„Das politische Interesse für den Öffentlichen Gesundheitsdienst flaut gewaltig ab“
Dr. Schäfer, warum wurde der BZÖG 1955 gegründet?
Dr. Michael Schäfer: Man muss wissen, dass es damals bereits einen Verband gab, der die Zahnärztinnen und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) vertrat: der Verband der beamteten und angestellten Zahnärzte, gegründet 1951. Er befasste sich jedoch nur mit den beruflichen Interessen seiner Mitglieder. Wenige Jahre später wollte man aber die wissenschaftliche Tätigkeit in den Vordergrund stellen. Aus diesem Grund kam es zur Neugründung als BZÖG, dem 1967 dann auch der Eintrag als Wissenschaftliche Gesellschaft zur Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens gelang.
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Dr. Ilka Gottstein ist seit 2022 Vorsitzende des BZÖG.
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Davor leitete 14 Jahre lang Dr. Michael Schäfer den Verband.
Auf welchen Themen liegt der wissenschaftliche Fokus?
Schäfer: Kurz gesagt, auf der Verbreitung des Gedankens der sozialen Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, die es auf Bevölkerungsebene, insbesondere unter gesundheitsfördernden und präventiven Gesichtspunkten, zu unterstützen und fortlaufend weiterzuentwickeln gilt.
Wie entwickelte sich die Arbeit seit der Gründung?
Schäfer: In den vergangenen 70 Jahren ist natürlich wahnsinnig viel passiert. Eines der ersten wichtigen Projekte des BZÖG war die Erprobung des Einsatzes von Fluoriden als kollektive Kariesprophylaxe in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 1959 bis 1963. Ab 1961 brachte sich der Verband außerdem in die Gestaltung des Bundesjugendzahnpflegegesetzes ein. 1973 war der BZÖG an der Neukonzeption des Deutschen Ausschusses für Jugendzahnpflege beteiligt – heute als Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege bekannt. Dort ist der BZÖG seit Jahrzehnten im Vorstand vertreten. Ein weiterer Meilenstein war 1975 die Fachgebietsanerkennung „Öffentlicher Gesundheitsdienst für Zahnärzte“.
Dr. Ilka Gottstein: Als weiteres wichtiges Ereignis ist die Mitwirkung am Gruppenprophylaxe-Paragrafen 21 im SGB V in den 1990er-Jahren zu nennen. Zwischen 2002 und 2004 beschäftigte sich der Verband intensiv mit den Themen Präventionsstrategien und Qualitätsmanagement im ÖGD. 2011 haben wir ein Konzept zur Behinderten- und Seniorenbetreuung vorgelegt und 2017 ein umfangreiches Paper zur Prävention der frühkindlichen Karies. Der jüngste Meilenstein ist sicherlich die Gründung der AG Kinderschutz im Jahr 2023. Hier ist ein interdisziplinäres, viel beachtetes Grundsatzpapier zum Thema „Dentale Vernachlässigung“ entstanden. Weiterhin sind wir als wissenschaftliche Fachgesellschaft seit vielen Jahren zunehmend in die Erstellung und Überarbeitung von medizinischen und zahnmedizinischen AWMF-Leitlinien eingebunden – derzeit arbeiten wir an sechs Leitlinien mit und jährlich wird von uns seit Jahrzehnten ein wissenschaftlicher Kongress angeboten.
Zum 70-jährigen Bestehen hat der BZÖG eine Fachtagung zur Mundgesundheit bei Menschen mit Unterstützungsbedarf initiiert. Warum dieses Thema?
Gottstein: Um zu zeigen, dass unser Fokus nicht nur auf Kindern und Jugendlichen, sondern auch auf anderen Bevölkerungsgruppen liegt, denen im Bereich Zahngesundheit besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte. Menschen mit Unterstützungsbedarf gibt es über den Kinder- und Jugendbereich hinaus, zum Beispiel in Gemeinschaftseinrichtungen wie Werkstätten der Eingliederungshilfe, Wohn- oder Pflegeheimen für Ältere und Menschen mit Behinderung. Diese Gruppen verbinden Defizite in der Mundgesundheitskompetenz und in der Inanspruchnahme von Präventionsangeboten, wie auch die aktuelle DMS • 6 zeigt. Als BZÖG sehen wir uns in der Pflicht, zur Mundgesundheit dieser Menschen beizutragen.
Was unternehmen Sie bereits in diese Richtung?
Gottstein: Im vom Bundesgesundheitsministerium initiierten „Aktionsbündnis für ein barrierefreies Gesundheitswesen“ konnte der BZÖG sich im letzten Jahr einbringen. Bei der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales getragenen Bundesinitiative Barrierefreiheit haben wir unser Know-how über die Mundgesundheit und den Präventionsbedarf speziell von Menschen, die kognitiv eingeschränkt sind, gerade aktuell in einer Expertenanhörung eingebracht. Ein weiteres Positionspapier zu diesem wichtigen Thema ist in Abstimmung.
Welche anderen Projekte gibt es derzeit?
Schäfer: Neben dem Kinderschutz und der Verbesserung der Zahngesundheit von Menschen mit pflegerischem Unterstützungsbedarf arbeiten wir auch an der ersten S3-Leitlinie zu bevölkerungsorientierten Strategien des öffentlichen Zahngesundheitsdienstes zur zahnmedizinischen Prävention, Gesundheitsförderung und Stärkung der Mundgesundheitskompetenz. Diese ist ganz bedeutend, um die Individualprophylaxe durch unsere Erfahrungswerte zu ergänzen. Es braucht beide Expertisen, um die Mundgesundheit in Deutschland zu stärken.
Sie haben gesagt, dass die Ansprache junger Menschen komplexer wird. Inwiefern?
Schäfer: Jugendliche und Kinder haben heutzutage ein stärkeres Bedürfnis nach Autonomie. Sie möchten beteiligt und nicht belehrt werden. Außerdem werden sie durch digitale Medien stark geprägt, was die Aufmerksamkeitsspanne verändert. Multimediale Kommunikation über Memes, Emojis oder Videos ersetzt zunehmend klassische Gesprächsformen. Darauf müssen wir uns im ÖGD einstellen. Gleichzeitig müssen wir großen sozialen Unterschieden und vielfältigen kulturellen Prägungen Rechnung tragen. Auch sie beeinflussen, wie Kinder angesprochen werden sollten. Hier spielt sensible Sprache, die niemanden ausschließt oder stigmatisiert, eine entscheidende Rolle.
Gottstein: Diesen neuen Kommunikationserfordernissen versuchen wir gerecht zu werden, indem wir unseren Mitgliedern praxisorientierte Schulungen und Fortbildungen anbieten. Dies haben wir auch beim Fachtag thematisiert.
Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen?
Gottstein: In den vergangenen Jahren stand der ÖGD – vor allem wegen der Pandemie – sehr im Rampenlicht. Stichwort „Pakt für den ÖGD“. Inzwischen merken wir, dass die politische Aufmerksamkeit gewaltig abflaut. So wurde zum Beispiel im Zuge der Neustrukturierung des BMG die erst neu etablierte Abteilung für Öffentliches Gesundheitswesen wieder aufgelöst und die Ansprechpartner auf verschiedene Referate verteilt. Wir versuchen dazu, ins Gespräch mit dem BMG zu kommen, aber es ist schwierig. Unsere Befürchtung ist: Sollte der Pakt für den ÖGD auslaufen, könnte wieder ein Stellenabbau einsetzen.
Mit welcher Strategie geht der BZÖG in die Zukunft?
Gottstein: Wichtig wird sein, immer wieder zu betonen, dass die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe ein Präventionsprogramm ist, das seit Jahrzehnten Erfolge erzielt, aber deshalb noch lange kein Selbstläufer ist. Die im ÖGD bestehenden Strukturen der Prävention und Gesundheitsförderung müssen gestärkt und ausgebaut werden. Unser Ziel ist es, kontinuierlich präsenter zu werden und uns weiter mit anderen Organisationen und Akteuren im Gesundheitswesen zu vernetzen.
Das Gespräch führte Susanne Theisen.




