„Man sollte nicht mehr von der ‚Prophylaxe-Fee‘ reden“
Frau Meier-Voigt, Sie sind nach so langer Zeit immer noch motiviert im Job. Was treibt Sie an?
Ilona Meier-Voigt: Ich liebe das Miteinander. Wenn Kolleginnen gut miteinander arbeiten, kann ein toller Flow entstehen. Zusammen etwas zu schaffen, an einem Strang zu ziehen und sich gegenseitig zu helfen – das mag ich. Über die ganzen Jahre habe ich so viele tolle Menschen kennengelernt, das hat mein Leben sehr bereichert.
Der wichtigste Punkt meiner Arbeit ist aber immer die Wirksamkeit. Was nützt alles Reden, wenn man nicht ins Handeln kommt? Was theoretisch möglich scheint, kann in der Praxis ein Flop sein. Deshalb sollte man regelmäßig nüchtern und pragmatisch analysieren und dann überlegen, wie man zur Umsetzung kommt. Beobachten, neu bewerten, verbessern oder verändern – mich begeistern Strukturen und wie ich sie zum Leben erwecken oder optimieren kann. Stillstand ist keine Option!
Sie sind seit 1985 im zahnärztlichen Umfeld tätig. Welche zentralen Veränderungen haben Sie über die vier Dekaden beobachtet?
Insgesamt sind die Behandlungen durch die technische Entwicklung von Equipment, Materialien und Hilfsmitteln viel schonender geworden. Die Arbeit mit diesen Dingen ist außerdem deutlich einfacher und sauberer als noch vor 40 Jahren. Dank des QM haben wir heute einen guten Überblick über Prozesse und Arbeitsabläufe. Dadurch hat sich die Qualität der Behandlungen verbessert.
Die Digitalisierung hat Karteikarten ersetzt und die digitale Bildgebung ist ein weiterer toller Fortschritt. Außerdem können Befunde, Berichte und Bilder schnell verschickt werden. Der E-Mail-Verkehr in alle Richtungen ist nicht mehr wegzudenken. Die Dokumentation ist heute sehr viel umfangreicher, aber auch genauer und daher lückenloser als früher. Das hat allerdings zur Folge, dass die kognitiven Anforderungen extrem gestiegen sind.
Auch die Führung hat sich verändert: Das männlich geprägte Bild des erfolgreichen, meist konservativen und autoritären Zahnarztes aus den 1980ern, der mit viel Arbeit auch viel Umsatz gemacht hat, ist verschwunden. In der Zwischenzeit ist ja auch viel passiert – Gesundheitsreform, Budgetierung, Fachkräftemangel. Das hat Veränderungen mit sich gebracht. Und die Mitarbeiter sind heute sehr viel selbstbewusster und haben wahrscheinlich eine gesündere Einstellung zum Thema Beschäftigung. Junge Menschen sollten von den Älteren lernen – das heißt, ich bin ein Vorbild und gehe voran.
Grundsätzlich hat jede Zeit ihre eigenen Herausforderungen. Die Gesellschaft ist komplexer geworden, was sich natürlich auch in der Zahnarztpraxis widerspiegelt. Eine der großen Herausforderungen ist heute sicherlich der Umgang mit der gestiegenen Anspruchshaltung und den Forderungen der Patienten. Meine Ausbildungszeit 1985 auf dem Land war da noch eine komplett andere Welt.
Welche dieser Entwicklungen sind für Sie postitv?
In Bezug auf das Berufsbild haben sich die Entwicklungsmöglichkeiten enorm verbessert. Es gibt zahlreiche tolle Weiter- und Aufstiegsfortbildungen. Auch die Verdienstmöglichkeiten sind zum Teil besser. Das ist allerdings nur der Fall, wenn man sich weiterentwickelt und nicht stehen bleibt.
Die Arbeit in der Praxis ist viel sauberer geworden. Mitte der Achtzigerjahre haben wir noch ohne Mundschutz, Handschuhe und Schutzbrille gearbeitet. Außerdem haben wir damals ahnungslos mit Quecksilber hantiert. Wenn ich da etwa an die wöchentliche Reinigung der Absauganlage und die manuelle Reinigung und Sterilisierung der Instrumente denke ... Heute läuft das alles automatisch.
Die Materialien sind inzwischen so hochwertig. Kunststofffüllungen werden nicht mehr dunkel oder gelb und das erweiterte Farbspektrum lässt keine Wünsche mehr offen. Themen wie Prophylaxe und Implantation haben sich erst später entwickelt. Es gibt viel zu entdecken, das gesamte Feld ist viel spannender geworden.
Was hat sich Ihrer Meinung nach nicht gut entwickelt?
Ich denke, dass durch die enorm gewachsene Komplexität eine kognitive Überforderung auf allen Seiten stattfindet. Das zu erkennen, ist wichtig. Das Wort „Kommunikation“ wird inflationär benutzt, jedoch nicht als das, was es ist: ein Instrument. Eine negative Entwicklung der letzten Jahre ist auf jeden Fall die Ablenkung durch das private Smartphone und die damit verbundene Überlastung durch Nebenschauplätze. Ich werbe immer wieder dafür, das Handy im Spind zu lassen und „nur“ zu arbeiten, weil das wirklich viel stressfreier ist, aber die Macht der Gewohnheit ist stark.
Wie wichtig sind dabei der Führungsstil und die Team-Mentalität?
Ich erinnere mich an Aussagen von Arbeitgebern wie „Da mische ich mich nicht ein“, „Frauen unter sich, da halte ich mich raus“ oder „Sie sind erwachsen, klären Sie das unter sich“. Diese schädlichen Muster werden zwar immer häufiger erkannt, aber nicht behandelt. Wenn Sie nachhaltige Lösungen für Ihre Anliegen und Probleme suchen, dann geht das nur, wenn die Ursachen erkannt werden. Wenn Sie einen Splitter in der Hand haben, kleben Sie ja auch kein Pflaster darüber, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Sie entfernen die Ursache, den Splitter.
Außerdem brauchen alle Mitarbeiter ein organisiertes und strukturiertes Umfeld, in dem sie sich bewegen können. Das gibt Sicherheit und wirft kaum Fragen auf. Eine gute Team-Mentalität finden Sie dort, wo sich die Mitarbeiter gesehen und gut aufgehoben fühlen. Gleichbehandlung spielt eine große Rolle. Mit zweierlei Maß zu messen, ist nicht gut für die Stimmung.
Die grundlegende Frage für Praxisbetreiber lautet: Nehme ich den Führungsauftrag an? Als langjährige Mitarbeiterin habe ich gesehen, dass es anspruchsvoll sein kann, eine Praxis zu führen, wenn Führung nicht Teil der Ausbildung ist. Zahnärztinnen werden an der Uni auf die Arbeit am Patienten vorbereitet, aber nicht darauf, eine Praxis mit mehreren Mitarbeiterinnen zu leiten. Ich denke auch, dass die Bedeutung von Führung unterschätzt und nicht in der angemessenen Größenordnung erkannt wird. Ich habe erlebt, dass Führung regelrecht verweigert wird.
Dabei spielen die Faktoren Zeit, Bequemlichkeit, fehlende Konfliktfähigkeit oder Angst eine Rolle. Der Wunsch, dass sich alles von allein findet, weil man es schließlich mit erwachsenen Menschen zu tun hat, ist groß. Und die Angst, dass Mitarbeiter die Praxis verlassen, weil man natürliche Autorität zeigt, ebenfalls.
Selbstverwirklichung kann aber nur aktiv gelebt werden, wenn dafür Raum geboten wird.
Das stimmt. An erster Stelle steht für mich der Wunsch, mich weiterzuentwickeln. Ich habe viele Jahre als Assistentin gearbeitet, weil es mir wirklich Spaß gemacht hat. Erst mit Anfang dreißig bin ich in den Weiterbildungsprozess eingetreten. Viele Kolleginnen waren zehn Jahre früher dran. Da ist jeder anders, und ein guter Arbeitgeber hat immer im Hinterkopf, dass er individuelle Charaktere beschäftigt. Die Möglichkeiten haben enorm zugenommen, da ist für jeden etwas dabei. Aber jeder hat sein eigenes Tempo. Eine ehemalige Kollegin hat kürzlich ihr Zahnmedizinstudium beendet und arbeitet jetzt in einer Praxis in Berlin. Ich finde das klasse.
Der wichtigste Punkt meiner Arbeit ist die Wirksamkeit. Was nützt alles Reden, wenn man nicht ins Handeln kommt? Stillstand ist keine Option!
Ilona Meier-Voigt
Es fehlen Fachkräfte und vor allem auch der Nachwuchs im ZFA-Bereich. Wie kann es gelingen, mehr junge Menschen für den Beruf zu motivieren – und auch zu halten? Kann mehr Gehalt Ihrer Meinung nach die Motivation steigern?
Allem voran darf die Wortwahl bei der Personalsuche überdacht werden: „Zahnfee“, „Perle“, „Sonnenschein“, „Prophylaxe-Fee“ – dieses Wording hat ausgedient, das spricht mich nicht an. Großzügigkeit ist ein attraktives Merkmal bei Arbeitgebern. Selbstverständlich erhalten die Mitarbeiter die PZR kostenlos. Dass inzwischen auch gute Gehälter gezahlt werden, darf natürlich ebenfalls erwähnt werden, allerdings ist das häufig an Aufstiegsfortbildungen gebunden. Was die wöchentliche Beschäftigungszeit betrifft, so halte ich eine 40-Stunden-Woche für überholt. Freiberufler haben doch tolle Möglichkeiten, ein annehmbares Umfeld zu gestalten. Ziel muss doch sein, dass sich die Mitarbeiter gerne am Arbeitsplatz aufhalten.
Was ist Ihr Fazit?
Auch ich halte die Personalfrage für die größte aktuelle Herausforderung. Sicher findet sich immer „irgendjemand“, aber entspricht diese Person den Vorstellungen? Ich habe oft beobachtet, dass bei der Besetzung der freien Stellen Kompromisse gemacht wurden. Es ist sehr leicht geworden, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Aus vielen Gesprächen mit Kolleginnen weiß ich aber auch, dass nicht gerne gewechselt wird. Denn der Mensch liebt, was er kennt. Die Frage ist nur: Wie bleibt man zusammen?
In meinem Blog beschäftige ich mich intensiv mit solchen komplexen Fragen rund um die Zahnarztpraxis, denn sie sind nicht so einfach zu beantworten. Und das ist auch etwas, das ich aus vollem Herzen sagen kann: Früher war nicht alles besser, aber klarer und einfacher. Es gab mehr einen roten Faden, weniger Ablenkung und mehr Großzügigkeit vonseiten der Chefs. Es gab mehr Professionalität und weniger Emotionen. Es ist komplexer, aber nicht komplizierter geworden.
Das Gespräch führte Laura Langer.