlich ist aus meiner Sicht vielmehr, dass es keine optimale Zusammenarbeit zwischen dem BMG, dem GKV-Spitzenverband und den Verbänden gibt. Zum Teil kann ich die konfrontative Haltung der Ärzte und Zahnärzte gegenüber dem Bundesgesundheitsminister verstehen. Wenn ich in einer Stresssituation zunächst mehr Vergütung bekomme (unter Spahn) und diese dann doch wieder weggenommen wird (unter Lauterbach), kommt es natürlich zu Frust.

Sie sagten, dass Sie den daraus resultierenden Frust nur zum Teil verstehen. 

Ja. Auf der anderen Seite steht für mich die Tatsache, dass es höchste Zeit für einen produktiven Dialog ist. Vor diesem Hintergrund finde ich es positiv, dass Herr Lauterbach nun im Rahmen des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes die Ärzteschaft einbinden will. Bei allen anderen Referentenentwürfen, die das Bundesgesundheitsministerium in dieser Legislaturperiode vorgelegt hat, war das bisher nicht der Fall. Das ist unglücklich.

Gerade die Parodontitis-Therapie ist für die Gesamtgesundheit eines jeden Einzelnen elementar, folglich hätte ich es sehr sinnvoll gefunden, diese weiter als Kassenleistung im Leistungskatalog zu belassen.

Gesundheitsökonomin und Versorgungsforscherin Prof. Dr. Clarissa Kurscheid

Unglücklich beziehungsweise unverständlich sind aus Sicht der Zahnärzteschaft vor allem die gestrichenen Leistungen bei der Parodontitis-Therapie im Rahmen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Wie bewerten Sie diese Entscheidung des Bundesgesundheitsministeriums? Macht es Sinn, solche präventiven Leistungen zu kürzen?

An der Stelle kann ich die Zahnärzteschaft gut verstehen. Es ist ein langer und anstrengender Weg die GKV-Versicherten zu mehr Prävention hin zu bewegen. Gerade die Parodontitis-Therapie ist für die Gesamtgesundheit eines jeden Einzelnen elementar, da Parodontitis der Türöffner für unterschiedliche chronische Krankheiten sein kann, folglich hätte ich es sehr sinnvoll gefunden, diese Leistung weiter als Kassenleistung im Leistungskatalog zu belassen.

Die Digitalisierung ist eins der großen Reformfelder, das Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach immer wieder anführt. Wie steht Deutschland in diesem Punkt da?

Ich erinnere daran, dass die elektronische Patientenakte im Jahr 2004 zum ersten Mal in einem Gesetz erwähnt worden ist. Seitdem ist viel Geld und Energie in dieses Thema geflossen, aber wir profitieren noch nicht davon. International haben wir viele Vorbilder, die zeigen, wie vorteilhaft man die ePA nutzen kann. Nur kriegen wir es hier in Deutschland anscheinend nicht hin, dieses Potenzial zu heben. Stattdessen ziehen wir uns immer wieder auf potenzielle Datenschutzprobleme zurück – sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor.

Was sollte geschehen?

Was es braucht – im Management der Praxen und in dem der Krankenhäuser gleichermaßen – ist ein Shift in den Köpfen hin zum digitalen Arbeiten. Der ist bisher in Deutschland nicht erfolgt. Aus meiner Sicht gelingt es nicht, den Mitarbeitenden im Gesundheitswesen die Vorteile der Digitalisierung praxisnah vor Augen zu führen und sie bei diesem Lernprozess zu begleiten. Ich habe viele Projekte zur Versorgungsforschung mit dem Fokus Digitalisierung durchgeführt und dabei zum Beispiel mit MFA zusammengearbeitet. Dabei haben wir zusammen den Ist-Prozess der Praxisabläufe angeschaut und dann gezeigt, welche Veränderungen beziehungsweise Verbesserungen mithilfe digitaler Anwendungen möglich sind. Ich denke, dass man die Digitalisierung des Gesundheitswesens nur auf diese Weise weiterbringt. Auf Sanktionen zu setzen, hat noch nie etwas gebracht.

Der Shift in den Köpfen hin zum digitalen Arbeiten ist bisher in Deutschland nicht erfolgt.

Gesundheitsökonomin und Versorgungsforscherin Prof. Dr. Clarissa Kurscheid

An welchen anderen Stellschrauben muss aus Ihrer Sicht im deutschen Gesundheitssystem dringend gedreht werden?

Ein ganz wichtiger Punkt ist, weg von der Arztzentriertheit und hin zur Patientenzentriertheit zu kommen. Dazu gehört unter anderem, dass Ärztinnen und Ärzte einen Teil ihrer Aufgaben an qualifizierte Gesundheitsfachkräfte übertragen und sich stattdessen auf die Erstdiagnostik und komplexere Fälle konzentrieren. Dadurch, dass Versorgungsaufgaben im deutschen Gesundheitswesen kaum delegiert werden, lastet viel Druck und eine enorme Arbeitslast auf den Ärztinnen und Ärzten. Hier könnte man unter anderem durch eine weitere Akademisierung der Gesundheitsberufe und eine Stärkung der Berufe Physician Assistent oder Dentalhygiene zu einer besseren Aufteilung der Kompetenzen kommen. Davon würden alle profitieren, vor allem die Patientinnen und Patienten. Diese Veränderung ließe sich relativ unkompliziert in den Musterberufsordnungen verankern.

Wo sehen Sie noch Potenzial für Verbesserungen?

Zielführend für eine Qualitätsverbesserung im deutschen Gesundheitssystem wären digitale Informations- und Beratungsangebote, die die Patientinnen und Patienten viel besser begleiten und durch das Gesundheitswesen steuern. Dafür wäre auch eine Verbesserung in puncto Überweisungen wichtig. Fakt ist, dass wir nicht adäquat und qualitätsgesichert überweisen, das heißt ohne zeit- und kostenintensive Umwege über mehrere Fachärzte.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Nehmen wir an, bei einem Patienten besteht der Verdacht auf Rheuma oder eine andere Erkrankung. Ein effizientes Vorgehen wäre, wenn diese Vermutung zunächst anhand der Blutwerte oder spezieller Anamnesewerte bestätigt wird und erst im Anschluss an die erfolgte Anamnese eine Überweisung an den entsprechenden Facharzt erfolgt. Stattdessen wird in Deutschland zu häufig mit Verweis auf „fachfremde Leistung“ an einen Spezialisten überwiesen, der sich im Nachhinein vielleicht als falsche Anlaufstelle herausstellt. Hinzu kommt, dass die erhobenen Blutwerte und alle anderen medizinischen Informationen nicht in einer ePA zusammenlaufen und damit transparent für alle Fachkräfte werden. Wenn es gelänge, an diesen kleinen Stellschrauben zu drehen, könnten wir schon sehr viel Zeit und Geld sparen.

Wer sollte diese zentrale Lotsenfunktion Ihrer Meinung nach übernehmen?

Ob man diesen Weg über eine Hausarzt-zentrierte Versorgung oder medizinische Community Centers mit gut ausgebildeten medizinischen Fachkräften wie Community Health Nurses beschreitet, ist aus meiner Sicht eigentlich egal. Hauptsache, wir kommen schneller zu qualitätsgesicherten Ergebnissen.

Das Gespräch führte Susanne Theisen.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.